Ted schiebt den Kinderwagen vor sich her.
Er glaubt nicht, dass er jemals zuvor so früh am Morgen im Park
gewesen ist. Kurz nach fünf ist er aufgewacht, weil eine Hand
seinen Arm rüttelte. Im ersten Augenblick begriff er nicht, was los
war, warum sich da in dem dunklen Zimmer eine Frau schwankend über
ihn beugte, warum sie weinte, was sie von ihm wollte. Dann war ihm
alles wieder eingefallen. Es war Elina, die ihm ihren Sohn hinhielt
und ihn anflehte. Bitte, kannst du ihn nehmen?
Obwohl Ted nicht genau verstand, was sie sagte -
aus ihrem Mund kam ein gebrochenes Durcheinander aus Englisch und
Finnisch, möglicherweise noch mit ein paar Brocken Deutsch
vermischt, bei dem es irgendwie ums Schlafen, ums Weinen ging -,
aber was sie meinte, was sie von ihm wollte, war eindeutig. Er nahm
ihr das Kind ab, sie sackte aufs Bett und war in Sekundenschnelle
eingeschlafen, den Kopf halb neben dem Kissen.
Und jetzt schiebt Ted seinen Sohn den Parliament
Hill hinauf, langsam, ganz langsam, weil sie es nicht eilig haben,
weil sie nirgendwohin wollen, sein Sohn und er. Die Sonne ist
aufgegangen und lässt den Tau im Gras wie Glasscherben glitzern,
und Ted wünscht sich, der Kleine wäre schon alt genug, dass er ihm
das Funkeln zeigen könnte, und er f reut sich darauf, dass
irgendwann der Tag kommen wird, an
dem sie sich während eines Spaziergangs über die optische Wirkung
der frühen Morgensonne auf die Tautropfen unterhalten können und
darüber, dass zu dieser unchristlichen Stunde bereits erstaunlich
viele Menschen joggen und ihre Hunde Gassi führen und dass man
schon jetzt merkt, was für ein heißer Tag es werden wird. Ihm wird
warm ums Herz bei dem Gedanken, dass es früher oder später so
kommen muss, dass dieses Kind dann noch da sein wird, bei ihnen,
dass es ihnen gehört. Zugleich erscheint es ihm unmöglich. Fast
rechnet Ted noch immer damit, dass gleich jemand die Hand auf den
Griff des Kinderwagens legen und ihm sagen wird, tut mir leid, aber
Sie haben doch nicht wirklich geglaubt, dass Sie ihn behalten
dürfen?
Ein Mann - älter als Ted, vielleicht Mitte vierzig,
braungebrannt, die Haut so dunkel wie geöltes Teakholz - wirft ihm
im Vorbeijoggen ein kurzes, wehmütiges Lächeln zu. Und als der Mann
ihn schon ein gutes Stück abgehängt hat, wird Ted klar, dass er
ebenfalls ein Vater sein muss, dass er zu seiner Zeit vermutlich
dasselbe getan hat, was Ted heute tut: die Frühschicht übernehmen,
damit die Frau nach einer langen Nacht ausschlafen kann, den Wagen
mit dem schlafenden Kind im Park im Kreis herumschieben. Ted spielt
kurz mit dem Gedanken, hinter ihm herzulaufen und ihn anzusprechen,
ihn zu f ragen, wird es einfacher, wird es besser?
Doch er sieht nur auf seinen Sohn hinunter, der in
einen gestreiften Strampelanzug verpackt ist. Streifen in Rot und
Orange und grüne Druckknöpfe auf dem Bauch und an den Beinchen.
Elina sagt, sie verstehe nicht, warum die Leute ihre Babys immer
nur weiß und pastellfarben anziehen. Sie hasst Pastellfarben, das
weiß Ted: Sie nennt sie die verwässerten Vettern der echten Farben
und behauptet, dass sie davon
Zahnschmerzen bekommt. Ted erinnert sich daran, wie sie den
Strampler gekauft haben. Elina war noch nicht lange schwanger, und
sie hatten den Schock beide noch nicht ganz verdaut, als sie eines
Tages an einem Geschäft vorbeikamen, in dem an künstlichen Ästen
klitzekleine Babysachen aufgehängt waren. Es war irgendwo in
Ostlondon gewesen, sie wollten zu einer Ausstellung in der
Whitechapel Gallery. Seite an Seite standen sie minutenlang
staunend und sprachlos vor dem Schaufenster. Ein grünes Teil mit
orangefarbenen Punkten, ein pinkfarbenes mit blauem Zickzackmuster,
ein violettes, ein türkisfarbenes. Ted konnte sich nicht
entscheiden, ob er sie verblüffend klein oder unfassbar groß finden
sollte. Dann sagte Elina: »Okay.« Sie biss sich auf die Unterlippe.
Verschränkte die Arme. Ted sah ihr an, dass sie sich innerlich
wappnete, dass sie sich zu einer Entscheidung durchrang; und da
wurde ihm klar, dass sie das Kind bekommen würden, dass es das
Licht der Welt erblicken würde, und er erkannte, dass er bis zu
diesem Augenblick nicht gewusst hatte, wie Elina sich entscheiden
würde, ob sie es haben, ob sie es austragen wollte. »Okay«, sagte
sie noch einmal, ging die zwei Schritte bis zur Ladentür und
drückte sie auf. Auf Teds Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
Sie würden Eltern sein, und ihr Kind würde immer satte Farben
tragen. Durch das Schaufenster sah er zu, wie Elina zwei
Strampelanzüge aussuchte, die Unterlippe noch immer zwischen den
Zähnen, die Arme noch immer verschränkt, wie eine Frau, die sich
innerlich auf einen Sprung vom Zehnmeterturm vorbereitet, und er
sah, dass sie bei ihm bleiben und nicht, wie er manchmal fürchtete,
nach New York oder Hongkong oder sonstwohin entschwinden würde. Er
erinnert sich daran, dass er sich vorkam, als ob er einen
Röntgenblick hätte, als ob er durch sie hindurchsehen
und den Keim des winzigen Menschleins in ihr erkennen
könnte.
Und während er daran denkt und auf seinen Sohn
hinuntersieht, lächelt er. Die Augen des Kleinen scheinen seinen
Blick zu suchen und zu erwidern, dann wandern sie weiter und
bleiben an einem Punkt hinter Teds Kopf hängen. Ted hat keine
Vorstellung, keinen Begriff davon, wie es sein mag, die Welt zum
allerersten Mal zu sehen. Noch nie eine Mauer, eine Wäscheleine,
einen Baum gesehen zu haben. Fast tut ihm sein Sohn leid. Was für
eine gewaltige Aufgabe vor ihm liegt: buchstäblich alles erst
lernen zu müssen.
Ted erklimmt die Kuppe des Parliament Hill. Zehn
nach sechs. Er atmet tief ein. Das kleine Bündel im Kinderwagen ist
wieder eingeschlafen, die Ärmchen weit von sich gestreckt. Innen im
Wagen sind abstrakte Schwarzweißzeichnungen angehefet, geometrische
Formen, wahrscheinlich von Elina. Sie hat kürzlich erwähnt, dass
Babys in diesem Alter nur Schwarz und Weiß sehen. Während Ted ein
paar Schritte zurückgeht, um sich auf eine Bank zu setzen, fragt er
sich, woher die Wissenschaft das eigentlich wissen will.
Er geht rückwärts. Drei oder vier Schritte. Auf
eine Bank zu, von der er weiß, dass sie da ist. Hinterher erinnert
er sich genau daran. Denn obwohl er mit Sicherheit weiß, wer er ist
und was er tut - der Vater eines neugeborenen Kindes, der einen
Spaziergang macht -, kommt es ihm für einen Moment so vor, als sei
er das Kind, das neben dem gelben Vorhang am Fenster seines
Kinderzimmers steht und seine Mutter belauscht, die - er kann es
kaum glauben - mit jemandem streitet, der an der Tür geklingelt
hat. Ted steht an seinem Kinderzimmerfenster, krallt sich in den
Vorhang, sieht hinunter auf die Straße, auf einen Mann, der
rückwärtsgeht,
drei oder vier Schritte, hinunter vom Bürgersteig auf die
Fahrbahn, und der Mann schaut am Haus hoch, nacheinander an den
Fenstern empor, die Hand zum Schutz gegen die Sonne über die Augen
gelegt, und als er Ted entdeckt, winkt er. Sein Winken hat etwas
Verzweifeltes, Dringliches. Als ob der Mann eine wichtige Nachricht
für ihn hat, als ob er ihn zu sich herunterwinken will.
Ted lässt sich schwer auf die Bank sacken. Die
Erinnerung ist verschwunden. Das Bild von dem Mann, der vor seinem
Elternhaus rückwärts die Straße entlanggeht, ist nicht mehr da. Ted
starrt auf den silbernen Kinderwagengriff, der spitz die
Sonnenstrahlen zurückwirft, starrt ins Gras, auf dessen langen
Halmen noch immer der Tau glitzert, starrt auf den Teich am Fuß des
Hügels, und dabei merkt er plötzlich, dass in der Mitte seines
Gesichtsfeldes ein Loch klafft. Alles an den Rändern ist scharf,
aber das, was er anschaut, ist ein blinder Fleck. Als ob sich in
die Mitte einer Linse ein Loch gebrannt hätte, als ob er durch eine
zersplitterte Windschutzscheibe blickt. Er kennt diese Sehstörung,
er hat als Kind darunter gelitten. Obwohl sie schon seit Jahren
nicht mehr aufgetreten ist, kommt sie ihm vor wie eine alte
Bekannte, und er muss sich beherrschen, um nicht laut loszulachen.
Das flammende, flackernde Feuer, das vor seinen Augen hochschlägt,
das Kribbeln, das ihm den linken Arm hinunterläuft - er kann sich
nicht erinnern, wann er das zum letzten Mal erlebt hat. Als er
zwölf war vielleicht oder dreizehn? Obwohl er weiß, dass es wieder
vergehen wird, dass es nichts zu bedeuten hat, dass es nur ein
neurologischer Aussetzer, eine vorübergehende Blockade der
Signalwege ist, klammert er sich mit aller Kraft an den
Kinderwagengriff, als ob er sich erden müsste. Er ist kurz davor,
seine Mutter anzurufen und ihr zu sagen: Weißt du was, ich
hab wieder meine Malaisen. Früher haben seine »Malaisen« ihn und
seine Mutter zusammengeschweißt. Sie hat ihn mit Adleraugen
beobachtet, und wenn er nur einmal kurz die Augen schloss, war sie
sofort zur Stelle und fragte: »Was ist? Was hast du? Ist es
wiedergekommen?« Sie schleppte Ted zu Ärzten, Optikern,
Spezialisten. Mit detektivischem Eifer spürte sie einen Facharzt
nach dem anderen auf. Er wurde untersucht, an einen anderen Arzt
weiterverwiesen, durchleuchtet, und nach jedem dieser Termine - die
für Ted einen Vormittag schulfrei bedeuteten - ging er mit seiner
Mutter Tee trinken. Statt also im Mathe-, Chemie- oder
Geschichtsunterricht zu hocken, saß er bei Claridge’s oder im Savoy
und aß Sandwiches oder Cremeschnittchen, während seine Mutter ihnen
einschenkte. Die Ärzte konnten nichts feststellen, sagten sie ihr.
Es ließe sich leider nichts machen. Wahrscheinlich werde es sich
auswachsen. Und sie schrieb ihm weiter Entschuldigungen für den
Sportunterricht, für Rugby und Schwimmen. Einmal hatte er seinem
Vater erklärt, es sei ein Gefühl, als ob er Engel sehen könne, als
ob die Sonne über aufgewühltes Wasser streiche. Sein Vater war
unbehaglich in seinem Sessel herumgerutscht und hatte ihn gefragt,
ob er nicht ein bisschen Cricket mit ihm üben wolle. Mit
versponnenem Gerede konnte er nichts anfangen.
Genau wie Ted es kennt, zerfällt das spiegelnde
Feuer in der Mitte seines Gesichtsfelds nach und nach in kleine
Stücke, die zum Rand dessen wandern, was er sehen kann, und
schließlich verschwinden. Und dann ist Ted wieder der, der er
vorher war, ein Mann, der auf einer Bank sitzt und sich an einem
Kinderwagen festhält. Unter der Decke wird es unruhig; eine kleine
Hand schießt hervor, die gekrümmten Fingerchen streifen Elinas
Zeichnungen. Ted nimmt es als
Aufbruchssignal, steht auf und schiebt das Kind den Berg wieder
hinunter.

Elina ist im Garten. Es ist Tag. Die Sonne steht
hoch am Himmel, die Blumentöpfe, der zusammengerollte Schlauch, der
alte Blecheimer sind in ihre eigenen, tintenschwarzen Schatten
getaucht. Sie liegt, auf einen Ellenbogen gestützt, auf einer
Decke, und neben ihr im Gras müht sich ihr Schatten darum, seine
Form zu behalten. Es ist ein aussichtsloser Kampf gegen die
unzähligen Halme. Die Ränder des Schattens sind zersplittert,
zerfasert, wie Treibholz im Meer.
Als Elina den Blick von ihrem Schattenriss
abwendet, bemerkt sie die Rassel, die sie in der rechten Hand hält:
eine komplizierte Konstruktion aus bunten Stangen, Glöckchen und
durchsichtigen, mit kleinen Perlen gefüllten Kugeln. Unter der
Rassel liegt das Kind. Auf dem Rücken, die Augen fest auf sie
geheftet. Unter seinem fragenden Blick kommt sie sich wie bei einem
Verhör vor.
Sie schwenkt die Rassel, und die bunten Perlen
kullern durcheinander. Die Wirkung ist erstaunlich. Der Kleine
spricht sofort darauf an. Er spannt Arme und Beine an, seine Augen
springen weit auf, seine Lippen öffnen sich zu einem kreisrunden O.
Es ist, als ob er ein Handbuch des Menschwerdens studiert hätte,
unter besonderer Beachtung des Kapitels »Wie man Überraschung zum
Ausdruck bringt«. Sie schüttelt die Rassel noch einmal, und seine
Gliedmaßen bewegen sich wie Kolben rauf und runter. Sie denkt: Ich
mache das wie eine richtige Mutter.
Aus dem Haus dringt ein Klappern, und sie blickt
hoch. Es ist Ted, der, eingerahmt vom Küchenfenster, einen Topf
vom Herd nimmt. Er ist diese Woche daheim, erinnert sie sich, er
hat sich f reigenommen.
Sie wendet sich wieder dem Kind zu. Sie streicht
ihm über das Schläfenhaar, das unerklärlicherweise immer heller
wird, sie streichelt seinen Wangenbogen, sie legt ihm die Hand auf
die Brust und fühlt, wie sich seine Lunge mit Luft füllt und wieder
leert, füllt und wieder leert.
Sie setzt sich auf. Ein Eichhörnchen mit grau
geflecktem Schwanz springt blitzschnell von einem Blumentopf an die
Wand ihres Studios, hakt sich mit den Krallen ins Holz, klettert
aufs Dach und huscht davon. Es hat den Topf so stark erschüttert,
dass die zusammengerollten weißen Blütenblätter der Calla
erzittern.
Offenbar hat sie sich zu schnell aufgesetzt, denn
ihr ist so, als ob die Farben des Gartens, ihrer aufgestickten
Schmetterlinge und des Strampelanzugs sekundenlang kräftiger
aufleuchten. Und dann tritt Ted aus dem Haus in die helle Sonne,
eine schimmernde Gestalt, die sich in zwei Hälften zu gabeln
scheint, so dass es einen Augenblick lang aussieht, als wäre da
noch ein anderer Mensch, der direkt hinter ihm schwebt. Er kommt
über den Rasen auf sie zu, gefolgt von dem Schemen.
»So«, sagt er. »Und schön alles aufessen. Pasta
al limone, mit f rischen …« Er sieht ihr ins Gesicht. »Was hast
du?«
»Nichts.« Elina ringt sich ein Lächeln ab. Er soll
sich nicht aufregen. »Ich glaube, ich brauche meine
Sonnenbrille.«
Nach dem sonnendurchfluteten Garten ist es im Haus
so dunkel und schattig, dass sie es fast nicht wiedererkennt. Sie
blickt um sich, als ob sie es zum ersten Mal sieht. Die Vase, die
orangefarbene Schüssel, der Juteteppich mit den unzähligen winzigen
Schlingen. Auf Zehenspitzen geht sie an diesen
Sachen vorbei, die ihr so f remd sind, obwohl sie ihr gehören, sie
geht durch die Küche, geht die Treppe hinauf. Oben denkt sie: Ich
bin allein im Haus. Sie bleibt kurz stehen, die eine Hand auf dem
Geländer. Sie fühlt sich leicht, schwerelos, die Luft zirkuliert um
ihre leeren Arme.
Sie hat versucht, mit Ted zu reden. Sie dachte, es
würde vielleicht helfen. Er ist diese und nächste Woche zu Hause.
Sie sind zusammen, den ganzen Tag, die ganze Nacht, sie und er und
das Kind. Sie sitzt die meiste Zeit auf dem Sofa und stillt. Ted
kocht. Ted wäscht. Und wenn Ted das Kind im Wagen spazieren fährt,
kann sie schlafen. Sie muss jede Gelegenheit nutzen - auf dem Sofa,
im Sessel und, wenn sie Glück hat, sogar im Bett. Doch wenn sie
tatsächlich ein bisschen Schlaf ergattert, plagen sie hektische,
überdrehte Träume, in denen es meistens darum geht, dass sie das
Kind verliert oder das Kind nicht erreichen kann, und manchmal sind
es auch abstrakte Bilder von Fontänen. Roten Fontänen. Es sind
Träume, aus denen sie mit rasendem Herzen erwacht.
Ted ist also zu Hause, bei ihr, die Dreharbeiten
sind vorbei, und sie hat versucht, mit ihm zu reden. Gestern Abend
hat sie es versucht, als sie zusammen am Tisch saßen, vor den
Alutöpfchen vom Inder. Er hatte das Kind im Arm, die Hand nach
hinten gebogen, damit es seinen Daumen festhalten konnte, und das
gefiel ihr, dass er dachte, das Kind wolle seinen Daumen halten,
dass er ihm den Daumen hinhielt. Und da war sie ihm so nah, dass
sie die Gabel weglegte, seinen Arm berührte und ihn f ragte: »Ted,
weißt du, wie viel ich verloren habe?«
»Wie viel? Wovon?«, fragte er zurück, ohne von
seinem Teller aufzusehen.
»Du weißt schon.« Sie zögerte kurz. »Blut.«
Er riss den Kopf hoch, und sie wartete. Aber er
schwieg.
»Bei der Geburt«, half sie ihm auf die Sprünge.
»Bei dem Kaiserschnitt. Haben es dir die Ärzte gesagt? Weil
…«
»Zwei Liter«, sagte er knapp.
Es entstand eine Pause. Elina stellte sich die zwei
Liter vor, wie in Milchflaschen aneinandergereiht: vier Flaschen,
klares, grünliches Glas, mit einer rubinrot leuchtenden Flüssigkeit
gefüllt. Im Kühlschrank, vor der Haustür, im Kühlregal des
Supermarkts. Zwei Liter. Vier Flaschen. Sie stocherte in ihrem
Essen, aß einen Bissen, sah verstohlen zu Ted hinüber. Er saß mit
gesenktem Kopf da, den Blick entweder auf seinen Teller oder auf
das Kind geheftet; es war nicht zu erkennen, weil ihm die Haare ins
Gesicht hingen.
»Ich konnte dich nämlich nicht sehen«, hakte sie
nach. »Du warst bestimmt bei dem Kind.«
Er gab einen zustimmenden Laut von sich.
Sie nahm ein Alutöpfchen in die Hand, sah, dass es
voll gehackter Zwiebeln war, und stellte es wieder hin.
»Hast du viel davon mitbekommen?«, f ragte sie,
denn sie wollte es wissen, wollte es von ihm hören, wollte seine
Erinnerungen ans Licht holen, sie sich mit ihm zusammen ansehen, um
vielleicht das, was sich wie eine Eiswand zwischen sie geschoben
hatte, zu schmelzen. Als er nicht antwortete, fragte sie: »Ted? Was
hast du?« Er legte seine Gabel weg und sagte: »Ich möchte lieber
nicht darüber reden.«
»Aber ich.«
»Ich nicht.«
»Aber es ist wichtig, Ted. Wir können nicht einfach
zur Tagesordnung übergehen. Ich möchte es verstehen - ist das denn
so schlimm? Ich möchte wissen, warum es passiert ist und …«
Er schob seinen Stuhl zurück und stand vom Tisch
auf.
Das kleine Bündel Kind in den Armen, drehte er sich um. Sein
gequältes Gesicht war nicht wiederzuerkennen, und Elina durchschoss
eine heiße Angst - um ihn, um das Kind. Sie wollte sagen: Okay,
lass es gut sein, dann reden wir eben nicht darüber. Aber setz dich
doch bitte wieder hin. Und vor allem wollte sie sagen: Ted, gib mir
das Kind.
»Sie wissen nicht, warum es passiert ist«, brach es
fast schreiend aus ihm heraus. »Ich … Ich … Ich hab sie am nächsten
Tag gefragt, und sie haben gesagt, sie wüssten es nicht. Es wäre
halt einfach irgendwie schiefgelaufen.«
»Ist ja gut«, sagte sie besänftigend. »Es spielt
keine …«
»Und ich habe gesagt, was denken Sie sich
eigentlich, wie können Sie es wagen? Sie wäre um ein Haar
gestorben, verdammt noch mal, und das ist alles, was Ihnen dazu
einfällt? Dass es irgendwie schiefgelaufen ist? Sie sehen zu, wie
sie sich drei Tage quält, bevor Sie merken, dass das Kind falsch
liegt, und dann lassen Sie zu, wie ihr eine Anfängerin den Bauch
aufschlitzt und …«
Er brach ab, den Tränen nah. Aber er weinte nicht.
Er kam wieder an den Tisch, übergab ihr das Kind und verschwand,
ohne sie noch einmal anzusehen. Polternd stapfte er die Treppe
hinauf, und eine Zeitlang blieb alles still. Elina saß wie
versteinert auf ihrem Stuhl. Dann wurden über ihr Schränke
aufgerissen und Türen zugeschmissen, und sie wusste, dass er joggen
gehen wollte. Er kam die Treppe wieder herunter, knallte die
Haustür hinter sich zu und entfernte sich rasch mit trabenden
Schritten.
Sie findet ihre Sonnenbrille auf der Ablage im
Badezimmer und will sie herunternehmen, doch ihr Körper hat etwas
anderes mit ihr vor. Er dreht sie um und zieht sie zur Tür, trägt
sie die Treppe hinunter. Es dauert einen Augenblick, bis sie
begreift, was mit ihr passiert. Das Kind schreit. Sein
dünnes Stimmchen schlängelt sich durch das Badezimmerfenster
herein. Es überrascht sie, dass ihr Körper das Geräusch gehört und
erkannt hat, noch bevor es zu ihr selbst durchgedrungen war.
Draußen im Garten sitzt Ted auf der Decke. Er hat
den Kleinen aufgenommen und hält ihn vorsichtig, mit beiden Händen.
Das Kind ist ein zorniger kleiner Automat, dessen Ärmchen und
Beinchen wie Hebel durch die Luft fahren, seine Schreie, die in
regelmäßigen Abständen kommen, schwellen an zum schrillen
Kreischen.
Elina läuft über das Gras, bückt sich und hebt den
Kleinen hoch, alles in einer einzigen fließenden Bewegung. Er hat
sich steif gemacht, und in seine Schreie mischt sich Empörung:
Wie konntest du? Wie konntest du mich einfach hierlassen?
Sie legt ihn sich an die Schulter, trägt ihn zur Gartenmauer und
wieder zurück. Beruhigend spricht sie auf ihn ein: »Pst, pst, ist
ja alles gut, pst, pst.«
»Entschuldige.« Ted ist aufgestanden. »Ich wusste
nicht, was ich … Ich wusste nicht, ob er Hunger hat oder nicht oder
ob …«
»Ist schon okay.« Während sie auf und ab geht,
beobachtet er sie mit besorgter Miene.
»Soll ich ihn nehmen?«, fragt er.
Das Geschrei geht in ein angestrengtes Keuchen
über. Elina dreht das Kind so, dass es den Himmel sehen kann.
»Nein«, sagt sie. »Schon gut.«
»Hat er Hunger?«
»Ich glaube nicht. Er hat erst was bekommen, vor
einer halben Stunde oder so.«
Als sie wieder auf der Decke sitzen, sieht Elina
den Teller mit den Nudeln. Daran hat sie überhaupt nicht mehr
gedacht. Sie setzt die Sonnenbrille auf, nimmt das Kind so,
dass es über ihre Schulter sehen kann, und fängt mit der freien
Hand zu essen an. Der Kleine klammert sich an den Kragen ihrer
Bluse, drückt ihr schniefend den nassen kleinen Mund an den Hals.
Sein Atem braust ihr heiß ins Ohr.
»Echt toll, wie du das kannst«, sagt Ted.
»Was?«
»Das.« Er deutet mit der Gabel auf das Kind.
»Was meinst du?«
»Er weint - er brüllt aus Leibeskräften -, und dann
kommst du, hebst ihn hoch, und er hört auf. Das ist wie Magie. Wie
Zauberei. Das klappt nur bei dir. Bei mir nicht.«
»Nein?«
»Nein. Ich krieg’ ihn nicht so leicht ruhig, es ist
…«
»Ach was. Ich bin überzeugt, das kannst du
auch.«
»Nein, nein.« Ted schüttelt den Kopf. »Du hast ein
ganz besonderes Händchen dafür. Es ist so, als ob er einen inneren
Timer hätte, der genau misst, wie lange er dich nicht mehr gesehen
hat, und wenn die Zeit rum ist, geht er ohne Vorwarnung los. Dann
kann ihn nichts mehr trösten, nur du.« Er zuckt mit den Schultern.
»Das ist mir schon die ganze Woche aufgefallen.«
Elina denkt darüber nach. Das Kind nuckelt
gedankenverloren an ihrer Bluse. »Wahrscheinlich liegt es bloß an
den beiden hier.« Sie zeigt auf ihre Brüste.
Ted lacht und schüttelt noch einmal den Kopf.
»Nein, auch wenn ich es ihm nicht verdenken könnte. Aber das ist es
nicht, Ehrenwort. Es ist, als ob er regelmäßig eine Dosis Elina
braucht. Um sich zu überzeugen, dass du noch da bist. Dass du nicht
irgendwohin …« Er bricht mitten im Satz ab. Elina sieht hoch. Mit
verzerrtem Gesicht, die Gabel in der Hand, kniet Ted reglos auf der
Decke.
»Hey«, sagt sie. »Was hast du?«
Klappernd lässt er die Gabel auf seinen Teller
fallen. »Nichts … Mir ist bloß ein bisschen …«
»Ein bisschen wie?«
»Nur …« Er drückt sich die Hände auf die Augen.
»Ich hab manchmal so … so Phasen, wo …«
»Wo was?«
»Wo meine Augen irgendwie verrücktspielen.«
»Deine Augen?«
»Es ist nichts Schlimmes«, murmelt er. »Ehrlich
nicht. Das hab … Das hab ich … schon mein Leben lang.«
»Dein Leben lang?«, wiederholt sie. Was kann er
damit meinen, sein Leben lang? Sie legt das Kind auf die Decke und
kauert sich neben Ted. Sie lässt ihre Hand auf seinem Rücken auf
und ab fahren. »Wie lange dauert so was?«, f ragt sie nach einer
Weile.
Ted ist noch immer in sich zusammengesunken, die
Hand schirmend über die Augen gehoben. »Nicht lange«, sagt er. »Es
ist gleich wieder vorbei. Entschuldige.«
»Sei nicht albern.«
»Komisch, das ist mir seit Jahren nicht mehr
…«
»Pst«, sagt sie, »nicht reden. Soll ich dir ein
Glas Wasser holen?«
Er nickt.
Als sie zurückkommt, hat er sich wieder hingesetzt.
Den Kopf auf die Seite gelegt, sieht er versonnen auf das Kind
hinunter. Sie gibt ihm das Glas.
»Wie geht es dir? Ist mit deinen Augen wieder alles
okay?«
Er nickt.
»Was war das denn?« Sie legt ihm die Hand auf die
Stirn. »Ted, du bist eiskalt und … wie heißt das Wort für … ganz
nass?«
»Schweißnass«, murmelt er.
»Du hast eine schweißnasse, kalte Stirn«, sagt sie.
»Ich finde, du solltest zum Arzt gehen.«
Er trinkt einen Schluck und gibt ein ablehnendes
Knurren von sich.
»Du musst.«
»Nein. Ich hab nichts. Mir geht es gut.«
»Dir geht es nicht gut.«
»Doch.« Er schüttelt sich die Haare aus den Augen
und sieht sie an. »Mir geht es gut«, sagt er noch einmal.
»Ehrlich.« Er legt den Arm um sie und gibt ihr einen Kuss auf den
Hals. »Jetzt guck nicht so ängstlich. Es ist wirklich
nichts.«
»Für mich hört sich das nicht nach nichts
an.«
»Ist es aber. Als Kind hatte ich das dauernd. Und
dann seit Ewigkeiten nicht mehr, bis vor ein paar Tagen, und
…«
»Du hattest das vor ein paar Tagen schon mal? Warum
hast du mir nichts davon gesagt?«
»Elina.« Er nimmt ihre Hände. »Mir fehlt nichts.
Ehrenwort.«
»Du musst zum Arzt.«
»Ich hab’ deswegen schon sämtliche Ärzte
abgeklappert. Als Kind. Ich hatte Augenuntersuchungen,
Gehirnuntersuchungen und Was-es-sonst-noch-gibt-Untersuchungen.
Frag meine Mutter.«
»Aber Ted …«
In diesem Augenblick fängt das Kind an zu
schreien.
»Hörst du?«, sagt Ted. »Der innere Timer geht
los.«
Und später an diesem Tag oder vielleicht auch erst
am nächsten - es ist schwer zu sagen, weil sie nicht schlafen kann
- sitzt Elina auf dem Sofa, den Rücken mit Kissen ausgestopft, die
Füße nebeneinander auf dem Teppich. In
der einen Hand wiegt sie einen schweren gläsernen
Briefbeschwerer.
Es ist eine fast vollkommen runde Kugel, unten
leicht abgeflacht, damit sie nicht auf dem Schreibtisch herumrollt.
Sie enthält hunderte winziger Bläschen. Elina hebt sie hoch und
späht mit einem Auge hinein, in eine verschwommene, ferne,
grünliche Welt, deren Atmosphäre tränenförmige Löcher hat.
Sie mag diesen Briefbeschwerer, der so kalt und
klar in ihrer Hand liegt. Es gefällt ihr, dass die Luft der
Werkstatt, in der er hergestellt wurde, auf ewig darin gefangen
ist. Vielleicht ist es sogar dieselbe Luft, die der Glasbläser
ausgeatmet hat. Der Briefbeschwerer schmiegt sich perfekt in ihre
Hand, so groß wie der Kopf eines ungeborenen Kindes im Alter von -
was? - sechs Monaten? Fünf? Sie würde ihn gern aus nächster Nähe
fotografieren. Bald schon, wenn möglich. Wo ist überhaupt ihre
Kamera? Im Atelier? Sie sollte sie suchen, sicher verwahren. Wie
gern würde sie die geheime, stille Welt in dem Briefbeschwerer
einfangen. Wie gern würde sie selbst hineinschlüpfen.
Sie faltet die Hände unter der Kugel und hebt
langsam den Blick.
»Ich habe ja versucht, es ihr zu erklären«, sagt
Teds Mutter, die auf dem anderen Sofa sitzt und sich den Hals nach
Ted verrenkt, der in der Küche ist. »Sie hat deshalb noch keine
Karte von mir bekommen, weil ihr euch einfach nicht für einen Namen
entscheiden könnt. Aber davon wollte sie natürlich nichts wissen.
Sie wurde richtig ungemütlich.« Teds Mutter zupft an der Manschette
ihrer Bluse und streicht sie wieder glatt, um ihre Gereiztheit zu
überspielen. »Habt ihr euch denn noch mal Gedanken darüber gemacht,
wie ihr ihn nennen wollt?«
Teds Antwort ist nicht zu verstehen - er steckt mit
dem Kopf im Kühlschrank.
Elina blinzelt. Den Bruchteil einer Sekunde lang
hat sie das Gefühl, ihr würde der Brustkorb von innen auseinander
gedrückt. Sie blinzelt noch einmal, damit es weggeht.
Teds Mutter dreht sich wieder um und rutscht auf
dem Sofa herum. Als sie es gekauft haben, hat sie gesagt, man könne
nicht bequem darauf sitzen, weil der Kopf nach hinten keinen Halt
hätte. Elina fragt sich, ob ihr wohl schon der Nacken wehtat.
»Tja«, sagt sie. »Dass mein Enkel nun schon fast
einen Monat alt ist und ich noch immer keine Karten verschicken
kann, hätte ich nie im Leben für möglich gehalten. Meine Verwandten
warten schon sehnsüchtig darauf.«
»Du kannst sie doch trotzdem verschicken«, knurrt
Teds Vater, der sich hinter einer Zeitung verschanzt hat. Elina hat
nicht mit ihm gerechnet, denn Teds Eltern besuchen sie fast immer
getrennt: Ihre Terminpläne vertragen sich meistens nicht.
»Eben«, sagt Ted, während er ein Tablett
hereinbringt. »Da muss doch nicht sein Name draufstehen,
oder?«
Seine Mutter schnappt nach Luft, als ob er eine
anzügliche Bemerkung gemacht hätte. »Sein Name muss nicht
draufstehen? Aber natürlich muss sein Name draufstehen!«
Ted zuckt mit den Schultern und schenkt den Tee
ein.
»Wie fändet ihr Rupert?«, f ragt seine Mutter
aufgekratzt. »Rupert hat mir schon immer gefallen, und in meiner
Familie hat der Name eine lange Tradition.«
»Hört sich an wie ein … Nun sag schon, wie heißt
das noch gleich?«, haspelt Teds Vater. Er faltet die Zeitung
zusammen und wirft sie auf den Boden.
»Wie bitte?«
»Ein …« Teds Vater greift sich an die Stirn. »Du
weißt schon, dieses Ding, das Kinder mit ins Bett nehmen. Äh … wie
in Wiedersehen in Brideshead … Da gab es auch so was. Äh …
Teddybär! Ich hab’s. Ein Teddybär.« Er hebt die Zeitung wieder auf.
»Hört sich an wie ein Teddybär«, sagt er, während er die Titelseite
ein zweites Mal überfliegt.
»Was hört sich an wie ein Teddybär?«, fragt Teds
Mutter.
»Der Name Rupert.«
Elina hört das Wort: Wundklammer. Sie hört:
Gebärmutterriss. Sie hört: Sternguckerlage.
Ted gibt ein unverständliches Geräusch von sich,
dann sagt er: »Bitte sehr, der Tee. Und, wie geht es euch so? Wie
war die Woche? Viel zu tun?«
»Oder Ralph. Wie wäre es mit Ralph? Er sieht aus
wie ein Ralph. Das war der zweite Vorname meines Großvaters. Klingt
sehr hübsch. Und es würde gut zu unserem Nachnamen passen.«
»Hm.« Ted wirft Elina einen Blick zu. Ungerührt
lässt sie den Briefbeschwerer von einer Hand in die andere wandern.
Die gläserne Oberfläche fühlt sich schon ganz warm an. Sie sieht,
dass Ted mit sich ringt, ob er das Thema anschneiden soll, aber
dann entschließt er sich, den Sprung zu wagen. Während er seinen
Eltern den Tee reicht, sagt er: »Wir haben beschlossen, ihm Elinas
Nachnamen zu geben. Er soll Vilkuna heißen.«
Als Teds Mutter ins Krankenhaus kam, war das Kind
drei Stunden alt. Elina erinnert sich an alles. Mit ihrem freien
Arm schmiegte sie den schlafenden Kleinen an ihre Brust. Der andere
Arm war bandagiert, zu einem geheimnisvollen Kokon verschnürt.
Schläuche führten hinein und heraus. Über ihrem Kopf hingen
verschiedene Beutel. Unter der
Bettdecke waren weitere Schläuche, die in sie hineingingen und
wieder herauskamen. Noch mochte sie nicht daran denken,
wohin.
Sie schien in zahllosen Kissen zu thronen. Aus
irgendeinem Grund - wegen des Morphins vielleicht - rollten ihre
Augäpfel alle paar Minuten in den Höhlen nach hinten. Das ganze
Zimmer schlingerte und stampfte, und Elina hatte Mühe, im Hier und
Jetzt zu bleiben und sich nicht dem Sog des Medikaments zu ergeben.
Es war wie eine starke Meeresströmung, die sie nach unten
zog.
Ted war auf der anderen Seite des Zimmers, sehr
weit weg, wie es ihr schien. Mit einem Stift in der Hand saß er auf
einem Stuhl und füllte Formulare aus. Während sie ihn ansah, hob er
den Kopf, und Elina hätte vor Schreck fast laut aufgestöhnt: Sein
Gesicht war eingefallen, grau und angespannt, wie eine mit Haut
überzogene Maske. Im ersten Augenblick kam er ihr wie ein Fremder
vor, wie ein Unbekannter. Was ist passiert, wollte sie fragen.
Warum siehst du so furchtbar aus?
Die Tür ging auf, Elina drehte den Kopf, und
plötzlich stand Teds Mutter im Zimmer.
»Ohhhh!«, jubelte sie. »Ohhhh! Mein kleiner
Liebling!« Sie kam so zielstrebig ins Zimmer gerauscht, dass Elina
eine Schrecksekunde lang glaubte, sie wäre gemeint. Aber Teds
Mutter würdigte sie keines Blickes. Sie nahm das Kind hoch und
wiegte es in ihren Armen. »Na, du«, sagte sie, viel zu laut, wie
Elina fand. »Na du, du kleiner Prachtkerl.«
Sie drehte dem Bett den Rücken zu und ging zum
Fenster. An der Stelle, wo das Kind gelegen hatte, fühlte sich
Elinas Brust feucht an. Sie konnte seine Umrisse auf ihrer Haut
fühlen, die Wärme, die sich zwischen ihnen gebildet hatte. Sie sah,
wie sich ihr Arm, der verpuppte Arm, vom
Bett hob, als ob sie etwas sagen wollte. Aber was? Und dann stand
Ted auf, und ihre Augäpfel rollten wieder nach hinten, und bis sie
sie wieder unter Kontrolle hatte, sah sie nichts als die
Zimmerdecke und die Beutel mit der Flüssigkeit, die über ihr
hingen.
»… einfach grauenhaft.« Das war Ted, mit seinem
neuen, grauen Gesicht, und Elina musste sich anstrengen, um ihn zu
verstehen »… keine Herztöne mehr … ab in den OP … aber dann war
alles voll … überall, unvorstellbar … Elina wäre beinahe …« Ted
verschluckte das letzte Wort.
Beide schwiegen. Nur das leise, kaum fassbare Atmen
des Kindes war zu hören: ein hastig flatterndes Ein und Aus. Die
Stille im Raum war hauchdünn, so haarfein wie Raureif.
»Mmm, ach Gott«, sagte Teds Mutter. »Holst du mir
meine Kamera? Sie ist da drüben in meiner Tasche.« Sie war ganz in
den Anblick des Kindes versunken. Ihre Miene war schwer zu deuten.
Verzückt, grimmig, kompliziert. Voll von Begehrlichkeit oder einem
hungrigen Habenwollen, und Elina durchzuckte die Angst wie ein
Stromstoß. Als hätte das Kind es gespürt, stieß es jäh einen
schrillen Schrei aus.
Elinas Arm hob sich erneut. Diesmal bemerkte Ted
es. Er kam und beugte sich über sie, nahm ihre Hand. »Was ist?«, f
ragte er. »Alles in Ordnung?«
»Das Kind.« Elina staunte, wie heiser ihre Stimme
war. »Ich will das Kind zurückhaben.«
Und jetzt ist sie wieder da, Teds Mutter, sie sitzt
auf dem Sofa, das sie schlechtgemacht hat, und wartet, dass der
Kleine aufwacht, damit sie ihn »mal nehmen« darf.
»Vilkuna?« Sie spricht den Namen aus, als ob er ein
Schimpfwort wäre. »Er soll ein Vilkuna werden? Du willst deinem
Sohn nicht seinen rechtmäßigen Namen geben?«
Ted dreht seine Tasse hin und her und hält den
Blick auf den Teppich gehefet. »Es gibt keinen Grund, warum ein
Kind den Namen des Vaters tragen sollte statt den der …«
»Keinen Grund? Keinen Grund? Dafür gibt es tausend
Gründe. Die Leute werden denken, dass er ein …, dass er unehelich
ist, dass er …«
»Aber das ist er ja auch«, sagt Elina.
Teds Mutter reißt ruckartig den Kopf zu ihr herum,
als ob sie ganz vergessen hätte, dass Elina auch noch da ist.
»Zu meiner Zeit«, beginnt sie mit bebender Stimme,
»hat man so etwas nicht auch noch an die große Glocke gehängt. Zu
meiner Zeit …«
»Die Welt ändert sich.« Ted steht auf und nimmt
seine Tasse vom Tisch. »Damit müssen wir uns abfinden. Noch
Tee?«

Nachdem seine Eltern in ihren flotten kleinen
Silberflitzer gestiegen und nach Islington zurückgefahren sind,
geht Ted wieder ins Wohnzimmer. Auf jeder freien Fläche hat sich
das Strandgut des Tages angesammelt: Windeln auf dem Fußboden,
Tassen auf den Tischen, die Milchpumpe und die Glückwunschkarten,
die seine Mutter mitgebracht hat, auf dem Fernseher, ein halbvoller
Teller mit Plätzchen im Bücherregal, ein aufgeklappter Ratgeber
über Säuglingspflege mit der Schrift nach unten auf einem
Stuhl.
Seufzend lässt Ted sich aufs Sofa fallen. Er hätte
nie gedacht, dass ein Neugeborenes so viele Gastgeberpflichten mit
sich bringt, so viele Besucher, so viele Anrufe und EMails, so
viele Tassen Tee, die aufgebrüht, ausgeschenkt, aufgeräumt,
abgespült werden wollen. Oder dass einem plötzlich, nur weil man
Nachwuchs bekommen hat, mehrmals in
der Woche Besuch ins Haus schneit, der stundenlang hocken
bleibt.
Ted bringt das Teetablett weg. Während Elina das
Kind an der einen Stelle säubert und gleichzeitig an einer anderen
Stelle eincremt, sucht er sich einen Weg durch Spielzeuge, Rasseln,
Windeln, Feucht- und Baumwolltücher, sammelt verstreute Tassen und
Kuchenteller ein und trägt sie vom Wohnzimmer in die Küche. Elina
gibt ihm das Kind und fängt an, auf allen vieren an einem Flecken
im Teppich - Milch? Kotze? Kacke? - herumzuscheuern.
Seinen Sohn an der Schulter, zieht Ted seine Runden
durch den Raum, immer um den Tisch rum, immer um den Tisch rum. Der
Kleine verdreht die Augen, nuckelt selbstvergessen an seinem Daumen
- sicher schläft er gleich ein. Ted geht weiter, leicht hin und her
schaukelnd, wie ein Schiff auf ruhiger See. Dem Kind werden die
Augenlider schwer, es nuckelt langsamer, aber kaum ist es
eingeschlafen, fällt ihm der Daumen aus dem Mund, und es wacht auf.
Nuckel, nuckel, Augen zu, Daumen raus, Augen auf, und sie drehen
die nächste Runde, vorbei an Elina, die inzwischen die
Baumwolltücher zusammenlegt. Ted fasst den Kleinen anders, klemmt
das Ärmchen an den Körper, so dass der Daumen nicht mehr
herausrutschen kann, aber anscheinend hat er ihn damit an etwas
erinnert, denn er stutzt plötzlich, macht den Rücken steif, dreht
den Hals hin und her und will gefüttert werden.
Ted bemüht sich noch ein wenig länger, seinen Sohn
zum Schlafen zu bringen, aber er will nur noch trinken, er weint,
er quengelt, er windet sich und strampelt - bis Ted aufgibt und
Elina auf die Schulter tippt. Wortlos schiebt sie das Durcheinander
aus Feuchttüchern, Gebrauchsanweisungen für Sterilisatoren,
Babysöckchen und ungeöffneten Karten
vom Sessel auf den Boden, setzt sich hin und hebt ihre Bluse
hoch.
Ted staunt, wie schnell und glatt das Anlegen über
die Bühne geht: Mit der einen Hand hakt sie ihren BH auf, während
sie mit der anderen das Kind in die richtige Schräglage bringt. Es
stößt noch einen letzten schrillen Schrei der Erleichterung aus und
verstummt. Elina rutscht ein Stückchen tiefer in den Sessel und
lässt den Kopf nach hinten sinken, an die Wand. Wieder fällt Ted
auf, wie blass sie ist, wie dunkel und breit ihre Augenringe, wie
dünn ihre Gliedmaßen. Ihn überkommt der Drang, sich zu
entschuldigen - wofür, weiß er selbst nicht genau. Er zermartert
sich das Hirn, was er sagen könnte, etwas Heiteres, vielleicht
sogar Witziges, damit sie auf andere Gedanken kommen und sich daran
erinnern, dass das Leben auch anders sein kann. Aber ihm fällt
nichts ein, und dann bäumt sich das Kind auf, es schreit, es
zappelt, es schwingt die Fäustchen. Elina macht die Augen auf und
setzt sich gerade hin, sie legt ihn über ihre Schulter, reibt ihm
den Rücken, löst seine Händchen aus ihren Haaren. Ted hält es nicht
mehr aus. Er kann nicht mit ansehen, wie sie sich auf rafft, wie
sie entkräftet den Kopf wieder aufrichtet, um irgendwie zu
funktionieren. Er schnappt sich einen stehen geblieben Kuchenteller
und flieht in die Küche.

Das Kind trinkt schlecht. Elina stemmt sich aus
dem Sessel. Manchmal klappt es mit dem Stillen nur, wenn sie auf
und ab geht. Die Bewegung scheint es zu beruhigen, seine Verdauung
anzuregen. Oder so. Langsam, ganz langsam geht sie zum Fenster und
wieder zurück. Aufgeregt dreht es das Köpfchen hin und her, dann
dockt es an. Elina geht weiter auf und ab, atmet in leisen Stößen
aus.
»Ted«, sagt sie, als sie an der Küchentür
vorbeikommt. Er ist in den Abwasch vertieft, die Hände in der
Spülschüssel. Sie möchte etwas zu ihm sagen, was sie beide daran
erinnert, dass sie mehr miteinander verbindet als nur die Tatsache,
dass sie Eltern desselben Kindes sind.
»Hmm?« Er nimmt eine tropfende Tasse aus dem
Wasser.
Aber ihr fällt nichts Besseres ein als: »Wie geht
es dir?«
Er sieht sie erstaunt an. »Gut. Und dir?«
»Auch gut.«
»Gut. Müde?«
»Natürlich. Und du?«
»Natürlich.« Er zieht einen Teller aus dem
schaumigen Wasser und lehnt ihn an die Tasse. »Vielleicht kannst du
dich ein bisschen hinlegen, wenn er fertig ist.«
»Vielleicht«, sagt sie. »Vielleicht schläft er ein.
Dann könnten wir alle drei ein Nickerchen machen.«
Ted nickt. »Hört sich gut an.«
Elina erträgt es nicht. Warum reden sie so
miteinander? Was ist mit ihnen passiert? Sie sucht nach einer
Bemerkung, einer einzigen interessanten Bemerkung, um sie aus
dieser höflichen Apathie herauszureißen, doch ihr Verstand lässt
sie im Stich. Sie dreht sich um und nimmt ihre Wanderung wieder
auf. Wie kann es sein, dass sie ein Kind zur Welt gebracht hat, das
nur trinken kann, wenn es in Bewegung ist?
Früher war es anders. Sie möchte es ein für alle
Mal festhalten: Wir waren nicht immer so.
Sie legt das Kind an ihre Schulter, seine kleine
Stirn sinkt in ihre Halsbeuge, sein feuchtwarmer Atem strömt in
ihren Kragen. Sie hat Ted bei der Wohnungssuche kennengelernt; sie
suchte eine Wohnung, weil sie beschlossen hatte, Oscar zu
verlassen; sie hatte beschlossen, Oscar zu verlassen,
weil er sich seine Materialien nie selbst kaufte, sondern sich
ständig bei ihren bediente, weil er nicht kochen konnte, höchstens
Spiegeleier mit Speck, weil er mit einer Kellnerin geschlafen
hatte; mit der Kellnerin hätte er geschlafen, so Oscar, weil er
sich durch den Erfolg von Elinas letzter Ausstellung bedroht
fühlte. Eine Kettenreaktion aus Speck, geklauten Pinseln, Sex mit
Kellnerinnen und Wohnungsnot führte dazu, dass sie sich auf Teds
Anzeige meldete. Ein Zimmer in Gospel Oak, nicht weit von Hampstead
Heath. Die Nähe zum Park war der Grund, warum sie dort anrief. In
dem Haus am Park war im Dachboden ein Zimmer frei, zu dem man mit
einer Leiter hinaufgelangte. Ein Zimmer mit klarem, gleichmäßigem
Londoner Licht. Der Vermieter, Ted, half ihr dabei, ihre
Werkzeugkästen, Farben und ungespannten Leinwände hinaufzutragen.
Zu dem Haus gehörte ein Garten, eine blau gestrichene Küche und -
manchmal - eine Freundin namens Yvette, eine dünne Frau mit
wachsamen Katzenaugen. Während Elina in ihrer Mansarde arbeitete
und schlief, mit dem Rauchen aufhörte, Oscars Anrufe ignorierte,
noch eine Ausstellung hatte, eine größere als die letzte und nur
für sich allein, und mit dem Rauchen wieder anfing, lebte Ted unten
sein Leben, mal mit Yvette, mal ohne. Wenn aus dem unter ihr
gelegenen Schlafzimmer Geräusche zu Elina heraufdrangen, setzte sie
ihren Kopfhörer auf und drehte die Lautstärke hoch. Irgendwann war
Yvette plötzlich nicht mehr da. Sie hatte Ted wegen eines
Schauspielers verlassen. Ted kam die Leiter herauf, um es Elina zu
sagen. Sie sagte, trau niemals einem Schauspieler. Sie nahm Ted zu
einer Vernissage mit Drag-Queen-Fotos mit; anschließend gingen sie
in eine Bar. Ted betrank sich. Ted kippte um. Elina rief ein Taxi
und half ihm ins Haus. Am nächsten Tag suchten sie den Schauspieler
im Internet,
mit Elinas Laptop - Elina meinte, er hätte seine besten Tage schon
hinter sich. Außerdem säße seine Hose eine Idee zu weit oben. Ted
besuchte sie immer öfter in ihrer Mansarde. Er legte sich aufs Bett
und erzählte ihr von dem Film, den er gerade bearbeitete, von der
Musterkopie, die er an dem Tag geschnitten hatte. Elina musste
aufhören zu malen - sie konnte nicht malen, wenn ihr jemand zusah
-, aber dafür reinigte sie unterdessen ihre Pinsel, zog Leinwände
auf oder schaffte Ordnung. Manchmal gingen sie in der Dämmerung im
Park spazieren. Sie unterhielten sich über Bücher. Er kochte für
sie, wenn sie zu Hause war; wenn nicht, schrieb er ihr einen
Zettel, dass das Essen im Kühlschrank stand. Sie hob seine Schuhe
auf, wenn er sie im Wohnzimmer liegen ließ, und stellte sie
paarweise in den Schuhschrank. Sie hängte seine Schlüssel wieder
ans Brett. Sie malte morgens, nachdem er zur Arbeit gegangen war,
mit dem Finger abstrakte Linien, die aus einer Mitte entsprangen,
auf seinen vom Duschen beschlagenen Spiegel. Sie f reute sich, wenn
sie morgens in die Küche kam und der Kessel noch warm war, weil er
sich Tee gemacht hatte. Als es sie eines Spätnachmittags f ror, zog
sie sich das Erstbeste über, was ihr in die Finger kam - einen
Pullover von ihm, der auf der Treppe lag -, und arbeitete weiter.
Aber sie konnte sich nicht konzentrieren, den Farben nicht ihren
Willen aufzwingen, konnte nichts anderes sein als das, was sie war:
eine Frau in einem Zimmer mit einem Pinsel in der Hand. Sie warf
den Pinsel beiseite und stapfte zu ihrem schrägen Dachfenster, und
plötzlich merkte sie, dass sie sich den Pulloverärmel an die Nase
hielt und einatmete, tief einatmete. Teds Geruch war in ihrem
Gesicht, er war überall. Erschrocken riss sie sich den Pullover
herunter und warf ihn durch die Luke nach unten. Eine Woche lang
ging sie Ted aus dem Weg,
war viel außer Haus, verbrachte die Abende in Cafés, Bars,
Galerien. Was er kochte, aß sie in der Nacht, sie schlief bis zum
Mittag, arbeitete nachmittags. Sie sammelte die Zettel, die er ihr
schrieb - Kochtipps, die Abrechnung für das Gasgeld, die Nachricht
über einen Anruf, den sie verpasst hatte -, und verwahrte sie
zwischen den Seiten ihrer Bücher. Sie begann mit einer Serie
kleinerer Bilder, alle in Schwarz und Rot. Dann eines Tages ein
neuer Zettel, länger als sonst. Er schrieb, er wolle zur Berlinale
und habe noch eine Karte übrig. Ob sie nicht Lust hätte
mitzukommen? Sie fuhr mit. In Berlin war es kalt, es graupelte, die
Straßenbahnen kämpften sich durch Berge von schmutzigem Schnee. Sie
aßen Apfelkuchen im Café, sahen sich nachmittags Filme an,
besichtigten die Reste der Mauer. Sie wohnten im Hotel, in einem
Zweibettzimmer mit getönten Scheiben, hinter denen der Himmel
aussah wie Tee. Die Bettdecke war aus Nylon und rutschte in der
Nacht auf den Boden. Elina hörte Ted beim Schlafen zu. Sie warf
heimlich einen Blick auf sein Passfoto, als er im Bad war. Sie sah
seine Kleidungsstücke an, die als Knäuel auf einem Stuhl lagen. Sie
gingen in eine Kunstausstellung, noch ein paarmal ins Kino, auf die
eine oder andere Party, wo die Leute eisgekühlten Wodka tranken,
von dem Ted die Zähne wehtaten. Sie war dabei, als er sich mit
einer kanadischen Produzentin namens Cindy unterhielt und als sie
E-Mail-Adressen austauschten. Elina betrank sich. Elina kippte um.
Ted half ihr zurück ins Hotel und steckte sie ins Bett. Am nächsten
Morgen brachte er ihr ein Glas Wasser. Sie machten sich auf die
Suche nach dem Potsdamer Platz und fanden nur ein Einkaufszentrum.
Sie aßen Tortillas, die zu fettig waren, sie schrieben
Ansichtskarten. Sie f ragte Ted, an wen er seine schrieb, und er
sagte es ihr; er f ragte sie nicht nach ihren. Sie sahen sich noch
einen
Film an, aßen noch mehr Apfelkuchen, gingen noch mal auf eine
Party. Sie hörte ihm beim Schlafen zu. In der Nacht rutschten beide
Decken herunter, in den Zwischenraum zwischen ihren Betten. Elina,
die als Erste aufwachte, fand sie dort am nächsten Morgen,
ineinander verschlungen. Der Himmel war tanninbraun. Sie fuhren
nach Hause. Zurück in ihrer Mansarde stellte sie die schwarz-roten
Bilder mit dem Gesicht zur Wand. Sie rührte etwas Farbe an und ließ
sie auf der Palette trocken werden. Sie schüttelte die Zettel aus
den Büchern in den Mülleimer. Sie legte sich aufs Bett, ließ den
Kopf über das Ende hängen, rauchte und sah aus dem Dachfenster. Als
Ted zurückkam, war sie im Garten und rauchte. Sie hörte, wie er ins
Haus ging, hin und her lief, das Licht ankipste, den Kühlschrank
aufmachte. Nach einer Weile kam er in den Garten und rief nach ihr,
Elina, sehr leise und mit einem singenden Ton am Ende, so dass ihr
Name wie eine Frage klang. Aber sie drehte sich nicht um. Er sagte:
Ich dachte, es wäre keiner zu Hause. Er kam über den Rasen, die
nackten Füße raschelten im Gras, und er fasste nach dem Ende ihres
Gürtels, eines Stoffgürtels, der an ihrem Oberteil vernäht war und
sich viele Male um ihren Körper wand, und er zog sie zu sich heran,
wie jemand, der sich an einem Tau hangelnd aus tiefem Wasser
zieht.
Wir waren nicht immer so, sagt Elina sich, während
sie zusieht, wie Ted das Spülwasser auskippt, während sie
einschläfernd auf das Kind einspricht und den Blick über das Chaos
in der Wohnung wandern lässt.