Lexie arbeitete seit einigen Monaten bei
elsewhere und wohnte seit einigen Wochen mit Innes zusammen.
Jeden Morgen trafen sie nach einer rasenden MG-Fahrt gemeinsam in
der Bayton Street ein. In Lexies Erinnerung sollten diese
morgendlichen Fahrten immer mit einem angenehm wunden Gefühl im
Unterleib und den Innenseiten der Oberschenkel verbunden bleiben -
Innes schlief gern einmal in der Nacht mit ihr und dann noch einmal
am Morgen. Davon bekäme er den Kopf so schön frei. »Sonst würde ich
den ganzen Tag nur an die Liebe denken statt an meine Arbeit«,
sagte er. Was fatal für ihn wäre, da Lexie, das Objekt seiner
Begierde, schließlich mit ihm zusammenarbeitete. »Nicht zum
Aushalten«, beschwerte er sich. »Das grenzt an Grausamkeit, wie du
den ganzen Tag - splitterfasernackt unter deinen Klamotten - durch
die Redaktion schwebst.«
»Park den Wagen ein, Innes«, antwortete sie. »Und
hör auf zu jammern.«
Eines Nachmittags war es ruhig in der sonst so
hektischen Redaktion - Laurence war in der Druckerei, Daphne auf
Recherche für einen Artikel, Amelia begleitete einen Fotografen zu
einem Termin. Lexie und Innes arbeiteten allein. Ohne zu reden. Das
heißt, Lexie redete nicht mit Innes. Sie hämmerte wütend auf ihre
Schreibmaschine ein, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Sie schob krachend den Wagen zurück, stützte den
Kopf in die Hände und starrte auf die Falten in ihrem grünen
Wollkleid.
»Es ist noch kein Journalist vom Himmel gefallen«,
bemerkte Innes, der auf der anderen Seite des Zimmers saß und
Zeitung las, mit einem Lächeln, das sie wahnsinnig machte.
Sie gab eine Mischung aus Knurren und Gebrüll von
sich, riss das Blatt aus der Maschine, knüllte es zusammen und warf
es nach Innes. »Halt die Klappe!«, schrie sie. »Ich hasse
dich!«
Die Papierkugel beschrieb einen lächerlichen Bogen
und landete auf dem Teppich, meilenweit vom Ziel entfernt. Innes
blätterte geräuschvoll eine Seite um. »Tust du nicht. Du liebst
mich.«
»Nein, nein. Ich kann dich nicht ausstehen.«
Schmunzelnd faltete er die Zeitung zusammen und
legte sie auf den Schreibtisch. »Wenn du von deinem Redakteur keine
Kritik - keine konstruktive Kritik - vertragen kannst, schaffst du
es nie. Dann bleibst du bis ans Ende deiner Tage eine
überqualifizierte Tippse.«
Lexie funkelte ihn an. »Konstruktiv? Das nennst du
konstruktiv? Es war fies und gemein und …«
»Ich hab doch nur gesagt, dass du den studentischen
Ton ablegen musst, dass du …«
»Hör auf!« Sie hielt sich die Ohren zu. »Sei still!
Verschon mich!«
Lachend stand er auf und ging nach nebenan, in das
kleine Hinterzimmer. »Okay, ich komm dir nicht mehr in die Quere.
Ich bin hier drin, falls du mich brauchst. Aber bis zur
Mittagspause will ich eine halbe Seite sehen.«
Sie fauchte hinter ihm her. Dann sah sie sich noch
einmal
das Manuskript an, das sie Innes am Vorabend gezeigt hatte. Er
fand, es würde allmählich Zeit, dass sie »mal selbst etwas zu
Papier« brächte. Er hatte sie in eine kleine Ausstellung geschickt,
mit dem Auftrag, eine Rezension von einer halben Seite zu
verfassen. Sie war frühzeitig hingegangen, hatte einen Rundgang
gemacht, sich alle Gemälde gründlich angesehen und eifrig Notizen
gemacht. Als jemand fragte, wer denn »die Kleine« sei, und der
Galerist »Kents neues Püppchen« antwortete, fuhr sie wütend zu ihm
herum. Püppchen? Von wegen. Sie mimte die Gleichgültige und
vertiefte sich eifrig wieder in ihre Notizen, mit dem Resultat,
dass sie seitenweise unentzifferbares Geschreibsel mit nach Hause
brachte. Eine ganz Woche hatte sie den Artikel immer wieder
überarbeitet. Und dann brauchte Innes geschätzte fünf Minuten, um
ihn zu lesen und ihn ihr, mit blauen Korrekturen versehen, wieder
zurückzugeben.
Was sollte das überhaupt heißen, »studentischer
Ton«? Und was war an dem Ausdruck »leuchtendes Kolorit«
auszusetzen? Worauf wollte er hinaus, wenn er einen »spritzigeren
Einstieg« von ihr verlangte?
Während sie seufzend ein neues Blatt einspannte,
ging die Tür auf, und eine Frau kam herein. Aber vielleicht wäre
»Dame« das treffendere Wort. Sie trug einen roten Pillbox-Hut mit
einem Netzschleier, der halb das Gesicht verdeckte, einen
marineblauen, eng taillierten Mantel und marineblaue Schuhe. In den
behandschuhten Händen hielt sie eine glänzende Ledertasche. Ihr
Gesicht war blass, makellos gepudert, die geschminkten Lippen halb
geöffnet, als ob sie nur noch die richtigen Worte finden müsste, um
etwas zu sagen.
»Guten Morgen«, sagte Lexie. Sicher würde die Frau
jeden Augenblick merken, dass sie sich in der Tür geirrt hatte.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Die Frau warf ihr aus schmalen Augen einen raschen
Blick zu. »Sind Sie Lexie?«
»Ja.«
Eine Hand in die Hüfte gestützt, musterte die Frau
Lexie von oben bis unten, wie eine wählerische Kundin eine
Schaufensterpuppe. »Tja«, meinte sie, als sie damit fertig war, und
lachte spröde. »Ich kann nur sagen, dass sie von Mal zu Mal jünger
werden. Findest du nicht auch, Liebling?« Damit drehte sie sich um,
und zu Lexies Überraschung kam hinter ihr ein etwa zwölf, dreizehn
Jahre altes Mädchen zum Vorschein, blass und mit
Korkenzieherlöckchen, für die sie wahrscheinlich mit aufgedrehten
Haaren schlafen musste. Sie atmete durch den Mund, als ob sie
Polypen hätte.
»Ja, Mutter«, murmelte sie.
Lexie stand auf und sah mit einiger Genugtuung,
dass sie die andere um einiges überragte. »Entschuldigen Sie, aber
dürfte ich bitte erfahren, welche Angelegenheit Sie
hierherführt?«
»Na, so was.« Die Frau brach erneut in Gelächter
aus. »Sie denken wohl, Sie sind was Besseres. Diesmal hat er sich
selbst übertroffen, sich ein Betthäschen zu angeln, das so jung ist
und sich auch noch so gewählt ausdrücken kann. Welche Angelegenheit
mich hierherführt?«, äffte sie Lexie nach und warf einen Blick auf
ihre Tochter, die Lexie noch immer mit offenem Mund anstarrte. »Wo
hat er Sie denn aufgegabelt? Ganz bestimmt nicht in einer üblen
Spelunke wie seine anderen Weiber. Sieh sie dir gut an, mein
Liebling«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Für so etwas hat dein Vater
uns verlassen.« Sie hatte kaum ausgesprochen, da fing ihre akkurat
geschminkte Fassade an zu bröckeln. Zu Lexies Entsetzen senkte
Gloria - denn niemand anderer konnte sie
sein - den Kopf, kramte aus ihrer Handtasche ein Taschentuch
hervor und presste es sich ins Gesicht.
Hinter ihnen flog knallend eine Tür auf, wütende
Schritte kamen näher. Mit starrer Miene kam Innes
hereingestürmt.
Neben Lexie blieb er stehen. Einen Augenblick lang
betrachtete er seine Frau, den Hut, das Taschentuch, die Tränen. Er
nahm seine Zigarette aus dem Mund und fuhr sich durchs Haar. »Was
willst du hier, Gloria?«, fragte er mit zusammengebissenen
Zähnen.
»Ich musste kommen«, hauchte Gloria und tupfte
hinter dem Schleier an ihren Augen herum. »Du darfst mich gern
töricht schelten, aber eine Frau muss die Wahrheit wissen. Ich
musste sie sehen. Margot musste sie sehen.« Sie sah Innes flehend
an, doch der ignorierte sie und nickte dem Mädchen zu.
»Hallo, Margot«, sagte er leise. »Wie geht es
dir?«
»Danke, es geht mir gut, Vater.«
Ihre Antwort ließ ihn leicht zusammenzucken.
Trotzdem ging er einen Schritt auf sie zu. »Wie man hört, bist du
auf einer neuen Schule. Wie gefällt es dir da?«
Gloria fuhr so heftig herum, dass ihr marineblauer
Rock raschelnd sein Hosenbein streifte. »Als ob dich das
interessiert«, kläffte sie und sagte zu ihrer Tochter, ohne sie
anzusehen: »Antworte ihm nicht, Margot.« Innes und sie durchbohrten
einander mit Blicken. »Du sagst ihm gar nichts. Wieso solltest du
auch, wenn er uns wie Luft behandelt?«
»Gloria …«, begann Innes.
»Frag ihn, Liebling.« Gloria packte ihre Tochter am
Arm und schob sie vor Innes. »Frag ihn, was wir wissen
wollen.«
Margot konnte ihrem Vater nicht in die Augen sehen.
Mit steinerner Miene sah sie zu Boden.
»Frag ihn!«, beharrte Gloria. »Frag du ihn, ich
kann es nicht.« Unter großem Gewese kam das Taschentuch erneut zum
Einsatz.
Margot räusperte sich. »Vater«, sagte sie mit
tonloser Stimme, die Augen noch immer niedergeschlagen. »Willst du
nicht bitte wieder nach Hause kommen?«
Innes machte eine kleine Bewegung mit der Hand,
fast so, als ob er an seiner Zigarette ziehen wollte. Er sah das
Mädchen sekundenlang an. Dann legte er die Zigarette in einen
Aschenbecher und verschränkte die Arme. »Gloria«, sagte er leise
und mit angespannter Stimme. »Dieser Auftritt ist mehr als
unüberlegt. Und auch noch Margot mit hineinzuziehen. Das ist
einfach …«
»Auftritt?«, kreischte Gloria und zog das Mädchen
wieder hinter sich. »Glaubst du denn, ich bin aus Stein? Denkst du,
ich habe überhaupt keine Gefühle? Deine anderen Weiber konnte ich
ignorieren. Und es gab Gott weiß genug davon. Aber das hier! Das
geht entschieden zu weit. Die ganze Stadt zerreißt sich schon das
Maul darüber.«
Innes seufzte und massierte sich die Stirn.
»Worüber?«
»Dass sie mit dir zusammenlebt! Dass du uns
verlassen hast, um dir eine Geliebte zu nehmen. Ein Mädchen, das
halb so alt ist wie du. In der Wohnung, die von Rechts wegen uns
gehören sollte, Margot und mir. Und dass du zu uns gehörst, zu
deiner Frau und deinem Kind.«
Innes ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Erstens«, sagte er, »müsstest du wissen, dass die Hälfte von
vierunddreißig siebzehn beträgt.« Er deutete auf Lexie. »Sieht sie
wie siebzehn für dich aus? Zweitens habe ich dich nicht ihretwegen
verlassen. Du und ich, leben schon lange getrennt. Wir wollen uns
doch nichts vormachen. Drittens hast du keinerlei Anspruch auf die
Wohnung. Du hast das Haus
bekommen - das Haus meiner Mutter, wie ich hinzufügen könnte -,
ich die Wohnung. So lautete unsere Vereinbarung. Viertens, Gloria,
begreife ich nicht, was dich das alles überhaupt angeht. Ich mische
mich nicht in dein Leben, und ich wäre dir dankbar, wenn du es
ebenso halten würdest.«
Während Innes’ Rede hatte Lexie verstohlen Margot
beobachtet. Sie fühlte sich auf seltsame Weise mit ihr verbunden.
Zwei Zeugen eines allzu oft wieder aufgewärmten Streits. Als sich
ihre Blicke trafen, sah Margot nicht weg. Sie zuckte nicht mit der
Wimper, sie rührte keinen Muskel. Sie glotze nur mit offenem Mund
so stier zurück, dass Lexie ein kalter Schauer überlief. Nach ein,
zwei Sekunden hielt Lexie es nicht mehr aus, und sie sah wieder
Gloria an, deren Hut nicht mehr ganz so akkurat wie vorher auf
ihrem Kopf saß und die sich kreischend über Ehrbarkeit und Anstand
erging.
»Gloria«, sagte Innes mit Grabesstimme. »Wäre
Margot nicht hier, gäbe es viele Antworten, die ich dir auf deinen
Vorwurf der moralischen Verderbtheit geben könnte. Um ihretwillen,
und ausschließlich um ihretwillen beherrsche ich mich.«
In dem nun einsetzenden kurzen Schweigen war
lediglich Glorias leichtes Keuchen zu hören. Die beiden bildeten
ein sonderbares Tableau, fand Lexie. Ohne Ton, ohne Worte, ohne das
Kind, das hinter ihnen stand, hätte man es für den Gipfel
leidenschaftlicher Liebe halten können statt für das genau
Gegenteil. Innes und Gloria sahen aus, als ob sie sich im nächsten
Augenblick in wilder Umarmung vereinen wollten.
Innes gab als Erster nach. Mit zwei großen
Schritten war er an der Tür und riss sie auf. »Es wäre wohl besser,
wenn du gehst«, sagte er, den Blick auf den Boden geheftet.
Gloria wirbelte mit raschelnden Röcken zu Lexie
herum, wie um sie sich ins Gedächtnis einzuprägen. Sie betrachtete
sie von oben bis unten, strich sich die Haare glatt, rückte ihren
Hut zurecht, hüstelte. Dann wirbelte sie zurück, packte den Arm
ihrer Tochter und rauschte mit ihr zusammen an Innes vorbei.
Das Kopfnicken, mit dem er sich von dem Mädchen
verabschiedete, glich einer angedeuteten Verbeugung. »Auf
Wiedersehen, Margot. Ich habe mich gefreut, dich zu sehen.« Er
bekam keine Antwort. Margot Kent schlich mit gesenktem Kopf hinter
ihrer Mutter her.
Innes schloss die Tür. Er atmete tief ein und
seufzend wieder aus, holte mit dem Fuß aus und trat gegen einen
Papierkorb.
»Das«, sagte er, wie zu sich selbst, »war meine
Frau. Meine geliebte bessere Hälfte. Was für ein Anblick, hm?« Er
schlug einmal, zweimal mit der Hand gegen die Wand. Lexie sah
tatenlos zu.
Innes schüttelte seine Hand aus, streckte die
Finger. »Autsch.« Er klang überrascht. »Verdammt.«
Lexie ging zu ihm und fing an, seine Hand zu
massieren. »Trottel«, sagte sie.
Er zog sie an sich. »Weil ich gegen die Wand geboxt
habe?« Er presste seine Lippen in ihr Haar. »Oder weil ich diese
Mänade geheiratet habe?«
»Sowohl als auch«, antwortete sie.
Er drückte sie. »Mein Gott«, sagte er. »Auf diesen
Schreck muss ich was trinken. Wie steht’s mit dir?«
»Hm.« Lexie runzelte die Stirn. »Ist es nicht noch
ein bisschen früh dafür?«
»Du hast recht! So ein Mist aber auch.
Wahrscheinlich ist noch nirgendwo geöffnet.«
»Nein, ich meinte …«
»Wie spät ist es?« Er sah auf seine Uhr, klopfte
seine Hosentaschen nach Kleingeld ab, pflügte sich mit den Fingern
durchs Haar. »Das Coach and Horses? Nein. Nicht um diese Uhrzeit.
Wir könnten es im French Pub probieren. Was meinst du? Verdammt.«
Er fasste sie bei der Hand und riss die Tür auf. »Gehen wir.«
Sie marschierten die Bayton Street hinunter. Wo sie
in die Dean Street mündet, blieb Innes stehen. Er sah nach links,
er sah nach rechts. Er steckte sich eine Zigarette an. »Wir
probieren es bei Muriel«, entschied er knurrig. »Sie schuldet mir
noch einen Gefallen.«
»Wofür?«, fragte Lexie, aber da hatte Innes sich
schon wieder in Bewegung gesetzt.
Minuten später saßen sie an einem Ecktisch im
Colony Room, und Innes genehmigte sich einen Whisky. Die Vorhänge
waren zugezogen, damit die Nachmittagssonne nicht hereinfiel, und
auf einem Hocker neben der Tür ließ Muriel Belcher den Blick durch
ihr Reich schweifen. »Was für eine Laus ist denn unserer Miss Kent
heute über die Leber gelaufen?«, lautete ihre Begrüßungsfrage, als
Innes hereingestapft kam.
Lexie sah zu, wie die bunten Fische im Aquarium
über der Kasse einander umkreisten, und schrieb ihren Namen in Gin
und Tonic mit einem Cocktailstäbchen auf den klebrigen Tisch. An
der Theke saß ein Mann mit breitem, schiefem Gesicht, der laut und
etwas herablassend auf einen anderen Mann einredete, den Innes als
MacBryde begrüßt hatte. In der Ecke tanzte ein gut aussehender,
hochgewachsener Mann allein zur Grammophonmusik. Eine alte Frau in
einem schmuddeligen Mantel hockte, umringt von Tüten und Taschen,
am Nebentisch und schlürfte vor
sich hin brummelnd den Schnaps, den Innes ihr spendiert
hatte.
»Du bist doch hoffentlich nicht darauf
reingefallen?«, fragte Innes plötzlich.
Lexie sah von dem Cocktailstäbchen hoch.
»Worauf?«
»Auf das melodramatische Getue.«
Lexie schwieg und tauchte das Stäbchen wieder in
ihren Drink.
Innes zermalmte seine Zigarette. »Sie ist die
perfekte Schauspielerin. Das siehst du doch, ja? Die Tränen und die
Wutanfälle - alles Theater. Ihr geht es nur um das Spiel. Ich bin
ihr völlig egal. Sie will bloß nicht als Verliererin dastehen. Sie
kann den Gedanken nicht ertragen, dass ich mit dir
zusammenlebe.«
Lexie schwieg noch immer.
»Ich bin ihr egal«, wiederholte Innes.
Lexie trank einen Schluck; warm verbreitete sich
der Gin in ihrem Körper. Der tanzende Mann hatte eine neue Platte
aufgelegt. Er drehte sich zu einer hektischen, rasanten Melodie im
Kreis und ließ dabei den Kopf vor und zurück schnellen. »Da bin ich
mir nicht so sicher.«
»Aber ich.«
»Und wie sieht es mit Margot aus?«
Innes leerte stumm sein Glas. »Sie ist nicht von
mir«, sagte er schließlich.
»Ganz bestimmt nicht?«
»Hundertprozentig nicht.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
Er blickte hoch, lächelte kurz, dann sah er wieder
auf den Tisch. Er rollte das leere Glas zwischen seinen Händen. Die
alte Frau nutzte die Pause, um sich hinüberzubeugen und ihm mit
einer Tabaksdose unter der Nase herumzuklappern.
»Dürfte ich Sie vielleicht um eine kleine Spende für einen
durstigen Menschen bitten?«, fragte sie mit einem aufgesetzten
Oberschichtsakzent.
Seufzend warf Innes einen Shilling in ihre Dose.
»Bitte sehr, Nina«, sagte er. Dann wandte er sich wieder Lexie zu.
»Als Margot geboren wurde, war ich zwei Jahre nicht zu Hause
gewesen«, sagte er.
»Aber sie weiß nicht, dass du nicht ihr Vater
bist?«
Innes strich ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr
und zupfte sie wieder hervor.
»Innes.« Lexie zog den Kopf weg. »Wieso weiß sie es
nicht?«
»Sie …« Innes brach ab. »Weil ich immer dachte, die
Wahrheit wäre noch schlimmer für sie. Sie kann ja schließlich
nichts dafür. Wenn ich sie verleugnen würde, hätte sie gar keinen
Vater, und ein nutzloser Vater ist immer noch besser als gar
keiner. Findest du nicht auch?«
»Ich weiß nicht. Wirklich nicht. Ich finde, sie
sollte die Wahrheit erfahren.«
»Ach.« Mit einer abwehrenden Handbewegung stand
Innes auf, um zur Theke zu gehen. »Ihr jungen Leute seid immer so
versessen auf die Wahrheit. Dabei wird sie meistens maßlos
überschätzt.«

Innes’ Ehe blieb für Lexie in weiten Teilen ein
Rätsel. Er redete nicht viel über Gloria, und wenn doch, dann
normalerweise nur, um zu fluchen und zu schimpfen und sich immer
ausgeklügeltere Beleidigungen für sie auszudenken.
Lexie erfuhr nur die nackten Fakten: dass Innes bei
Kriegsbeginn siebzehn Jahre alt war und sich seine Mutter
Ferdinanda trotz dauernden Fliegeralarms weigerte, das
Haus am Myddleton Square zu verlassen. Sie hielt mit ihrem Mädchen
Consuela die Stellung, während Innes zur Schule ging. Und was haben
sie gemacht?, fragte Lexie eines Abends, als sich das Fenster zu
seiner Vergangenheit einen Augenblick lang öffnete. Gestickt,
antwortete er. Und gebastelt - an der Wahrheit. Mit achtzehn ging
er nach Oxford, um Kunstgeschichte zu studieren. Mit zwanzig wurde
er zur Royal Air Force eingezogen.
Man stelle sich den zwanzigjährigen Innes im blauen
Drillich vor, in Reih und Glied stehend, den schönen Künsten
entrissen, in ein Ausbildungslager in der tiefsten Provinz
verpflanzt. Er war kreuzunglücklich. Er hatte nicht das Naturell
für die Luftwaffe, für den Krieg.
Das also waren die nackten Fakten. Aber viel blieb
auch ungesagt, unbekannt. Lexie erfuhr zum Beispiel nie, wie Innes
aussah oder was er trug, ob er saß, stand oder ging, als er Gloria
kennenlernte.
Er war auf Fronturlaub, so viel ließ er einmal
durchblicken. Es passierte in der Tate Gallery, bei den
Präraffaeliten, vor Beatrice mit dem flammenden Haar. Stellen wir
uns Gloria vor dem Gemälde der von ihrem Haar umflossenen Beatrice
vor, schlichter gekleidet als gewöhnlich - denn es ist ja eine
Gloria in Kriegszeiten -, in geschnürten Halbschuhen, einem
praktischen Mantel. Sie trug vermutlich einen Seitenscheitel mit
Außenwelle. Und knallroten Lippenstift. Vielleicht einen Schal.
Eine Krokotasche über dem Arm.
Ob sie seine Gegenwart gespürt hat? Wie er sich
immer näher an sie heranschob? Ob sie vielleicht den Kopf drehte,
einmal nur und ganz schnell, um sich dann wieder dem Bild
zuzuwenden? Das Gespräch begonnen hat sicher Innes. Womit könnte er
es eröffnet haben? Mit einer Bemerkung über das Gemälde? Sie
plauderten, schlenderten in
den nächsten Saal, beratschlagten vielleicht, was sie sich noch
anschauen wollten. Danach vielleicht ein Kännchen Tee und ein Stück
Gebäck in der Cafeteria. Und dann vielleicht ein Spaziergang am
Fluss.
Einen Monat später waren sie verheiratet. Auf
Fragen nach dem Warum - Ob er in sie verliebt gewesen sei? Was er
sich dabei gedacht habe? - reagierte Innes ausweichend und gereizt.
Durchaus möglich, dass die Todesfalle Europa seine gesamte
Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hatte, aber er sprach es nie
aus. Er gab nicht gern zu, dass er sich vor irgendetwas fürchtete,
wähnte sich unbesiegbar, durch nichts zu erschüttern.
Ferdinanda, die sich auf Enkelkinder freute,
stellte ihnen das Souterrain ihres Hauses als Wohnung zur
Verfügung. Die neue Schwiegertochter würde ihr Gesellschaft
leisten. Lexie hat Ferdinanda nie kennengelernt - sie starb vor
ihrer Zeit -, aber wir dürfen sie uns als eine hochgewachsene Frau
mit stahlgrauem, straff nach hinten gekämmtem Haar denken, die, in
ein seidenes Schultertuch gehüllt, in ihrem Salon (einem prächtigen
Raum mit raumhohen Flügelfenstern, die auf den Platz mit seinen
Bäumen und Bänken hinausführten) Hof hält, während Consuela, ihre
treue Dienerin, Gloria Tee einschenkt.
Innes wurde kurz danach auf einen Stützpunkt in
Norfolk versetzt. In der zweiten Woche wurde seine Maschine während
eines Luftangriffs über Deutschland abgeschossen. Die gesamte
Besatzung kam ums Leben, mit Ausnahme des Heckschützen Innes Kent,
einundzwanzig, der seinen Fallschirm öffnete und wie ein
Distelsamen ins Feindesland schwebte.
Aber natürlich war es kein friedliches Schweben wie
bei einem Distelsamen, sondern ein rasend schneller, beängstigender
Sturz, bei dem ihm die kalte Nachtluft ins Gesicht peitschte und
ihm sein verwundetes Bein, in dem Teile des Flugzeugrumpfs und
Knochensplitter vom zerschmetterten Schädel des zweiten
Heckschützen steckten, Höllenqualen bereitete, während er wie eine
Marionette an seinen Schnüren hing und ihm die Baumwipfel
entgegenkamen.
Zwei Jahre, bis Kriegsende, wurde Innes in einem
Gefangenenlager festgehalten. Über diese Zeit sprach er nie, da
konnte Lexie ihn noch so listig fragen. »Das willst du nicht
hören«, sagte er bloß. »Doch«, antwortete sie, aber er blieb
fest.
Bekannt ist dagegen, dass sich Gloria bei seiner
Rückkehr im ganzen Haus am Myddleton Square breitgemacht hatte.
Ferdinanda war nicht mehr da, in ein katholisches Altersheim
abgeschoben. Consuela war in den Londoner Kriegswirren verloren
gegangen. Gloria hatte sämtliche Etagen ausgeräumt, Ferdinandas
Kleider, Fotos, Straußenfederfächer, Hüte und Schuhe im Garten
verbrannt. Der schwarze Kreis im Gras war noch immer zu sehen.
Außerdem traf Innes dort ein vier Monate altes Kind und einen
Anwalt namens Charles an. Als er mit seinem Schlüssel die Haustür
aufsperrte, tauchte Charles, in den Morgenmantel von Innes’ Vater
gehüllt, am oberen Ende der Treppe auf und verlangte zu wissen, wer
er war.
Zwar sind die Einzelheiten der nun folgenden Szene
nicht überliefert, doch dass Innes ausgesprochen beredt und
wortgewaltig vom Leder ziehen konnte, wenn man ihn reizte, lässt
sich denken. Wütende Schimpfkanonaden von Innes, Tränen und Gezeter
von Gloria sowie verwirrte Zwischenrufe von Charles werden die
Folge gewesen sein. Wie auch immer, Gloria willigte in eine
Trennung ein, aber nicht in die Scheidung. Sie behielt das Haus am
Myddleton
Square und blieb mit dem Kind, Margot, dort wohnen. Irgendwo muss
es Geld gegeben haben - auf Glorias Seite vielleicht? -, denn Innes
kaufte sich eine Wohnung am Haverstock Hill und nahm Ferdinanda bei
sich auf.
Sie ist das eigentliche Opfer dieser Geschichte.
Als Innes bei ihr auftauchte, erkannte sie ihn nicht mehr. Gloria
hatte ihr erzählt, Innes sei tot, im Kampf gefallen, vom deutschen
Nachthimmel geschossen. Darin vor allem liegen Innes’ Hass und
Bitterkeit gegen seine Frau begründet. Warum sie es getan hat? Das
wusste nur Gloria, und sie sagte es nicht. Vielleicht glaubte sie,
ihr junger Ehemann würde nicht wieder zurückkommen, oder sie fand
Gefallen an dem schönen, großen Haus. Vielleicht schikanierte
Ferdinanda sie. Oder sie tat es, weil sie, so lange sie mit ihrer
Schwiegermutter unter einem Dach wohnte, das Kind nicht als Innes’
ausgeben konnte. Ferdinanda führte Kalender. Sie strich die Tage ab
und rechnete aus, wie lange sie ihren geliebten Sohn nicht mehr
gesehen hatte. Auf eine zwanzig Monate dauernde Schwangerschaft
wäre sie niemals hereingefallen. Also musste sie aus dem Weg
geschafft werden.
Die Nachricht vom Tod ihres Sohnes stürzte
Ferdinanda in eine tiefe Umnachtung. Innes holte sie aus dem
katholischen Heim und kümmerte sich um sie, bis sie starb. Sie sei,
so beschrieb er es, ihm gegenüber stets höflich, aber distanziert
geblieben. Sie redete ihn mit »junger Mann« an und erzählte ihm von
ihrem Sohn, der im Krieg gefallen war.
Gloria litt darunter, dass Innes nun Lexie in
seinem Leben hatte. Keine seiner anderen Frauengeschichten hatte
ihr derart zugesetzt. Mal weinend, mal Geld fordernd tauchte sie in
regelmäßigen Abständen in der Redaktion auf. Sie klingelte früh
morgens an der Wohnungstür. Sie machte Innes in Treppenhäusern,
Restaurants, Theaterfoyers und
Kneipeneingängen tränenreiche Szenen, ihre Tochter immer stumm
hinter ihr. Diese Heimsuchungen schienen in Wellen zu erfolgen:
Manchmal mussten Lexie und Innes gleich zwei in einer Woche über
sich ergehen lassen, manchmal ließ sich Gloria monatelang nicht
blicken. Dann kam sie plötzlich mit klappernden Absätzen wieder die
Bayton Street heraufgestöckelt. Sie schrieb Innes Briefe, in denen
sie ihn beschwor, sich auf sein feierliches Gelöbnis zu besinnen.
Innes riss sie in kleine Stücke und warf sie ins Feuer. Einen
Sommer lang sah Lexie, wenn sie morgens das Haus verließ, oft die
Tochter auf einer Gartenmauer hocken. Margot sagte kein Wort zu
ihr, suchte keinen Kontakt, und Lexie behielt diese Begegnungen
Innes gegenüber für sich. Einmal saß Lexie in der U-Bahn, und als
sie von ihrer Zeitung hochblickte, saß ihr das Mädchen auf einmal
gegenüber, einen Schultornister auf dem Schoß, die wässrigen Augen
auf Lexies Gesicht geheftet.
Lexie stand auf und hielt sich an der Haltestange
fest. »Was soll das?«, fragte sie leise. »Was willst du von
mir?«
Das Mädchen sah an Lexies Schulter vorbei. Ihre
wachsweißen Wangen verfärbten sich rot.
»Es nützt doch nichts, Margot«, sagte Lexie. Die
Bahn schlingerte um eine Kurve, und sie musste sich festklammern,
um nicht auf das Mädchen geschleudert zu werden. »Ich bin nicht
schuld an dieser Situation. Das musst du mir glauben.«
Damit schien sie einen wunden Punkt berührt zu
haben. Das Mädchen riss den Kopf hoch und packte seinen Tornister
fester. »Aber ich glaube Ihnen nicht«, entgegnete sie. »Nein, ich
glaube Ihnen nicht.«
»Ich gebe dir mein Ehrenwort, dass es nicht meine
Schuld ist.«
Margot erhob sich. Der Zug lief in Euston ein. »Es
ist ist Ihre Schuld«, fauchte sie. »Ihre Schuld. Sie haben ihn uns
weggenommen, und das werden Sie mir noch büßen. Verlassen Sie sich
darauf. Sie werden schon sehen.« Sie stieg aus und verschwand, und
Lexie begegnete ihr erst Jahre später wieder.