Lexie arbeitete seit einigen Monaten bei elsewhere und wohnte seit einigen Wochen mit Innes zusammen. Jeden Morgen trafen sie nach einer rasenden MG-Fahrt gemeinsam in der Bayton Street ein. In Lexies Erinnerung sollten diese morgendlichen Fahrten immer mit einem angenehm wunden Gefühl im Unterleib und den Innenseiten der Oberschenkel verbunden bleiben - Innes schlief gern einmal in der Nacht mit ihr und dann noch einmal am Morgen. Davon bekäme er den Kopf so schön frei. »Sonst würde ich den ganzen Tag nur an die Liebe denken statt an meine Arbeit«, sagte er. Was fatal für ihn wäre, da Lexie, das Objekt seiner Begierde, schließlich mit ihm zusammenarbeitete. »Nicht zum Aushalten«, beschwerte er sich. »Das grenzt an Grausamkeit, wie du den ganzen Tag - splitterfasernackt unter deinen Klamotten - durch die Redaktion schwebst.«
»Park den Wagen ein, Innes«, antwortete sie. »Und hör auf zu jammern.«
Eines Nachmittags war es ruhig in der sonst so hektischen Redaktion - Laurence war in der Druckerei, Daphne auf Recherche für einen Artikel, Amelia begleitete einen Fotografen zu einem Termin. Lexie und Innes arbeiteten allein. Ohne zu reden. Das heißt, Lexie redete nicht mit Innes. Sie hämmerte wütend auf ihre Schreibmaschine ein, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Sie schob krachend den Wagen zurück, stützte den Kopf in die Hände und starrte auf die Falten in ihrem grünen Wollkleid.
»Es ist noch kein Journalist vom Himmel gefallen«, bemerkte Innes, der auf der anderen Seite des Zimmers saß und Zeitung las, mit einem Lächeln, das sie wahnsinnig machte.
Sie gab eine Mischung aus Knurren und Gebrüll von sich, riss das Blatt aus der Maschine, knüllte es zusammen und warf es nach Innes. »Halt die Klappe!«, schrie sie. »Ich hasse dich!«
Die Papierkugel beschrieb einen lächerlichen Bogen und landete auf dem Teppich, meilenweit vom Ziel entfernt. Innes blätterte geräuschvoll eine Seite um. »Tust du nicht. Du liebst mich.«
»Nein, nein. Ich kann dich nicht ausstehen.«
Schmunzelnd faltete er die Zeitung zusammen und legte sie auf den Schreibtisch. »Wenn du von deinem Redakteur keine Kritik - keine konstruktive Kritik - vertragen kannst, schaffst du es nie. Dann bleibst du bis ans Ende deiner Tage eine überqualifizierte Tippse.«
Lexie funkelte ihn an. »Konstruktiv? Das nennst du konstruktiv? Es war fies und gemein und …«
»Ich hab doch nur gesagt, dass du den studentischen Ton ablegen musst, dass du …«
»Hör auf!« Sie hielt sich die Ohren zu. »Sei still! Verschon mich!«
Lachend stand er auf und ging nach nebenan, in das kleine Hinterzimmer. »Okay, ich komm dir nicht mehr in die Quere. Ich bin hier drin, falls du mich brauchst. Aber bis zur Mittagspause will ich eine halbe Seite sehen.«
Sie fauchte hinter ihm her. Dann sah sie sich noch einmal das Manuskript an, das sie Innes am Vorabend gezeigt hatte. Er fand, es würde allmählich Zeit, dass sie »mal selbst etwas zu Papier« brächte. Er hatte sie in eine kleine Ausstellung geschickt, mit dem Auftrag, eine Rezension von einer halben Seite zu verfassen. Sie war frühzeitig hingegangen, hatte einen Rundgang gemacht, sich alle Gemälde gründlich angesehen und eifrig Notizen gemacht. Als jemand fragte, wer denn »die Kleine« sei, und der Galerist »Kents neues Püppchen« antwortete, fuhr sie wütend zu ihm herum. Püppchen? Von wegen. Sie mimte die Gleichgültige und vertiefte sich eifrig wieder in ihre Notizen, mit dem Resultat, dass sie seitenweise unentzifferbares Geschreibsel mit nach Hause brachte. Eine ganz Woche hatte sie den Artikel immer wieder überarbeitet. Und dann brauchte Innes geschätzte fünf Minuten, um ihn zu lesen und ihn ihr, mit blauen Korrekturen versehen, wieder zurückzugeben.
Was sollte das überhaupt heißen, »studentischer Ton«? Und was war an dem Ausdruck »leuchtendes Kolorit« auszusetzen? Worauf wollte er hinaus, wenn er einen »spritzigeren Einstieg« von ihr verlangte?
Während sie seufzend ein neues Blatt einspannte, ging die Tür auf, und eine Frau kam herein. Aber vielleicht wäre »Dame« das treffendere Wort. Sie trug einen roten Pillbox-Hut mit einem Netzschleier, der halb das Gesicht verdeckte, einen marineblauen, eng taillierten Mantel und marineblaue Schuhe. In den behandschuhten Händen hielt sie eine glänzende Ledertasche. Ihr Gesicht war blass, makellos gepudert, die geschminkten Lippen halb geöffnet, als ob sie nur noch die richtigen Worte finden müsste, um etwas zu sagen.
»Guten Morgen«, sagte Lexie. Sicher würde die Frau jeden Augenblick merken, dass sie sich in der Tür geirrt hatte. »Kann ich Ihnen helfen?«
Die Frau warf ihr aus schmalen Augen einen raschen Blick zu. »Sind Sie Lexie?«
»Ja.«
Eine Hand in die Hüfte gestützt, musterte die Frau Lexie von oben bis unten, wie eine wählerische Kundin eine Schaufensterpuppe. »Tja«, meinte sie, als sie damit fertig war, und lachte spröde. »Ich kann nur sagen, dass sie von Mal zu Mal jünger werden. Findest du nicht auch, Liebling?« Damit drehte sie sich um, und zu Lexies Überraschung kam hinter ihr ein etwa zwölf, dreizehn Jahre altes Mädchen zum Vorschein, blass und mit Korkenzieherlöckchen, für die sie wahrscheinlich mit aufgedrehten Haaren schlafen musste. Sie atmete durch den Mund, als ob sie Polypen hätte.
»Ja, Mutter«, murmelte sie.
Lexie stand auf und sah mit einiger Genugtuung, dass sie die andere um einiges überragte. »Entschuldigen Sie, aber dürfte ich bitte erfahren, welche Angelegenheit Sie hierherführt?«
»Na, so was.« Die Frau brach erneut in Gelächter aus. »Sie denken wohl, Sie sind was Besseres. Diesmal hat er sich selbst übertroffen, sich ein Betthäschen zu angeln, das so jung ist und sich auch noch so gewählt ausdrücken kann. Welche Angelegenheit mich hierherführt?«, äffte sie Lexie nach und warf einen Blick auf ihre Tochter, die Lexie noch immer mit offenem Mund anstarrte. »Wo hat er Sie denn aufgegabelt? Ganz bestimmt nicht in einer üblen Spelunke wie seine anderen Weiber. Sieh sie dir gut an, mein Liebling«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Für so etwas hat dein Vater uns verlassen.« Sie hatte kaum ausgesprochen, da fing ihre akkurat geschminkte Fassade an zu bröckeln. Zu Lexies Entsetzen senkte Gloria - denn niemand anderer konnte sie sein - den Kopf, kramte aus ihrer Handtasche ein Taschentuch hervor und presste es sich ins Gesicht.
Hinter ihnen flog knallend eine Tür auf, wütende Schritte kamen näher. Mit starrer Miene kam Innes hereingestürmt.
Neben Lexie blieb er stehen. Einen Augenblick lang betrachtete er seine Frau, den Hut, das Taschentuch, die Tränen. Er nahm seine Zigarette aus dem Mund und fuhr sich durchs Haar. »Was willst du hier, Gloria?«, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ich musste kommen«, hauchte Gloria und tupfte hinter dem Schleier an ihren Augen herum. »Du darfst mich gern töricht schelten, aber eine Frau muss die Wahrheit wissen. Ich musste sie sehen. Margot musste sie sehen.« Sie sah Innes flehend an, doch der ignorierte sie und nickte dem Mädchen zu.
»Hallo, Margot«, sagte er leise. »Wie geht es dir?«
»Danke, es geht mir gut, Vater.«
Ihre Antwort ließ ihn leicht zusammenzucken. Trotzdem ging er einen Schritt auf sie zu. »Wie man hört, bist du auf einer neuen Schule. Wie gefällt es dir da?«
Gloria fuhr so heftig herum, dass ihr marineblauer Rock raschelnd sein Hosenbein streifte. »Als ob dich das interessiert«, kläffte sie und sagte zu ihrer Tochter, ohne sie anzusehen: »Antworte ihm nicht, Margot.« Innes und sie durchbohrten einander mit Blicken. »Du sagst ihm gar nichts. Wieso solltest du auch, wenn er uns wie Luft behandelt?«
»Gloria …«, begann Innes.
»Frag ihn, Liebling.« Gloria packte ihre Tochter am Arm und schob sie vor Innes. »Frag ihn, was wir wissen wollen.«
Margot konnte ihrem Vater nicht in die Augen sehen. Mit steinerner Miene sah sie zu Boden.
»Frag ihn!«, beharrte Gloria. »Frag du ihn, ich kann es nicht.« Unter großem Gewese kam das Taschentuch erneut zum Einsatz.
Margot räusperte sich. »Vater«, sagte sie mit tonloser Stimme, die Augen noch immer niedergeschlagen. »Willst du nicht bitte wieder nach Hause kommen?«
Innes machte eine kleine Bewegung mit der Hand, fast so, als ob er an seiner Zigarette ziehen wollte. Er sah das Mädchen sekundenlang an. Dann legte er die Zigarette in einen Aschenbecher und verschränkte die Arme. »Gloria«, sagte er leise und mit angespannter Stimme. »Dieser Auftritt ist mehr als unüberlegt. Und auch noch Margot mit hineinzuziehen. Das ist einfach …«
»Auftritt?«, kreischte Gloria und zog das Mädchen wieder hinter sich. »Glaubst du denn, ich bin aus Stein? Denkst du, ich habe überhaupt keine Gefühle? Deine anderen Weiber konnte ich ignorieren. Und es gab Gott weiß genug davon. Aber das hier! Das geht entschieden zu weit. Die ganze Stadt zerreißt sich schon das Maul darüber.«
Innes seufzte und massierte sich die Stirn. »Worüber?«
»Dass sie mit dir zusammenlebt! Dass du uns verlassen hast, um dir eine Geliebte zu nehmen. Ein Mädchen, das halb so alt ist wie du. In der Wohnung, die von Rechts wegen uns gehören sollte, Margot und mir. Und dass du zu uns gehörst, zu deiner Frau und deinem Kind.«
Innes ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Erstens«, sagte er, »müsstest du wissen, dass die Hälfte von vierunddreißig siebzehn beträgt.« Er deutete auf Lexie. »Sieht sie wie siebzehn für dich aus? Zweitens habe ich dich nicht ihretwegen verlassen. Du und ich, leben schon lange getrennt. Wir wollen uns doch nichts vormachen. Drittens hast du keinerlei Anspruch auf die Wohnung. Du hast das Haus bekommen - das Haus meiner Mutter, wie ich hinzufügen könnte -, ich die Wohnung. So lautete unsere Vereinbarung. Viertens, Gloria, begreife ich nicht, was dich das alles überhaupt angeht. Ich mische mich nicht in dein Leben, und ich wäre dir dankbar, wenn du es ebenso halten würdest.«
Während Innes’ Rede hatte Lexie verstohlen Margot beobachtet. Sie fühlte sich auf seltsame Weise mit ihr verbunden. Zwei Zeugen eines allzu oft wieder aufgewärmten Streits. Als sich ihre Blicke trafen, sah Margot nicht weg. Sie zuckte nicht mit der Wimper, sie rührte keinen Muskel. Sie glotze nur mit offenem Mund so stier zurück, dass Lexie ein kalter Schauer überlief. Nach ein, zwei Sekunden hielt Lexie es nicht mehr aus, und sie sah wieder Gloria an, deren Hut nicht mehr ganz so akkurat wie vorher auf ihrem Kopf saß und die sich kreischend über Ehrbarkeit und Anstand erging.
»Gloria«, sagte Innes mit Grabesstimme. »Wäre Margot nicht hier, gäbe es viele Antworten, die ich dir auf deinen Vorwurf der moralischen Verderbtheit geben könnte. Um ihretwillen, und ausschließlich um ihretwillen beherrsche ich mich.«
In dem nun einsetzenden kurzen Schweigen war lediglich Glorias leichtes Keuchen zu hören. Die beiden bildeten ein sonderbares Tableau, fand Lexie. Ohne Ton, ohne Worte, ohne das Kind, das hinter ihnen stand, hätte man es für den Gipfel leidenschaftlicher Liebe halten können statt für das genau Gegenteil. Innes und Gloria sahen aus, als ob sie sich im nächsten Augenblick in wilder Umarmung vereinen wollten.
Innes gab als Erster nach. Mit zwei großen Schritten war er an der Tür und riss sie auf. »Es wäre wohl besser, wenn du gehst«, sagte er, den Blick auf den Boden geheftet.
Gloria wirbelte mit raschelnden Röcken zu Lexie herum, wie um sie sich ins Gedächtnis einzuprägen. Sie betrachtete sie von oben bis unten, strich sich die Haare glatt, rückte ihren Hut zurecht, hüstelte. Dann wirbelte sie zurück, packte den Arm ihrer Tochter und rauschte mit ihr zusammen an Innes vorbei.
Das Kopfnicken, mit dem er sich von dem Mädchen verabschiedete, glich einer angedeuteten Verbeugung. »Auf Wiedersehen, Margot. Ich habe mich gefreut, dich zu sehen.« Er bekam keine Antwort. Margot Kent schlich mit gesenktem Kopf hinter ihrer Mutter her.
Innes schloss die Tür. Er atmete tief ein und seufzend wieder aus, holte mit dem Fuß aus und trat gegen einen Papierkorb.
»Das«, sagte er, wie zu sich selbst, »war meine Frau. Meine geliebte bessere Hälfte. Was für ein Anblick, hm?« Er schlug einmal, zweimal mit der Hand gegen die Wand. Lexie sah tatenlos zu.
Innes schüttelte seine Hand aus, streckte die Finger. »Autsch.« Er klang überrascht. »Verdammt.«
Lexie ging zu ihm und fing an, seine Hand zu massieren. »Trottel«, sagte sie.
Er zog sie an sich. »Weil ich gegen die Wand geboxt habe?« Er presste seine Lippen in ihr Haar. »Oder weil ich diese Mänade geheiratet habe?«
»Sowohl als auch«, antwortete sie.
Er drückte sie. »Mein Gott«, sagte er. »Auf diesen Schreck muss ich was trinken. Wie steht’s mit dir?«
»Hm.« Lexie runzelte die Stirn. »Ist es nicht noch ein bisschen früh dafür?«
»Du hast recht! So ein Mist aber auch. Wahrscheinlich ist noch nirgendwo geöffnet.«
»Nein, ich meinte …«
»Wie spät ist es?« Er sah auf seine Uhr, klopfte seine Hosentaschen nach Kleingeld ab, pflügte sich mit den Fingern durchs Haar. »Das Coach and Horses? Nein. Nicht um diese Uhrzeit. Wir könnten es im French Pub probieren. Was meinst du? Verdammt.« Er fasste sie bei der Hand und riss die Tür auf. »Gehen wir.«
Sie marschierten die Bayton Street hinunter. Wo sie in die Dean Street mündet, blieb Innes stehen. Er sah nach links, er sah nach rechts. Er steckte sich eine Zigarette an. »Wir probieren es bei Muriel«, entschied er knurrig. »Sie schuldet mir noch einen Gefallen.«
»Wofür?«, fragte Lexie, aber da hatte Innes sich schon wieder in Bewegung gesetzt.
Minuten später saßen sie an einem Ecktisch im Colony Room, und Innes genehmigte sich einen Whisky. Die Vorhänge waren zugezogen, damit die Nachmittagssonne nicht hereinfiel, und auf einem Hocker neben der Tür ließ Muriel Belcher den Blick durch ihr Reich schweifen. »Was für eine Laus ist denn unserer Miss Kent heute über die Leber gelaufen?«, lautete ihre Begrüßungsfrage, als Innes hereingestapft kam.
Lexie sah zu, wie die bunten Fische im Aquarium über der Kasse einander umkreisten, und schrieb ihren Namen in Gin und Tonic mit einem Cocktailstäbchen auf den klebrigen Tisch. An der Theke saß ein Mann mit breitem, schiefem Gesicht, der laut und etwas herablassend auf einen anderen Mann einredete, den Innes als MacBryde begrüßt hatte. In der Ecke tanzte ein gut aussehender, hochgewachsener Mann allein zur Grammophonmusik. Eine alte Frau in einem schmuddeligen Mantel hockte, umringt von Tüten und Taschen, am Nebentisch und schlürfte vor sich hin brummelnd den Schnaps, den Innes ihr spendiert hatte.
»Du bist doch hoffentlich nicht darauf reingefallen?«, fragte Innes plötzlich.
Lexie sah von dem Cocktailstäbchen hoch. »Worauf?«
»Auf das melodramatische Getue.«
Lexie schwieg und tauchte das Stäbchen wieder in ihren Drink.
Innes zermalmte seine Zigarette. »Sie ist die perfekte Schauspielerin. Das siehst du doch, ja? Die Tränen und die Wutanfälle - alles Theater. Ihr geht es nur um das Spiel. Ich bin ihr völlig egal. Sie will bloß nicht als Verliererin dastehen. Sie kann den Gedanken nicht ertragen, dass ich mit dir zusammenlebe.«
Lexie schwieg noch immer.
»Ich bin ihr egal«, wiederholte Innes.
Lexie trank einen Schluck; warm verbreitete sich der Gin in ihrem Körper. Der tanzende Mann hatte eine neue Platte aufgelegt. Er drehte sich zu einer hektischen, rasanten Melodie im Kreis und ließ dabei den Kopf vor und zurück schnellen. »Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Aber ich.«
»Und wie sieht es mit Margot aus?«
Innes leerte stumm sein Glas. »Sie ist nicht von mir«, sagte er schließlich.
»Ganz bestimmt nicht?«
»Hundertprozentig nicht.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
Er blickte hoch, lächelte kurz, dann sah er wieder auf den Tisch. Er rollte das leere Glas zwischen seinen Händen. Die alte Frau nutzte die Pause, um sich hinüberzubeugen und ihm mit einer Tabaksdose unter der Nase herumzuklappern. »Dürfte ich Sie vielleicht um eine kleine Spende für einen durstigen Menschen bitten?«, fragte sie mit einem aufgesetzten Oberschichtsakzent.
Seufzend warf Innes einen Shilling in ihre Dose. »Bitte sehr, Nina«, sagte er. Dann wandte er sich wieder Lexie zu. »Als Margot geboren wurde, war ich zwei Jahre nicht zu Hause gewesen«, sagte er.
»Aber sie weiß nicht, dass du nicht ihr Vater bist?«
Innes strich ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr und zupfte sie wieder hervor.
»Innes.« Lexie zog den Kopf weg. »Wieso weiß sie es nicht?«
»Sie …« Innes brach ab. »Weil ich immer dachte, die Wahrheit wäre noch schlimmer für sie. Sie kann ja schließlich nichts dafür. Wenn ich sie verleugnen würde, hätte sie gar keinen Vater, und ein nutzloser Vater ist immer noch besser als gar keiner. Findest du nicht auch?«
»Ich weiß nicht. Wirklich nicht. Ich finde, sie sollte die Wahrheit erfahren.«
»Ach.« Mit einer abwehrenden Handbewegung stand Innes auf, um zur Theke zu gehen. »Ihr jungen Leute seid immer so versessen auf die Wahrheit. Dabei wird sie meistens maßlos überschätzt.«
014
Innes’ Ehe blieb für Lexie in weiten Teilen ein Rätsel. Er redete nicht viel über Gloria, und wenn doch, dann normalerweise nur, um zu fluchen und zu schimpfen und sich immer ausgeklügeltere Beleidigungen für sie auszudenken.
Lexie erfuhr nur die nackten Fakten: dass Innes bei Kriegsbeginn siebzehn Jahre alt war und sich seine Mutter Ferdinanda trotz dauernden Fliegeralarms weigerte, das Haus am Myddleton Square zu verlassen. Sie hielt mit ihrem Mädchen Consuela die Stellung, während Innes zur Schule ging. Und was haben sie gemacht?, fragte Lexie eines Abends, als sich das Fenster zu seiner Vergangenheit einen Augenblick lang öffnete. Gestickt, antwortete er. Und gebastelt - an der Wahrheit. Mit achtzehn ging er nach Oxford, um Kunstgeschichte zu studieren. Mit zwanzig wurde er zur Royal Air Force eingezogen.
Man stelle sich den zwanzigjährigen Innes im blauen Drillich vor, in Reih und Glied stehend, den schönen Künsten entrissen, in ein Ausbildungslager in der tiefsten Provinz verpflanzt. Er war kreuzunglücklich. Er hatte nicht das Naturell für die Luftwaffe, für den Krieg.
Das also waren die nackten Fakten. Aber viel blieb auch ungesagt, unbekannt. Lexie erfuhr zum Beispiel nie, wie Innes aussah oder was er trug, ob er saß, stand oder ging, als er Gloria kennenlernte.
Er war auf Fronturlaub, so viel ließ er einmal durchblicken. Es passierte in der Tate Gallery, bei den Präraffaeliten, vor Beatrice mit dem flammenden Haar. Stellen wir uns Gloria vor dem Gemälde der von ihrem Haar umflossenen Beatrice vor, schlichter gekleidet als gewöhnlich - denn es ist ja eine Gloria in Kriegszeiten -, in geschnürten Halbschuhen, einem praktischen Mantel. Sie trug vermutlich einen Seitenscheitel mit Außenwelle. Und knallroten Lippenstift. Vielleicht einen Schal. Eine Krokotasche über dem Arm.
Ob sie seine Gegenwart gespürt hat? Wie er sich immer näher an sie heranschob? Ob sie vielleicht den Kopf drehte, einmal nur und ganz schnell, um sich dann wieder dem Bild zuzuwenden? Das Gespräch begonnen hat sicher Innes. Womit könnte er es eröffnet haben? Mit einer Bemerkung über das Gemälde? Sie plauderten, schlenderten in den nächsten Saal, beratschlagten vielleicht, was sie sich noch anschauen wollten. Danach vielleicht ein Kännchen Tee und ein Stück Gebäck in der Cafeteria. Und dann vielleicht ein Spaziergang am Fluss.
Einen Monat später waren sie verheiratet. Auf Fragen nach dem Warum - Ob er in sie verliebt gewesen sei? Was er sich dabei gedacht habe? - reagierte Innes ausweichend und gereizt. Durchaus möglich, dass die Todesfalle Europa seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hatte, aber er sprach es nie aus. Er gab nicht gern zu, dass er sich vor irgendetwas fürchtete, wähnte sich unbesiegbar, durch nichts zu erschüttern.
Ferdinanda, die sich auf Enkelkinder freute, stellte ihnen das Souterrain ihres Hauses als Wohnung zur Verfügung. Die neue Schwiegertochter würde ihr Gesellschaft leisten. Lexie hat Ferdinanda nie kennengelernt - sie starb vor ihrer Zeit -, aber wir dürfen sie uns als eine hochgewachsene Frau mit stahlgrauem, straff nach hinten gekämmtem Haar denken, die, in ein seidenes Schultertuch gehüllt, in ihrem Salon (einem prächtigen Raum mit raumhohen Flügelfenstern, die auf den Platz mit seinen Bäumen und Bänken hinausführten) Hof hält, während Consuela, ihre treue Dienerin, Gloria Tee einschenkt.
Innes wurde kurz danach auf einen Stützpunkt in Norfolk versetzt. In der zweiten Woche wurde seine Maschine während eines Luftangriffs über Deutschland abgeschossen. Die gesamte Besatzung kam ums Leben, mit Ausnahme des Heckschützen Innes Kent, einundzwanzig, der seinen Fallschirm öffnete und wie ein Distelsamen ins Feindesland schwebte.
Aber natürlich war es kein friedliches Schweben wie bei einem Distelsamen, sondern ein rasend schneller, beängstigender Sturz, bei dem ihm die kalte Nachtluft ins Gesicht peitschte und ihm sein verwundetes Bein, in dem Teile des Flugzeugrumpfs und Knochensplitter vom zerschmetterten Schädel des zweiten Heckschützen steckten, Höllenqualen bereitete, während er wie eine Marionette an seinen Schnüren hing und ihm die Baumwipfel entgegenkamen.
Zwei Jahre, bis Kriegsende, wurde Innes in einem Gefangenenlager festgehalten. Über diese Zeit sprach er nie, da konnte Lexie ihn noch so listig fragen. »Das willst du nicht hören«, sagte er bloß. »Doch«, antwortete sie, aber er blieb fest.
Bekannt ist dagegen, dass sich Gloria bei seiner Rückkehr im ganzen Haus am Myddleton Square breitgemacht hatte. Ferdinanda war nicht mehr da, in ein katholisches Altersheim abgeschoben. Consuela war in den Londoner Kriegswirren verloren gegangen. Gloria hatte sämtliche Etagen ausgeräumt, Ferdinandas Kleider, Fotos, Straußenfederfächer, Hüte und Schuhe im Garten verbrannt. Der schwarze Kreis im Gras war noch immer zu sehen. Außerdem traf Innes dort ein vier Monate altes Kind und einen Anwalt namens Charles an. Als er mit seinem Schlüssel die Haustür aufsperrte, tauchte Charles, in den Morgenmantel von Innes’ Vater gehüllt, am oberen Ende der Treppe auf und verlangte zu wissen, wer er war.
Zwar sind die Einzelheiten der nun folgenden Szene nicht überliefert, doch dass Innes ausgesprochen beredt und wortgewaltig vom Leder ziehen konnte, wenn man ihn reizte, lässt sich denken. Wütende Schimpfkanonaden von Innes, Tränen und Gezeter von Gloria sowie verwirrte Zwischenrufe von Charles werden die Folge gewesen sein. Wie auch immer, Gloria willigte in eine Trennung ein, aber nicht in die Scheidung. Sie behielt das Haus am Myddleton Square und blieb mit dem Kind, Margot, dort wohnen. Irgendwo muss es Geld gegeben haben - auf Glorias Seite vielleicht? -, denn Innes kaufte sich eine Wohnung am Haverstock Hill und nahm Ferdinanda bei sich auf.
Sie ist das eigentliche Opfer dieser Geschichte. Als Innes bei ihr auftauchte, erkannte sie ihn nicht mehr. Gloria hatte ihr erzählt, Innes sei tot, im Kampf gefallen, vom deutschen Nachthimmel geschossen. Darin vor allem liegen Innes’ Hass und Bitterkeit gegen seine Frau begründet. Warum sie es getan hat? Das wusste nur Gloria, und sie sagte es nicht. Vielleicht glaubte sie, ihr junger Ehemann würde nicht wieder zurückkommen, oder sie fand Gefallen an dem schönen, großen Haus. Vielleicht schikanierte Ferdinanda sie. Oder sie tat es, weil sie, so lange sie mit ihrer Schwiegermutter unter einem Dach wohnte, das Kind nicht als Innes’ ausgeben konnte. Ferdinanda führte Kalender. Sie strich die Tage ab und rechnete aus, wie lange sie ihren geliebten Sohn nicht mehr gesehen hatte. Auf eine zwanzig Monate dauernde Schwangerschaft wäre sie niemals hereingefallen. Also musste sie aus dem Weg geschafft werden.
Die Nachricht vom Tod ihres Sohnes stürzte Ferdinanda in eine tiefe Umnachtung. Innes holte sie aus dem katholischen Heim und kümmerte sich um sie, bis sie starb. Sie sei, so beschrieb er es, ihm gegenüber stets höflich, aber distanziert geblieben. Sie redete ihn mit »junger Mann« an und erzählte ihm von ihrem Sohn, der im Krieg gefallen war.
Gloria litt darunter, dass Innes nun Lexie in seinem Leben hatte. Keine seiner anderen Frauengeschichten hatte ihr derart zugesetzt. Mal weinend, mal Geld fordernd tauchte sie in regelmäßigen Abständen in der Redaktion auf. Sie klingelte früh morgens an der Wohnungstür. Sie machte Innes in Treppenhäusern, Restaurants, Theaterfoyers und Kneipeneingängen tränenreiche Szenen, ihre Tochter immer stumm hinter ihr. Diese Heimsuchungen schienen in Wellen zu erfolgen: Manchmal mussten Lexie und Innes gleich zwei in einer Woche über sich ergehen lassen, manchmal ließ sich Gloria monatelang nicht blicken. Dann kam sie plötzlich mit klappernden Absätzen wieder die Bayton Street heraufgestöckelt. Sie schrieb Innes Briefe, in denen sie ihn beschwor, sich auf sein feierliches Gelöbnis zu besinnen. Innes riss sie in kleine Stücke und warf sie ins Feuer. Einen Sommer lang sah Lexie, wenn sie morgens das Haus verließ, oft die Tochter auf einer Gartenmauer hocken. Margot sagte kein Wort zu ihr, suchte keinen Kontakt, und Lexie behielt diese Begegnungen Innes gegenüber für sich. Einmal saß Lexie in der U-Bahn, und als sie von ihrer Zeitung hochblickte, saß ihr das Mädchen auf einmal gegenüber, einen Schultornister auf dem Schoß, die wässrigen Augen auf Lexies Gesicht geheftet.
Lexie stand auf und hielt sich an der Haltestange fest. »Was soll das?«, fragte sie leise. »Was willst du von mir?«
Das Mädchen sah an Lexies Schulter vorbei. Ihre wachsweißen Wangen verfärbten sich rot.
»Es nützt doch nichts, Margot«, sagte Lexie. Die Bahn schlingerte um eine Kurve, und sie musste sich festklammern, um nicht auf das Mädchen geschleudert zu werden. »Ich bin nicht schuld an dieser Situation. Das musst du mir glauben.«
Damit schien sie einen wunden Punkt berührt zu haben. Das Mädchen riss den Kopf hoch und packte seinen Tornister fester. »Aber ich glaube Ihnen nicht«, entgegnete sie. »Nein, ich glaube Ihnen nicht.«
»Ich gebe dir mein Ehrenwort, dass es nicht meine Schuld ist.«
Margot erhob sich. Der Zug lief in Euston ein. »Es ist ist Ihre Schuld«, fauchte sie. »Ihre Schuld. Sie haben ihn uns weggenommen, und das werden Sie mir noch büßen. Verlassen Sie sich darauf. Sie werden schon sehen.« Sie stieg aus und verschwand, und Lexie begegnete ihr erst Jahre später wieder.