Bei elsewhere herrschte Hochbetrieb - Lexie hatte Innes überredet zu expandieren, um mehr Werbung hereinzubekommen. Sie erhöhten die Zahl der Artikel und druckten nicht mehr auf minderwertigem Mattpapier. Die Seiten waren glänzend und leicht körnig, die Fotos größer. Als erste Kulturzeitschrift überhaupt hatten sie kürzlich sogar ein eigenes Ressort für Rock’n’ Roll geschaffen. Lexie hatte sich über Innes’ Bedenken hinweggesetzt und einen Kritiker aufgetrieben, einen jungen Mann, der am Royal College of Music Gitarre studierte. Die Zeitschrift war für ihre Zeit revolutionär. Da sie aber leider mit derselben Mitarbeiterzahl wie vorher auskommen mussten, standen sie ständig unter Druck und saßen abends meistens bis nach zehn an ihren Schreibtischen. In diesem Winter waren alle krank, die einen mehr, die anderen weniger. Einer von ihnen hatte sich eine Erkältung eingefangen und die übrigen damit angesteckt. In der Redaktion herrschte ein einziges Niesen, Schniefen und Husten.
Lexie musste an diesem Tag nach Oxford, um einen Dozenten zu interviewen, der einen erstaunlich gewagten Schlüsselroman über das Leben und Treiben in den heiligen Hallen der Gelehrsamkeit geschrieben hatte: ergraute Professoren und bebende Jungstudentinnen. Hektisch kramte sie ihren Stift, einen Schreibblock und ein Exemplar des Romans für die Zugfahrt zusammen. Bevor sie hinauseilte, blieb sie noch kurz bei Innes stehen, der gebückt über einer Fahnenkorrektur saß und sich die Ohren zuhielt. (Er sagte immer, bei dem Tohuwabohu in der Redaktion könne er sich nicht konzentrieren.)
»Wiedersehen.« Sie küsste ihn auf die Hand.
Er richtete sich auf und hielt sie zurück. »Wo willst du hin?«
»Nach Oxford. Weißt du nicht mehr?«
Er tippte sich mit dem Füllhalter an die Zähne. »Doch, doch«, sagte er. »Zu dem geilen Gelehrten. Viel Glück. Und pass bloß auf, dass auch immer schön ein Schreibtisch zwischen euch steht.«
Sie lächelte und gab ihm einen Kuss auf den Mund. »Wird gemacht.« Dann legte sie ihm besorgt die Hand an die Wange, fühlte seine Stirn. »Du bist ja glühend heiß«, sagte sie. »Ob du vielleicht Fieber hast?«
Er schüttelte sie ab. »Es geht mir gut, Weib. Hebe dich hinweg«, antwortete er hustend.
»Innes, meinst du nicht …?«
Er beugte sich wieder über die Fahnen. »Fort mit dir zum Hort des Geistes. Und komm mir heil wieder.«
Lexie drehte sich zu Laurence und Daphne um, die am anderen Ende des Zimmers gemeinsam über einem Artikel brüteten. »Passt ihr ein bisschen auf ihn auf?«, fragte sie. »Schickt ihn nach Hause, wenn es es ihm schlechter geht.«
Laurence hob den Kopf. »Machen wir«, sagte er. Beruhigt wandte sie sich zum Gehen. Als sie von der Tür aus noch einmal zurücksah, zündete sich Innes gerade eine Zigarette an, hängte sich seine Jacke über die Schultern und strich im Text eine Zeile durch.
Mit den Einzelheiten von Lexies Fahrt nach Oxford brauchen wir uns nicht länger aufzuhalten, weder bei dem aufgeblasenen Ego des Dozenten noch bei seinen plumpen Zudringlichkeiten. Dass ihr Zug auf der Rückfahrt Verspätung hatte und sie unterwegs schon einmal die Schilderung seiner Annäherungsversuche probte, weil sie sich schon darauf freute, Innes brühwarm davon zu erzählen, braucht uns im Detail ebenfalls nicht weiter zu interessieren. Sie sah sich mit ihm im Bett liegen, dem einzigen warmen Ort in der Wohnung in jenem Januar. Sie würde ihm heißen Whisky mit Honig einflößen, ihn warm zudecken und dafür sorgen, dass er sich ausruhte.
Obwohl es schon später Abend war, als sie in London ankam, fuhr Lexie als Erstes in die Redaktion, weil sie wusste, dass er dort auf sie warten würde. Es herrschte dichter Nebel. Auf dem Weg von der U-Bahnstation in die Bayton Street hätte sie sich ein paarmal fast verlaufen, und die Haare hingen ihr feucht ins Gesicht. Als sie vor dem Haus stand und durch das Fenster blickte, saß nur Laurence an seinem Schreibtisch. Innes’ Platz war leer. Sie war froh, denn das musste bedeuten, dass er nach Hause gegangen war.
Aber als sie hereinkam, sprang Laurence sofort auf und schnappte sich seine Jacke.
»Mein Gott, was für ein Tag«, sagte sie. »Ich …«
Laurence fiel ihr ins Wort. »Lexie, Innes ist im Krankenhaus.«
Eilig besprachen sie ihre finanzielle Lage. Lexie hatte genau neun Pence im Portemonnaie, Laurence noch weniger. Ob das für ein Taxi ins Krankenhaus reichen würde? Nein. Sie suchten nach der Portokasse. In Innes’ Schreibtisch wurden sie fündig. Die Kasse klapperte vielversprechend, aber sie war abgeschlossen.
»Wo kann er den Schlüssel versteckt haben?«, fragte Laurence. »Denk nach, du kennst ihn doch am besten.«
Sie überlegte. »Er muss auch irgendwo im Schreibtisch sein«, sagte sie. »Oder er hat ihn bei sich.« Sie machte sich über die nächste Schublade her, wühlte in Büroklammern, angebrochenen und halben Zigaretten, Papierfetzen mit Innes’Gekrakel. Sie förderte einen halben Penny zutage, den sie auf den Münzhaufen legte. Ihr Herz krampfte sich zusammen, ihre Hände zitterten. War er wirklich so unordentlich? Wozu brauchte ihre große Liebe so viele Büroklammern? Was stand auf diesen Zetteln? Innes im Krankenhaus, hatte Laurence gesagt. Und: Atembeschwerden, zusammengebrochen, Krankenwagen gerufen. Die Wörter schwirrten ihr im Kopf herum.
»Das ist ja lächerlich«, sagte sie schließlich, lief ins Hinterzimmer und holte einen Schraubenzieher. Sie hielt die Portokasse mit dem Fuß fest und rammte das Werkzeug unter den Deckel. Knackend sprang das Schloss auf. Es regnete Münzen, sie rollten über den Schreibtisch, den Stuhl, den Fußboden. Auf Händen und Füßen klaubten Laurence und sie hastig das Geld zusammen. Dann waren sie auch schon auf der Straße und hasteten zum Taxistand.
Im Krankenhaus rannten sie wieder, durch die Korridore, um die Ecken, die Treppen hinauf. Am Eingang zur Station stand eine Krankenschwester mit einem Klemmbrett.
»Wir möchten zu Innes Kent«, keuchte Lexie. »Wo liegt er?«
Die Schwester warf einen Blick auf die Ansteckuhr, die sie am Busen trug. »Die Besuchszeit ist seit einer halben Stunde zu Ende. Ich habe seine Schwester«, sie gab dem Wort eine sarkastische Betonung, »nun schon dreimal zum Verlassen des Krankenzimmers aufgefordert, aber sie sagt, sie geht erst, wenn seine Frau hier ist. Dann kann ich wohl davon ausgehen, dass Sie seine Frau sind?«
Als Lexie zögerte, sprang Laurence für sie in die Bresche. »Ja, das ist sie.«
Nun sah die Schwester ihn an. »Und wer sind Sie? Sein Großvater?«
Laurence, der schmächtige, hellhäutige Angelsachse, schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. »Sein Bruder.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Zehn Minuten«, sagte sie. »Länger nicht. Meine Patienten brauchen ihre Ruhe. Ich kann hier keinen Besucheransturm gebrauchen.« Sie zeigte ihnen mit dem Stift die Richtung. »Das vierte Bett links, und leise sein.« Während sie sich abwandte, murmelte sie: »Seine Frau? Dass ich nicht lache.«
Lexie schlüpfte zwischen den Vorhängen hindurch, die um das Bett herum zugezogen waren. Dahinter saß Daphne, und im Bett lag Innes. Er trug eine Sauerstoffmaske, seine Haare klebten ihm in der Stirn, seine Haut war gräulich weiß.
»Lexie.« Lautlos bewegte er die Lippen, und er lächelte. Sofort sprang sie aufs Bett, schlang die Arme um ihn und bettete ihren Kopf neben seinen. Sie bekam nur am Rande mit, dass sich Daphne und Laurence diskret davonstahlen.
»Was soll man dazu sagen?«, murmelte sie Innes ins Ohr. »Kaum dreht man dir mal für fünf Minuten den Rücken zu, landest du auch schon im Krankenhaus. Das war das letzte Mal, dass ich nach Oxford gefahren bin.«
Er legte ihr den Arm um die Taille. Mit der anderen Hand streichelte er ihre Wange, ihr Haar. »Wie war der geile Gelehrte?«, fragte er.
»Nicht der Rede wert«, antwortete sie. »Außerdem darfst du nicht reden.«
Innes nahm die Maske ab. »Mir geht es bestens«, sagte er rasselnd. »Macht nicht so viel Wind um mich. Ich hab’ nichts.«
»So hört es sich aber nicht an. Laurence sagt, du wärst zusammengebrochen.«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich hatte einen Augenblick … Schmerzen, aber es war nichts, wirklich nicht. Bloß eine kleine Rippenfellentzündung, heißt es. Morgen bin ich wieder auf dem Posten.«
Lexie schmiegte sich an ihn, legte ihm das Ohr auf die Brust, hörte das Bumm-wisch-bumm seines Herzens.
»Willst du prüfen, ob es noch schlägt?«, fragte er.
Das war zu viel für sie. Mit Tränen in den Augen klammerte sie sich an ihn. »Innes, Innes, Innes«, murmelte sie, wie eine Beschwörungsformel.
»Pst«, flüsterte er und strich ihr über das Haar.
»Mrs. Kent.« Plötzlich stand die Krankenschwester vor ihnen. »Die einzigen Menschen, die in diesen Betten liegen dürfen, sind meine Patienten. Was Sie hier tun, verstößt gegen jede Vorschrift. Ich muss Sie auffordern, das Bett auf der Stelle zu verlassen.«
Innes hielt Lexie fest. »Muss sie wirklich, Schwester? Wie Sie sehen, ist sie sehr schlank. Sie nimmt wirklich nicht viel Platz weg.«
»Ihre Statur ist irrelevant, Mr. Kent. Sie sind ein schwerkranker Mann, und ich muss Ihre Frau auffordern zu gehen. Und Sie!« Das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Sie haben Ihre Sauerstoffmaske abgenommen! Mr. Kent, Sie sind ein sehr ungezogener Mensch.«
»Das höre ich nicht zum ersten Mal«, seufzte Innes.
Als Lexie widerwillig aufstand, hielt er ihre Hand fest. »Muss ich wirklich gehen?«, fragte sie.
»Ja.« Die Schwester ließ sich nicht erweichen. Sie strich die Bettdecke glatt und legte Innes die Maske wieder an. »Sie können morgen wiederkommen, vierzehn Uhr.«
»Ginge es nicht auch vormittags?«
»Nein. Ihr Mann ist krank, Mrs. Kent. Er braucht Ruhe.«
Lexie bückte sich zu Innes und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Dann gute Nacht, mein Göttergatte«, murmelte sie.
Innes packte sie, zog sie zu sich herunter, riss sich die Maske wieder ab und küsste sie voll auf den Mund. Sie lösten sich voneinander, lächelten und küssten sich noch einmal.
»Mr. Kent!«, kreischte die Schwester. »Lassen Sie das! Auf der Stelle! Oder wollen Sie Ihre Frau mit Ihrer Rippenfellentzündung anstecken? Setzen Sie die Maske wieder auf.«
»Was für eine Zuchtmeisterin Sie sind«, sagte er. »Was für eine Domina. Hat Ihnen das noch nie jemand gesagt? Sie hätten einen wunderbaren General abgeben können.«
»Ich habe dafür Sorge zu tragen, dass Sie wieder gesund werden.« Sie riss die Vorhänge zurück. Lexie winkte noch einmal vom Ende des Korridors. Innes winkte zurück. Dann stritt er sich weiter mit der Schwester.
Am nächsten Tag trug er die Maske nicht mehr. Er saß aufrecht im Bett, einige Kissen im Rücken, einen Papierstapel auf dem Schoß. Als er Lexie sah, riss er sich die Brille von der Nase und klopfte neben sich aufs Bett.
»Schnell«, sagte er. »Mach den Vorhang zu. Bevor der Dragoner dich sieht.«
Lexie zog den Vorhang zu und setzte sich zu ihm. Sofort umarmte er sie und drückte sie an sich. »Warte«, sagte sie. »Ich muss dich erst mal ansehen.«
»Pech gehabt«, murmelte er. »Ich muss dich erst mal befummeln.« Seine Hände wanderten an ihrem Bein hinunter, fanden den Saum ihres Kleides und machten sich wieder auf den Weg nach oben.
»Innes«, murmelte sie. »Ich glaube, das ist hier nicht der richtige Ort.«
Er sah ihr in die Augen. »Ach, es ist so schön, dich zu sehen. Ich hatte eine grauenvolle Nacht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man in einem Krankenhaus wieder gesund werden soll. Erst kriegt man bei dem Geröchel und Geschnarche der ganzen alten Knacker ewig kein Auge zu, und wenn man dann endlich doch eingeschlafen ist, wird man keine Sekunde später von einer Schwester geweckt, die einem irgendwo ein Thermometer reinschieben will. Nicht zum Aushalten. Ich muss hier raus. Heute noch. Du musst mir helfen, sie zu überzeugen.«
»Das kannst du vergessen.«
»Warum?«
»Innes, du bist krank. Mit einer Rippenfellentzündung ist nicht zu spaßen. Wenn sie sagen, dass du noch hierbleiben musst, dann bleibst du und …« Sie brach ab und sah ihn an. »Wo hast du denn den Schlafanzug her?« Er trug einen blau-grau gestreiften Pyjama, den sie noch nie gesehen hatte. Er sah extrem sonderbar darin aus, als ob er sich den Körper eines anderen geborgt hätte.
»Den haben die da aus dem Hut gezaubert.« Er zeigte in Richtung Schwesternzimmer. »Ich muss hier raus, Lex. Ich muss arbeiten. Die Drucklegung der nächsten Ausgabe ist …«
»Musst du nicht. Wir schaffen das schon. Irgendwie muss es gehen. Du siehst erst mal zu, dass du wieder gesund wirst.«
Bevor er widersprechen konnte, wurde er von einem Hustenanfall geschüttelt. Während er japste, keuchte und nach Luft rang, hielt Lexie seine Schultern. Als der Anfall vorbei war, lehnte er sich in die Kissen zurück und biss sich auf die Lippe. Lexie kannte diesen Blick. Es war ein Blick der Wut und des Gescheitertseins. Er legte ihre Hand in seine.
»Ich liebe dich, du liederliches Weibsbild. Das weißt du doch, ja?«
Sie küsste ihn. »Natürlich. Und ich liebe dich auch.«
Er drehte den Kopf hin und her, als ob er es sich bequemer machen wollte. »Was sind wir doch für Glückskinder.«
»Wie meinst du das?« Seine Hände fühlten sich heiß und klamm an.
»Weil wir uns gefunden haben. Nach dem, was wir haben, suchen manche Leute ihr Leben lang.«
Nachdenklich drückte Lexie seine Hand. »Du hast recht. Wir sind Glückskinder. Und wir werden dafür sorgen, dass unsere Glückssträhne nicht reißt.« Sie rang sich ein Lächeln ab.
»Es hat dir doch nicht allzu viel ausgemacht, oder? Diese andere Sache?« Er starrte sie fragend an.
»Was für eine andere Sache?«
»Das mit dem Heiraten.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie bestimmt. »Ganz ehrlich nicht. Nein.«
Da lächelte er. »Gut.« Innes wälzte sich unruhig herum. »Aber trotzdem, ich dachte gerade …« Er griff hinter sich und versuchte, sich die Kissen zurechtzurücken.
Sie stand auf, um ihm zu helfen. »Was dachtest du?«
»Ich würde gern mit Clifford reden.«
»Clifford?« Sie drehte ihm den Rücken zu und schenkte ihm aus einem Krug ein Glas Wasser ein.
»Mein Anwalt.«
Sie drehte sich verwundert um. »Wozu denn das?«
Er wollte das Wasser nicht. »Deinetwegen.«
»Meinetwegen?«
»Ich mache mir Sorgen um dich. Was aus dir werden soll, wenn ich mal nicht mehr bin.«
»Innes!« Lexie knallte das Glas Wasser auf den Nachttisch. »Du wirst nicht …«
Er legte ihr den Finger auf die Lippen. »Pst«, flüsterte er. »Mein kleiner Knallf rosch.« Er grinste. »Der kleinste Funke und schon explodierst du.« Er zog sie zu sich aufs Bett. »Ich meine doch nicht unbedingt jetzt sofort. Ich meine irgendwann. Seit ich hier liege, beschäftigt mich dieser Gedanke. Ich habe noch nicht mal ein Testament gemacht. Dazu bin ich nie gekommen. Aber es wäre wichtig. Vor allem für dich. Sonst reißt sich Gloria alles unter den Nagel - das bisschen, was ich habe -, und du sitzt auf der Straße.« Er zwickte sie sacht ins Ohr, wickelte sich eine ihrer Haarsträhnen um den Finger. »Und das könnte ich nicht ertragen. Ich könnte nicht in Frieden ruhen. Ich wäre der unglücklichste Geist, der im Jenseits herumspukt. Du bist meine Frau und mein Leben. Das weißt du doch, ja?«
Sie hielt seine Hand fest und drückte einen wütenden Kuss darauf. »Du Vollidiot«, sagte sie. »Was soll denn dieses Gerede? Jetzt hast du mir die ganze Wimperntusche ruiniert.« Sie warf sich neben ihn, schmiegte sich an ihn und barg das Gesicht an seiner Brust.
»Rufst du Clifford für mich an? Seine Nummer steht in meinem Adressbuch. Clifford Menks.«
Sie stützte sich auf einen Ellenbogen. »Innes, hör zu. Du darfst nicht solche Sachen sagen. Das gefällt mir ganz und gar nicht. Du stirbst nicht. Jedenfalls nicht so bald.«
Er griente. »Ich weiß. Aber tu mir den Gefallen, und ruf ihn trotzdem an. Mir zuliebe. Sei ein braves Mädchen.«
020
Innes starb in derselben Nacht. Seine Rippenfellentzündung griff auf die Lunge über. Er starb um circa drei Uhr, an Fieber und Atemnot. Es war niemand bei ihm. Die Nachtschwester holte gerade einen Arzt. Als sie mit ihm zurückkam, war es zu spät.
Dass Innes, ihre große Liebe, allein gestorben war: Das sollte Lexie niemals verwinden. Dass sie geschlafen hatte, auf der anderen Seite der Stadt, in ihrem gemeinsamen Bett, als er seinen letzten Atemzug tat, als sein Herz aufhörte zu schlagen. Dass der Arzt nicht greifbar gewesen war, sondern in einem Zimmer am Ende des Ganges ein Nickerchen machte. Dass sie erfolglos versucht hatten, ihn wiederzuleben. Dass sie nicht da war, dass sie nichts wusste, dass sie nicht bei ihm sein konnte, in diesem Moment nicht und nie wieder.
Natürlich wurde sie nicht verständigt. Sie war ja nur die verbotene, heimliche Geliebte. Als sie um Punkt vierzehn Uhr unbeschwert im Krankenhaus eintraf, bewaffnet mit einem Veilchenstrauß, einer Zeitung, zwei Illustrierten und Innes’ Lieblingsschal aus Kaschmir, wurde sie von zwei Krankenschwestern abgefangen. Eine von ihnen war der Dragoner, den sie noch vom ersten Abend kannte.
»Leider muss ich Ihnen mitteilen, Miss …« - mit einer vielsagenden Betonung auf dem letzten Wort, als ob sie Lexie wissen lassen wollte, dass sie Bescheid wusste und vielleicht schon von Anfang an Bescheid gewusst hatte - »… dass Mr. Kent letzte Nacht verstorben ist.«
Lexie wären fast die hochglanzglatten Illustrierten aus der Hand gerutscht. Sie sagte: »Das kann nicht sein.«
Die Schwester sah zu Boden. »Aber es ist leider so.«
Sie sagte: »Nein.« Ganz selbstverständlich. Und noch einmal: »Nein.« Behutsam legte sie die Veilchen auf einen Tisch, die Illustrierten und die Zeitung daneben. Sie konnte nur einen klaren Gedanken fassen: Sie durfte jetzt nicht aus der Rolle fallen, musste höflich bleiben. Auf dem Tisch waren ein Glasfläschen, eine Zange und ein Deckel, der nicht auf das Fläschchen zu passen schien.
»Wo ist er?«, hörte sie sich sagen.
Als hinter ihr alles stumm blieb, drehte sie sich um. Beide Schwestern machten ein verlegenes Gesicht. »Seine Frau …«, begann die eine.
Lexie wartete.
»Seine Frau war da«, sagte die andere, die Lexies Blick noch immer mied. »Sie hat alles Nötige veranlasst.«
»Alles Nötige?«, wiederholte sie.
»Wie mit dem Leichnam verfahren werden soll.«
Lexie stand das Bild deutlich vor Augen. Wie Gloria auf die Station marschiert kam. Oder hatte man ihn inzwischen verlegt? Ja, das war in Krankenhäusern so üblich, dass man das Bett so schnell wie möglich für den nächsten Patienten herrichtete. Das hieß also, man hatte Innes in die Leichenhalle gebracht oder in ein anderes Zimmer. Sie sah Gloria in der Leichenhalle vor sich, die in ihrer Vorstellung in einem Keller untergebracht war. Stöckelnde Absätze, die Haare zur Turmfrisur hochbetoniert, die Hände mit Handschuhen gepanzert, das bleiche Kind im Schlepptau. Wie sie mit ihren gletscherkalten Augen den Leichnam inspizierte - ihren Leichnam, Lexies Leichnam, den Leichnam ihres Geliebten, ihres Schatzes. Wie sie sich dabei, vor allem aus Effekthascherei, ein Taschentuch an die Lippen presste. Ob sie wohl einen Hut mit Schleier getragen hatte? Höchstwahrscheinlich. Ob sie den Schleier angehoben hatte, um einen letzten Blick auf ihren Ehemann zu werfen? Höchstwahrscheinlich nicht. Ob sie ihn berührt, gestreichelt hatte? Lexie bezweifelte es stark. Wie lange war sie bei ihm geblieben? Hatte sie etwas zu ihm gesagt? Sie oder das Kind? Lexie sah sie wieder hinausgehen, sah, wie sie darum bat, das Telefon benutzen zu dürfen, um alles Nötige zu veranlassen.
»Darf ich ihn sehen?«, fragte Lexie die Schwestern. Während sie schnell ihre Sachen zusammensuchte, um gleich mitgehen zu können, drang ihr das Schweigen der Frauen ins Bewusstsein. Lexie lauschte ihm nach. Sie tastete es ab, prüfte seine Länge, seine Tiefe. Sie hätte die Zunge herausstrecken und es schmecken können. »Ich möchte ihn sehen«, sagte sie, für den Fall, dass die Schwestern nicht verstanden, sie nicht gehört hatten, dass sie sich nicht klar genug ausgedrückt hatte. Sie sagte sogar: »Bitte.«
Die Dragonerschwester machte eine Bewegung mit dem Kopf, eine Mischform aus Nicken und Kopfschütteln. Dabei schien irgendetwas in ihr zu zerreißen, denn plötzlich war ihre Stimme freundlich. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Nur Familienangehörige.«
Lexie schluckte. Zweimal. »Bitte«, flüsterte sie. »Bitte.«
Diesmal war das Kopfschütteln eindeutig. »Es tut mir leid.«
Da entfuhr ihr ein Laut, ein Schrei, ein Ruf oder ein Schluchzen. Lexie schlug sich die Hand vor den Mund, um den Laut zu ersticken. Sie durfte sich nicht gehen lassen, denn es gab Dinge, die sie wissen musste, und wenn sie weinte und schrie, würde sie die Antworten nie erfahren. Irgendwie war ihr klar, dass sie nur diese eine Chance hatte. Als sie den Laut sicher in sich eingekapselt hatte, sprach sie weiter. »Können Sie mir eine Frage beantworten? Nur eine einzige Frage. Ist er noch hier oder hat sie ihn mitgenommen?«
Die Schwester warf einen schnellen Blick auf ihre Kollegin. »Das kann ich nicht sagen«, sagte sie.
Lexie beugte sich zu ihr, als ob sie eine Lüge am Geruch erkennen könnte. »Sie können es nicht sagen, oder Sie wissen es nicht?«
Die andere Schwester machte eine kleine Bewegung auf Lexie zu. »Soweit ich weiß …« Sie hielt inne. Der Dragoner runzelte die Stirn. Ihre Kollegin zuckte mit den Schultern, sah Lexie an, holte tief Luft und sagte: »Soweit ich weiß, wurde Mr. Kents Leichnam bereits abgeholt. Um die Mittagszeit herum.«
Lexie nickte. »Danke. Vermutlich wissen Sie nicht, wohin man ihn gebracht hat?«
»Das weiß ich nicht.«
Und Lexie glaubte ihr. Hier gab es nichts mehr für sie zu tun. Sie nahm die Veilchen vom Tisch und legte sie sich in die Hand, in der sie noch immer Innes’ Schal hielt. Als ihr Blick darauf fiel, kam er ihr vor wie ein Artefakt aus einer anderen Zeit. Unmöglich, dass sie ihn vor gerade einmal einer Stunde für ihn aus dem Schrank genommen haben sollte, unmöglich, dass sie vor gerade einmal einer Stunde nicht gewusst hatte, dass er gestorben war.
Er war tot.
Die beiden Krankenschwestern verschwammen ihr vor den Augen. »Danke«, sagte sie, fest entschlossen, nicht die Beherrschung zu verlieren und sich zusammenzunehmen, bis sie draußen war. Sie konnte die Tür zu seinem Zimmer nicht ansehen, konnte nicht zu dem Bett sehen, in dem er gelegen hatte, in dem sie noch vor wenigen Stunden mit ihm gelegen hatte, und in dem er gestorben war, ohne sie. Sie stemmte sich gegen die Krankenhausluft, kämpfte sich den Gang entlang bis zum Ausgang und trat hinaus in die Stadt - allein.