Elina ist gespannt und aufgeregt. Heute
scheint alles zu passen. Die Wickeltasche steht gepackt neben der
Tür, die Waschmaschine ist ausgeräumt, die Hemdchen und Strampler
tanzen auf der Leine, sie hat gefrühstückt, Jonah hat getrunken,
die Sonne scheint, und es geht ihr gut. Es ist tatsächlich wahr: Es
geht ihr gut. Jonah ist in der Nacht nur zweimal gekommen, und sie
hat nicht das Gefühl, jeden Augenblick umzukippen. Sie hat sogar
ein wenig Farbe im Gesicht - nur einen Hauch, aber immerhin. Und
vorhin erst hat sie festgestellt, dass sie die Treppe bewältigen
kann, ohne auf halber Strecke eine Pause einlegen zu müssen. Sie
ist wieder gesund! Sie platzt fast vor Freude. Sie hat es sich in
den Kopf gesetzt, einen Spaziergang zu machen, zum ersten Mal seit
der Geburt bis ganz hinauf auf den Primrose Hill. Sie ist wild
entschlossen. Sie wird Jonah in den Kinderwagen legen, und sie
werden durch den Park gehen, den steilen Berg hinauf, durch die
Allee. Sie sieht es deutlich vor sich: Jonah mit seiner roten Mütze
und dem gestreiften Jäckchen, hübsch zugedeckt unter seiner
Sternendecke, und sich selbst mit Sonnenbrille und einem weißen
Hemd von Ted, wie sie zügig und kompetent den Wagen schiebt. Sie
hat an alles gedacht - Spucktücher, Windeln, Feuchttücher,
Sonnenschirm. Sie wird ein gleichmäßiges, stetiges Tempo
anschlagen. Wird sich im Sonnenschein über ihren Sohn beugen,
wird mit ihm reden. Die anderen Spaziergänger werden lächeln, wenn
sie sie sehen. Dieses Bild hat sie seit dem frühen Morgen im Kopf,
seit sie wach ist, seit sie gesehen hat, dass die Ränder des Rollos
in der Sonne orange leuchteten. Sie und er unter den Bäumen, durch
deren Blätter das Licht fällt und huschende helle Sprenkel auf die
Wege zaubert.
Nur kann sie leider ihren Schuh nicht finden. Ein
Sneaker steht in dem Regal neben der Haustür, aber der andere ist -
Gott weiß wo. Während Elina sich den einen Sneaker bindet, blickt
sie sich in der Diele gehetzt nach dem anderen um, denn sie weiß,
es ist ein Rennen gegen die Zeit. Der Abstand zwischen dem letzten
Stillen und dem nächsten wird immer kleiner. Sie schaut in der
Küche nach und unter dem Sofa, geht nach oben, sucht im Bad und im
Schlafzimmer. Doch der zweite Schuh ist nirgends zu finden. Sie
verwirft den aberwitzigen Gedanken, dann eben nur mit einem
loszugehen, reißt sich den partnerlosen Turnschuh vom Fuß und
schlüpft in zwei Flipflops, die sie unter dem Bett gefunden hat.
Die müssen reichen.
Sie läuft wieder nach unten, Jonah über der
Schulter. Anscheinend hat sie ihn zu stark geruckelt, denn er fängt
leise an zu krähen.
»Pst«, summt sie leise, »pst«, während sie ihn
vorsichtig in den Wagen legt und zudeckt. Aber kleine Kinder haben
kein Verständnis für Eile. Jonah sieht mit ängstlich kraus
gezogener Stirn zu ihr auf. »Nicht weinen«, sagt sie zu ihm, »nicht
weinen.« Dass sie die Tasche über den Griff hängt, scheint Jonah
noch mehr aufzuregen. Er verzieht das Gesicht, er schreit. Elina
schaukelt den Kinderwagen, während sie ihren Schlüsselbund vom
Haken nimmt, während sie den Wagen über die Schwelle wuchtet,
während sie ihn den Gartenweg hinunterschiebt.
Am Tor schreit Jonah immer noch. Als sie um die
erste Ecke biegt, schreit er noch lauter, strampelt seine Decke
weg, dreht den Kopf hin und her. Elina wird das Herz schwer. Sie
kennt dieses Weinen. So viel, immerhin, hat sie inzwischen gelernt.
Er hat Hunger. Er will trinken.
Am Eingang zum Park bleibt Elina stehen. Sie blickt
sich um. Sie sieht ihren Sohn an, der inzwischen richtige Tränen
weint und die Händchen verzweifelt zu kleinen Fäusten geballt hat.
Wie kann das sein, dass er schon wieder Hunger hat? Sie hat ihn
doch erst - wann? - vor einer Stunde gestillt. Sie streicht sich
die Haare aus dem Gesicht. Die Bäume im Park sind so nah. Ihre tief
nach unten reichenden Äste verlockend grün. Sie könnte ihn einfach
irgendwo auf einer Bank stillen, aber was, wenn es nicht klappt,
wenn er schreit und zappelt?
Sie beißt die Zähne zusammen, sie kippt den Wagen
auf die Hinterräder, dreht ihn um und schiebt ihn nach Hause.
Sie setzen sich ans Fenster, und er trinkt, zehn
Minuten lang, voll konzentriert. Sie legt ihn bäuchlings über ihre
Knie, weil er das nach dem Stillen gern hat, aber statt ein
Bäuerchen zu machen, schläft er sofort ein. Sie traut ihren Augen
nicht. Kann er wirklich eingeschlafen sein? Ist das möglich? Die
leicht geschlossenen Lider, das gespitzte Mündchen mit dem Daumen
daneben. Sie fasst es nicht: Er schläft. Keine Frage.
Wie eine Reisende, die ihre Heimat lange nicht mehr
gesehen hat, lässt sie den Blick umherschweifen. Ihr stehen so
viele Möglichkeiten offen, dass sie ganz übermütig wird. Sie könnte
ein Buch lesen, eine Freundin anrufen, eine E-Mail verschicken,
einen Brief schreiben, etwas zeichnen, Suppe kochen, Kleider
aussortieren, doch noch den Spaziergang
machen, fernsehen, in ihrem Kalender blättern, den Fußboden
wischen, die Fenster putzen, im Internet surfen. Sie kann machen,
was sie will.
Vorsichtig, ganz vorsichtig schiebt sie die Hände
unter ihn, die Finger unter seine Rippen, die Daumen unter seinen
Kopf. Er seufzt und schmatzt, aber er wacht nicht auf. Unendlich
behutsam beginnt sie ihn hochzuheben. Sofort heben sich flatternd
seine Lider, und ihm entfährt ein heiserer, leiser Schluchzer.
Elina legt ihn wieder hin. Jonah steckt den Daumen in den Mund und
fängt verzweifelt an zu nuckeln, als hätte sie ihn verraten und
verkauft. Sie rührt sich nicht, traut sich kaum zu atmen. Und
allmählich dämmert er wieder ein.
Tja, denkt sie, dann fällt der Spaziergang heute
also aus. Und du musst so lange hier sitzen bleiben, wie er
schläft. Aber es gibt Schlimmeres auf der Welt. Oder nicht?
Und während sie das denkt, kommt es Elina so vor,
als ob es nichts Schlimmeres gibt auf der Welt. Sie hat einen
solchen Drang, nach draußen zu gehen und etwas anderes zu sehen als
immer nur dieses Haus von innen, eine solche Sehnsucht, am
Geschehen teilzuhaben. Sie hat sich schon dabei ertappt, dass sie
Ted neidisch ansieht, wenn er von der Arbeit kommt, mitten aus dem
Leben der Stadt. Manchmal möchte sie sich neben ihn stellen und an
ihm schnuppern, um den Duft in sich einzusaugen, es spüren. Sie hat
den verzweifelten Wunsch, woanders zu sein - egal wo.
Ihr rastlos wandernder Blick fällt auf einen
gefalteten Zettel, der auf dem Sofa liegt. Sie greift vorsichtig
danach und streicht ihn glatt. Im ersten Moment glaubt sie, es sei
eine Einkaufsliste, in Teds Handschrift. Aber es ist keine
Einkaufsliste.
unzuverlässig,
Steine
derselbe Mann?
Name beginnt evtl. mit R
Drachen
Steine
derselbe Mann?
Name beginnt evtl. mit R
Drachen
Am Ende sind noch zwei Wörter, die Elina nicht
entziffern kann. Das eine fängt mit K an - »Katze« vielleicht? -,
und das andere könnte »glomm« oder »klamm« heißen. Auf der
Rückseite steht - durchgestrichen - E. fragen.
Elina dreht den Zettel wieder um. Sie liest ihn
immer wieder, von vorn nach hinten und von hinten nach vorn, um aus
den Wörtern einen Satz zu basteln oder eine Gedichtstrophe. Was ist
das für eine Liste? Warum hat Ted sie geschrieben? Meint er
unzuverlässig Steine oder unzuverlässig Lücke
Steine. Und was ist der Unterschied? Derselbe Mann,
aber welcher? Warum wollte er sie etwas fragen, und warum hat er es
sich anders überlegt? Kennen sie jemanden, dessen Name mit R
beginnt? Als sie sich noch einmal die Rückseite ansieht, fällt ihr
auf, dass der Zettel am Falz blau verfärbt ist: Ted muss ihn in der
Hosentasche seiner Jeans mit sich herumgetragen haben.
Wahrscheinlich ist er ihm gestern Abend herausgefallen, als er auf
dem Sofa saß. Sie liest ihn so lange immer wieder, bis die
Schleifen und Striche vor ihrem Augen flimmern, bis sie den ganzen
Kopf voll hat von unzuverlässigen Männern mit Steinen und
Drachen.
Während sie den Zettel ein paarmal auf- und wieder
zufaltet, steigt ein Gedanke in ihr auf. Beziehungsweise ein
Gefühl: Sehnsucht nach ihrer Mutter. Es überkommt sie so unerwartet
und ungebeten, dass sie fast laut lachen muss. Sie will ihre Mutter
sehen. Wann hat sie dieses Gefühl zum
letzten Mal gehabt? Vor zwanzig Jahren? Vor fünfundzwanzig? Im
Kindergarten? Als sie auf dem Schulweg von dem großen Mädchen in
die Brennnesseln geschubst wurde? Als sie mit ungefähr neun Jahren
zelten war und ihren Schlafsack vergessen hatte?
In den Schären ist es jetzt Mittsommer, Hochsaison
für die Pension ihrer Mutter. Die Zeit, in der die Kinder von Nauvo
im sandigen Wasser der Bucht schwimmen lernen, in der die
Eisenwarenhandlung an der Hauptstraße Spaten, Eimer und Angelruten
an die Urlauber aus Deutschland verkauft und an die Familien, die
für das Wochenende aus Helsinki heraufgekommen sind, in der der
Hafen mit Ständen gesäumt ist, an denen Strickmützen, Leinenschuhe
und T-Shirts mit der Aufschrift »Suomi« ausliegen.
Und ihre Mutter? Elina wirft einen Blick auf die
Wanduhr. Elf Uhr dreißig, das heißt, in Finnland ist es halb zwei.
Obwohl sie schon so lange fort ist und behauptet, die Pension und
ihre Bewohner, die Schären, die Kleinstadt, das ganze Land zu
hassen, obwohl sie so früh wie möglich davor geflohen ist, so weit
weg wie möglich, so oft wie möglich, trägt sie die heimatlichen
Rhythmen noch immer in sich. Jetzt serviert ihre Mutter gerade im
Garten das Mittagessen, auf nicht zueinander passenden Tellern mit
geriffelten Rändern. Für die Getränke gibt es verschiedenfarbige
Gläser in verschiedenen Größen. Wenn es ein Regentag ist, sitzen
die Gäste auf der Veranda. Sie sieht ihre Mutter vor sich, wie sie
mit wiegendem Gang gemächlich vier Teller aus der Küchen nach
draußen bringt, eine Schürze über dem unvermeidlichen Batistkleid,
die Augen hinter der Sonnenbrille mit den rosa Gläsern verborgen.
Wenn die Touristen bestellen wollen, fischt sie mit meditativer
Ruhe einen Stift, einen Block und ihre Lesebrille aus der
Schürzentasche und
geht anschließend mit ihrem wiegenden Gang wieder zurück in die
Küche, vorbei an der riesigen Buche und an der Skulptur aus
Maschendraht, Steinen und Muscheln, die Elina in der Schule
gebastelt hat und die sie heute nicht mehr ansehen kann.
Das Heimweh rinnt durch Elina hindurch, brennend
wie Whisky. Sie möchte, Jonah neben sich, mit dem Rücken an die
Buche gelehnt im Gras sitzen und ihrer Mutter beim Bedienen
zusehen. Und auf einmal weiß sie nicht mehr, was sie eigentlich
ganz allein hier in London will, wo sie doch dort sein könnte. Was
sucht sie hier? Warum ist sie weggegangen?
Ohne Jonah zu bewegen, streckt Elina vorsichtig,
ganz vorsichtig die Hand nach dem Telefon aus, das auf dem
Couchtisch liegt. Während das Freizeichen ertönt, stellt sie sich
vor, wie das Telefon, das dick und fett auf der Empfangstheke
thront, ihre Mutter ins Haus lockt, wie sie durch den Wintergarten
kommt und …
»Vilkuna«, meldet sich eine fremde Stimme.
Elina fragt nach ihrer Mutter; und der Fremde geht
sie holen. Dann nähern sich behäbige Schritte, in schlappenden,
hinten offenen Schuhen. Vor Sehnsucht schnürt es Elina die Kehle
zu.
»Aiti?«, sagt Elina. Sie ist selbst
überrascht, dass sie ihre Mutter so anredet. Das hat sie seit
Jahren nicht mehr gemacht. Seit sie ein Teenager war, hat sie immer
ihren Vornamen benutzt.
»Elina? Bist du das?«
»Ja.« Elina wechselt aufs Schwedische über, wie
ihre Mutter.
»Wie geht es dir? Was macht der kleine Mann?«
»Dem geht’s gut. Wächst und gedeiht. Er kann schon
lachen,
und er hat gerade angefangen …« Elina bricht ab. Ihre Mutter redet
mit gedämpfter Stimme mit jemand anderem, auf Finnisch
diesmal.
»… in den Garten. Ich komme gleich.«
Während Elina wartet, legt sie Jonah die Liste auf
den Rücken. Unzuverlässig, Drachen, derselbe Mann.
»Entschuldige«, sagt ihre Mutter. »Was wolltest du
gerade erzählen?«
»Störe ich? Soll ich später noch mal
anrufen?«
»Nein, nein. Es geht schon. Es ist bloß … Nein, es
geht schon. Du wolltest mir von Jonah erzählen.«
»Es geht ihm gut.«
Schweigen in der Leitung. Ob sie wieder mit
jemandem tuschelt? Oder ihm Zeichen gibt?
»Danke für die Fotos von ihm, die du mir geschickt
hast«, sagt ihre Mutter. »Wir haben uns so darüber gefreut.« Wir?,
denkt Elina. »Wir konnten uns nicht einigen, ob er eher auf dich
oder auf Ted rauskommt.«
»Ich finde, er ähnelt keinem von uns. Aber das kann
ja noch kommen.«
»Ja.«
Wieder eine Pause. In der Stimme ihrer Mutter
schwingt ein angespannter Unterton mit, als ob sie nicht allein
wäre.
»Ich kann es später noch mal probieren, wenn es
gerade ungünstig ist«, sagt Elina.
»Es ist nicht ungünstig«, sagt ihre Mutter leicht
gereizt. Ȇberhaupt nicht. Ich freue mich immer, wenn ich mit dir
reden kann, das weißt du. Wenn ich schon mal die Gelegenheit habe.
Du hast ja nie Zeit und …«
»Ich habe Zeit«, ruft Elina. »Ich hab nichts zu
tun. Mein Leben ist … Ich bin den ganzen Tag zu Hause … und nachts
auch. Und ich …« Sie möchte sagen, bitte, bitte, Aiti, ich
weiß nicht, was los ist, warum Ted mir entgleitet, und was ich
dagegen machen soll, kann ich bitte nach Hause kommen, jetzt
gleich?
Ihre Mutter spricht weiter. »Jussi hat vor ein paar
Tagen erzählt, dass seine Mädchen nach vier Wochen durchgeschlafen
haben, alle vier. Es gibt da anscheinend einen Elternratgeber
…«
Jussi - Elinas Bruder. Mit zusammengebissenen
Zähnen hört Elina sich die Ergüsse ihre Mutter an: über das Buch,
über frühkindliches Schlaftraining und über ihre vier Enkelinnen,
die nachts noch nie aufgewacht sind, bis heute nicht, über Jussis
Frau, die behäbige Hannele, die sich noch ein Kind wünscht, und
über Jussi, der nicht so recht weiß, was er davon halten soll,
genauso wie Elinas Mutter.
»Dann ist Jussi bei dir?«, fragt Elina.
»Ja!« Plötzlich hellt sich die Stimme ihrer Mutter
auf. »Die ganze Familie - den ganzen Sommer! Jussi hat das
Wohnzimmer gestrichen, und demnächst nimmt er sich die Veranda vor.
Die Mädchen und ich gehen jeden Morgen schwimmen - sie bekommen
Unterricht, du erinnerst dich an den Schwimmunterricht in der
Bucht? Jussi hatte die Idee, dass die Mädchen heute segeln gehen
könnten, und ich hab’ gesagt, dass ich später mit ihnen …«
Elina betrachtet Jonahs Fingernägel, die
geschnitten werden müssten. Sie wischt ein paar Krümel vom Sofa.
Sie entdeckt einen Fleck auf einem Kissen. Sie dreht das Kissen um,
damit man den Fleck nicht sieht. Sie nimmt die Liste von Jonahs
Rücken.
»Ich wollte dich etwas fragen …«, unterbricht sie
eine Lobeshymne auf die Meisterleistungen der zweitältesten Enkelin
auf der Querflöte. »War Dad … War er okay … nach unserer
Geburt?«
»Okay?«
»Oder ist er … ein bisschen sonderlich
geworden?«
»Sonderlich? Inwiefern?«
»Irgendwie - ich weiß auch nicht - geistesabwesend.
Verschlossen.« Elina wartet, das Telefon fest am Ohr, als dürfe sie
sich keinen Ton entgehen lassen.
»Warum willst du das wissen?«, fragt ihre Mutter
schließlich zurück.
Elina beißt sich auf die Lippen und seufzt. »Nur so
eine Frage«, antwortet sie. »Kein besonderer Grund. Was hältst du
davon, Aiti, wenn wir …, wenn wir vielleicht
rüberkommen?«
»Rüberkommen?«
»Nach Nauvo. Zu dir. Ich … Ich dachte mir, dass …
Na ja, weil du doch Jonah noch gar nicht kennst, und Ted würde die
Luftveränderung guttun und … Ich war schon ewig nicht mehr da.«
Wieder wird es still in der Leitung. »Wie fändest du das?«, hakt
Elina schließlich verzweifelt nach.
»Also, die Sache ist die. Jussi ist noch bis zum
Ende des Monats hier, und wenn er wieder nach Jyväskylä fährt,
lässt er die Mädchen bei mir. Ich hab sie zwei Wochen lang ganz für
mich alleine. Und ich glaube, dann kommt Hannele und holt sie ab.
Ich müsste nachsehen - ich weiß nicht genau, wann wir …«
»Schon gut. Es macht nichts.«
»Aber wir würden uns so freuen, wenn du kommen
könntest. Die Mädchen würden Jonah so gern sehen. Ich natürlich
auch.«
»Ist schon klar. War ja auch nur eine Frage. Dann
eben ein andermal.«
»Vielleicht im Herbst oder …«
»Ich muss Schluss machen.«
»Im September? Du darfst wirklich nicht denken,
dass ich dich nicht …«
»Ich muss auflegen. Jonah weint. Ich melde mich.
Ciao.«

Als Elina aufwacht, hat sie das Gefühl, höchstens
ein paar Minuten geschlafen zu haben. Es ist stockfinster, nur
durch die Fenster rechts von ihr dringt ein fahler orangefarbener
Schein ins Zimmer. Jonah weint, er ruft nach ihr. Eine halbe
Sekunde lang bleibt sie auf dem Rücken liegen; sie kann nicht
aufstehen, so wie Gulliver, nachdem die Liliputaner seine Haare am
Boden festgezurrt hatten. Dann hievt sie sich aus dem Bett, tastet
sich taumelnd zum Gitterbettchen und hebt Jonah heraus.
Beim Wickeln im Dunkeln stellt sie sich an, als ob
sie zwei linke Hände hätte. Jonah ist hungrig, er strampelt so
heftig, dass sie den Schlafanzug nicht mehr über seine Beinchen
bekommt. Als Elina versucht, sie sanft hineinzuschieben, brüllt er
vor Empörung.
»Okay«, sagt sie. »Dann eben nicht.« Sie setzt sich
mit ihm ins Bett, um ihn zu stillen.
Jonah trinkt. Langsam entkrampfen sich seine
Fäustchen, sein Blick wird dösig. Elina wandert zwischen Halbschlaf
und Halbwachsein hin und her: Sie sieht die Veranda ihrer Mutter in
Nauvo vor sich, sieht Jonahs rundes Köpfchen im Dunkeln, sieht das
glatte Wasser zwischen den Schären an einem windstillen Tag, sieht
ein Gemälde, an dem sie vor Jonahs Geburt gearbeitet hat, sieht die
Struktur der Leinwand unter einer dicken Farbschicht, sieht wieder
Jonah, der immer noch trinkt, sieht das Muster der einander
schneidenden Straßenbahngleise an einer Kreuzung in Helsinki, sieht
…
Plötzlich ist sie hellwach, zurück im Schlafzimmer.
Weil ihr kalt ist, denkt sie zuerst. Das Oberbett ist weg.
Ted sitzt kerzengerade im Bett, das Gesicht in den
Händen.
»Was hast du?«, fragt sie.
Er antwortet nicht. Sie legt ihm die Hand auf den
Rücken. »Ted? Was ist los?«
»Oh«, sagt er und dreht sich verstört zu ihr um.
»Oh.«
»Was ist passiert?«
»Ich hab …« Unsicher blickt er sich im Zimmer
um.
»Es ist mitten in der Nacht«, sagt sie, um seine
Verwirrtheit zu überspielen. »Erst halb zwei.«
Ächzend legt er sich wieder hin; er schmiegt sich
an Jonah und legt Elina die Hand auf die Hüfte. Sie kuschelt sich
an ihn, schiebt ihren Fuß zwischen seine Waden. »O Gott«, flüstert
er. »Ich hab geträumt - einen wirklich schlimmen Traum. Ich war
hier im Haus, und ich konnte irgendwo jemanden reden hören. Ich
habe überall nach dir gesucht, im ganzen Haus, und dich gerufen,
aber ich konnte dich nicht finden. Und dann bin ich ins
Schlafzimmer gekommen, und du hast auf dem Stuhl gesessen, mit dem
Rücken zu mir, mit Jonah auf dem Arm, und ich hab dir die Hand auf
die Schulter gelegt, und als du dich zu mir umgedreht hast, warst
du es gar nicht, es war jemand anderer, es war …« Er reibt sich das
Gesicht. »Es war fürchterlich. Vor Schreck bin ich
aufgewacht.«
Elina setzt sich hin, legt Jonah an ihre Schulter.
Er fühlt sich schlaff an, wie eine Stoffpuppe, und inzwischen hat
sie gelernt, dass das ein gutes Zeichen ist, dass es mehr Schlaf
bedeutet, für sich selbst und auch für ihn. Sie reibt ihm den
Rücken. »Das klingt ja schrecklich«, sagt sie leise zu Ted. »Was
für ein merkwürdiger Traum. Ich träume manchmal,
dass ich zum Kinderbettchen komme und Jonah ist verschwunden. Oder
dass ich den Wagen schiebe und er liegt nicht drin. Ich glaube, das
gehört zum Bindungsprozess dazu, dass man …«
»Hmm.« Ted starrt an die Decke. »Aber es war so
real, als ob …«
Jonah unterbricht ihn mit einem lauten
Bäuerchen.
»Komm«, sagt Ted und streckt die Arme nach ihm aus.
»Ich nehm ihn. Schlaf du weiter.«