Elina läuft die Treppe hinunter und macht die Haustür auf. Simmy steht davor, unter einem riesigen roten Regenschirm.
»Hi«, sagt er. »Wie geht es dir?«
»Jetzt schon viel, viel besser«, antwortet sie. »Ich bin ja so froh, dass du da bist.«
Er tritt in die Diele, schüttelt den Regenschirm aus. Die Tropfen fliegen, und Elina fühlt sich an einen Hund erinnert, der pitschnass aus einem See kommt. »Sauwetter«, sagt er und nimmt sie in den Arm.
»Vielen Dank, dass du gekommen bist.« Sie hält sich an seinem Ellenbogen fest. »Ich weiß nicht … Ich wusste nicht, was ich … Ich meine, ich will ihn nicht hierlassen, verstehst du, so ganz allein. Ich konnte doch nicht einfach weggehen und …«
Simmy nickt und klopft ihr beruhigend auf den Rücken. »Schon klar, schon klar. Das mach ich doch gerne. Jederzeit. Im Ernst.«
Aus dem Wohnzimmer kommt ein schrilles Quietschen. Elina wischt sich heftig eine Träne von der Wange. »Ich muss mal schnell …«
»Aber sicher doch«, sagt Simmy.
Jonah liegt im Wohnzimmer auf seinem Spielteppich. Er wälzt sich vom Bauch auf den Rücken und wieder zurück. Er hebt die Beinchen in die Höhe, lässt sie zur Seite fallen und dreht sich auf den Rücken. Und auf den Bauch. Dann das Ganze noch einmal von vorn, keuchend und ächzend vor Konzentration.
»Faszinierend«, murmelt Simmy. »Wie er sich anstrengt.«
»Ja, nicht wahr?«, sagt Elina. »Das hat er gestern den ganzen Tag gemacht und heute auch.« Sie macht eine Geste mit Daumen und Zeigefinger. »Nur so ein Stückchen fehlt noch, dann kann er krabbeln. Aber noch ist er nicht ganz so weit.«
»Es tut richtig weh, ihm zuzuschauen. Am liebsten würde man ihm helfen.« Er legt den Kopf auf die Seite. »Es ähnelt ein bisschen dem Springerzug beim Schach, findest du nicht? Vor und zur Seite. Vor und zur Seite.« Er klatscht in die Hände und sieht Elina fragend an. »Also erzähl schon, wie läuft es so bei euch?«
Elina seufzt. Sie setzt sich aufs Sofa, dann lässt sie sich auf den Boden rutschen, so dass sie neben Jonah kniet. »Er steht nicht auf«, sagt sie leise. »Er redet nicht, sagt kein einziges Wort. Er isst nichts. Ich kann ihn mit Müh und Not dazu bringen, dass er etwas trinkt. Manchmal ist er auch wach, aber er schläft fast den ganzen Tag und fast die ganze Nacht. Ich weiß nicht, was ich machen soll, Sim.« Sie kann ihn nicht ansehen. Sie hebt ein Spielzeug von Jonah auf, eine Rassel mit Glöckchen, und schüttelt sie. »Ich weiß nicht, ob ich den Arzt holen soll oder … oder … Aber was sollte ich ihm schon sagen?«
»Hmm. Haben sich denn Felix und - hat sich denn Felix mal gemeldet?«
»Er war da. Er ruft jeden Tag an. Manchmal sogar zweimal.«
»Und Ted will nicht mit ihm sprechen?«
Elina schüttelt den Kopf. »Sie war auch da«, flüstert sie. »Deswegen hat Ted dann …«
»Das Fenster eingeschlagen?«
Sie nickt und schluckt krampfhaft. »Es war furchtbar, Sim. Ich dachte, er würde …, er würde …«
Simmy schüttelt den Kopf. »Arme alte kleine My«, murmelt er.
»Ach was«, gibt sie zurück. »Armer Ted.«
»Ihr seid alle arme Schweine.«
Elina setzt sich Jonah auf die Hüfte. »Komm, wir gehen nach oben.«
Auf der Treppe dreht sie sich zu Simmy um. »Ich bleib nicht lange weg«, flüstert sie. »Höchstens eine Stunde, würde ich sagen. Ich weiß noch nicht mal, ob das, was ich vorhabe, richtig ist. Aber wenn es hilft …, wenn es ihm hilft.«
»Ist doch ganz klar«, sagt Simmy. Er kramt etwas aus seiner Jackentasche und drückt es ihr in die Hand. »Hier, ich leih dir meinen Wagen.«
Es sind seine Autoschlüssel. »Sim, es geht schon - ich kann doch auch ein Taxi nehmen.«
»Nein. Der Wagen steht vor dem Haus.« Er schließt ihre Finger um den Schlüssel. »Nimm ihn.«
Sie nickt und steckt den Schlüssel ein. »Danke«, sagt sie.
»Ist doch das Mindeste.«
Sie sind im ersten Stock angekommen.
»Ted?«, sagt Elina. In der offenen Schlafzimmertür zögert sie kurz. Auf dem Teppich liegt ein Lichttrapez, in der Mitte eine blaue Socke, wie ein Schauspieler im Rampenlicht.
»Ted?«, sagt sie noch einmal.
Er liegt im Bett, unter der Decke, zusammengerollt und mit dem Gesicht zur Wand.
»Ted, Simmy ist hier.«
Die geduckte Form im Bett bewegt sich nicht.
»Hast du gehört?«, fragt Elina. »Simmy will dich besuchen. Ted? Wie geht es dir?« Sie wirft Simmy einen Blick zu.
Er tritt ans Bett. »Ted«, sagt er, »ich bin’s. Hör mal, Elina muss kurz weg, und ich leiste dir so lange Gesellschaft. Ich hab Illustrierte, ich hab Tageszeitungen, ich hab was zu essen, und ich hab sogar einen Sechshundertseitenschmöker über eine Sträflingskolonie in der Hinterhand, damit es uns nicht langweilig wird.« Er lässt sich in einen Sessel sinken. »Sollen wir mit den Sträflingen anfangen? Oder steht dir der Sinn mehr nach leichterer Kost wie der aktuellen Wirtschaftslage?« Ohne eine Antwort abzuwarten klappt er den Roman auf und fängt an, mit einem künstlichen australischen Akzent vorzulesen.
Elina bleibt noch einen Augenblick bei ihnen stehen, dann beugt sie sich zu Ted hinunter und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Er hat die Augen geschlossen. Seine Bartstoppeln kratzen an ihren Lippen. »Bye«, flüstert sie. »Ich bin bald wieder da.«
043
Der Hausflur am Myddleton Square ist mit blauen und weißen Achtecken gefliest, ein geometrisches Muster, das sich von der Fußmatte an der Tür bis zur Treppe und darüber hinaus erstreckt, eine kubistische Impression von Licht auf Wasser.
Durch einige Fliesen am Fuß der Treppe zieht sich ein hässlicher Riss, über den sich Margot nicht selten ärgert. Sie redet manchmal davon, sie auswechseln zu lassen, ist aber nie dazu gekommen. Ende der Sechzigerjahre, als noch Gloria die Hausherrin war, wurden sie einmal mit Leim und Politur ausgebessert. Doch inzwischen haben sie sich wieder gelockert und klappern leise, wenn man darauftritt.
Auf diesen Fliesen stand Innes, als er aus deutscher Kriegsgefangenschaft zurückkehrte und oben auf dem Treppenabsatz einen Mann im Morgenrock seines Vaters erblickte, einen Mann, der ihn fragte: »Wer zum Teufel sind Sie?« Während er dort stand, wurde ihm schlagartig klar, dass es mit seiner Ehe aus und vorbei war und dass sein Leben wieder einmal eine unerwartete Wendung nehmen würde.
Dass die Fliesen beschädigt sind, ist Innes’ Schuld, auch wenn das von den derzeitigen Bewohnern des Hauses niemand weiß. An einem regnerischen Tag Ende der Zwanzigerjahre stibitzte der siebenjährige Innes ein Kuchenblech aus der Küche, schleppte es bis in den obersten Stock und fuhr damit wie auf einem Schlitten über den Teppichläufer die Treppe hinunter, von einer Etage zur nächsten, über die Berge und Täler der Stufen, bis er mit einem lauten Krachen unten im Flur landete. Beim Aufprall des Blechs auf den viktorianischen Fliesen entstand ein langer, schlangenförmiger Riss; Innes wurde nach vorn geschleudert und stieß mit der scharfen Kante des Kleiderständers zusammen. Auf seine Schreie hin kam Consuela aus der Küche gestürzt, und seine Mutter eilte aus dem Salon im ersten Stock herunter. An jenem Tag war viel Blut auf den Fliesen zu sehen, Lachen von Rot zwischen dem Blau und Weiß. Innes musste mit zwei Stichen an der Stirn genäht werden und behielt bis ans Ende seiner Tage eine kleine, senkrechte Narbe zurück.
Die achteckigen Fliesen führen an dem Waschraum vorbei, wo Elina kürzlich das Problem mit Jonah hatte, und sie enden am Eingang zur Souterrainwohnung, zu der eine enge, düstere Wendeltreppe hinunterführt. In der letzten Woche ist dort eine Glühbirne durchgebrannt, die Felix, in typischer Felixmanier, bis heute noch nicht ausgewechselt hat - falls ihm der Defekt überhaupt aufgefallen ist.
Unten in der Küche tropft ein Hahn; Wasserperlen fallen mit einem leisen Plick in die Porzellanspüle. Plick, macht es, mit beharrlicher Regelmäßigkeit. Plick. Laut genug, um den einzigen Menschen im Raum nervös zu machen.
Gloria sitzt in ihrem Rollstuhl vor der Terrassentür. Jeden Morgen kommt eine Pflegerin vom Gesundheitsdienst, um ihr aus dem Bett zu helfen, Frühstück zu machen und sie anschließend vor die Tür zu rollen, damit sie »ein bisschen an die Sonne kommt«. Gloria sitzt mit gesenktem Kopf da, die Augen auf das helle Metall ihrer Armlehnen geheftet. Sie sitzt an der Stelle, wo ihre Tochter vor langer Zeit mit Theo stand, während Felix am Ende des Gartens ein Lagerfeuer anzündete. Die Pflegerin hat Gloria in der Früh die Haare gebürstet, ihre Kopfhaut prickelt noch von den Borsten, und der tropfende Wasserhahn irritiert sie. Das Geräusch wirft ihre Gedanken aus der Bahn: Sie denkt an ein Telegramm, an den Boten, der an die Tür kam und sagte: Telegramm für Sie, Missis - PLICK -, sie denkt an eine Teekanne, die sie von ihrer Mutter geschenkt bekommen hat, ein schönes Stück mit einem Goldrand, der sich natürlich nicht lange hielt, weil die Putzfrau beim Spülen unbedingt einen Scheuerschwamm benutzen musste - PLICK -, sie denkt an einen Tagesausflug nach Clacton, bevor er in den Krieg zog, dass es an dem Tag nach Regen aussah und dass er, während er ihre Hand hielt, sagte, der Himmel sei chiaroscuro, was sie hinterher nachschlagen musste …
Gloria ist schon sehr lange ganz allein hier unten - auch wenn ihr Zeitgefühl nicht mehr das ist, was es einmal war. Aber wo sind die anderen Hausbewohner heute? Im Garten ist niemand. Die Schaukel schwingt leer hin und her. Auf der Oberfläche des Teichs spiegelt sich ein Stück vom Himmel. Die Bäume recken steif die Äste, aus denen sich frische Blätter hervorkräuseln.
Oben schlägt eine Uhr zwölf; Sekunden später antwortet ihr eine zweite mit einem helleren Ton.
Im Salon sitzt Margot neben dem Fenster in einem Sessel. Sie weiß es nicht, aber in diesem Sessel hat Ferdinanda am liebsten gesessen, wenn sie stickte. Es ist ein niedriger georgianischer Stillstuhl ohne Armlehnen mit zierlichen, kannelierten Beinen. Gloria hat ihn mit unvorteilhaftem tomatenroten Samt neu beziehen lassen. Wie es der Zufall will, steht er fast genau an derselben Stelle, wo er zu Ferdinandas Zeiten stand - schräg zum Fenster, zum Licht.
Margot weint schon den ganzen Morgen, mal mehr, mal weniger. Sie sitzt inmitten von Taschentüchern, den Kopf auf ihren Arm gelegt. Sie weint immer noch. Ihre Schultern zucken, ihr Gesicht ist verquollen und vom Kummer ausgelaugt.
Zwei Etagen über ihr, über den Schlafzimmern, oben auf dem Speicher, werden schwere Kisten herumgewuchtet und Möbel verrückt. Es hört sich so an, als ob jemand etwas sucht. Ein Krachen, ein Poltern, Flüche, eine Pause, wieder ein Poltern.
Margot schluchzt, greift zum nächsten Taschentuch, schnäuzt sich, schluchzt weiter, hält inne und atmet scharf ein. Felix steht in der Tür. Er hat eine uralte, staubige Schreibmaschine auf dem Arm.
»Felix«, sagt Margot mit bebender Stimme. »Das ist meine.«
»Ist sie nicht.«
»Sie hat meinem Vater gehört. Mutter hat es mir gesagt und …«
»Es war Lexies. Das weiß ich genau.«
»Ja, aber …«
»Und was ist mit den ganzen anderen Sachen?« Felix spricht so leise, dass sie ihn nur mit Mühe verstehen kann. Diese Stimme kennt sie. Er hat sie immer bei seinen Interviews mit besonders aalglatten Politikern benutzt. Eine eisige Ruhe liegt darin, eine giftige Höflichkeit. Es ist die Stimme, die dem Betreffenden und der Nation verriet: Ich hab dich am Wickel, jetzt entkommst du mir nicht mehr. Die Stimme, die ihn berühmt gemacht hat, vor all den Jahren.
Und jetzt schlägt er ihr gegenüber den gleichen Ton an. Margot schluckt und ihr steigen erneut die Tränen in die Augen. Sie nimmt ihren letzten Widerstandswillen zusammen. »Ich verstehe nicht, was du meinst«, antwortet sie.
»Das weißt du ganz genau«, sagt er mit seiner arktisch kalten Stimme. »Lexies Sachen. Wo sind sie?«
»Was denn für Sachen?«, fragt sie aufbrausend zurück. Aber sie weiß, dass er sie am Wickel hat, und sie weiß, dass er es weiß.
»Ihre Kleider, ihre Bücher, ihre Möbel. Die Briefe, die Laurence an Ted geschrieben hat, bevor er gestorben ist.« Er zählt ihr geduldig alles auf. »Was ich aus ihrem Haus geholt und auf den Dachboden gebracht habe.«
Margot zuckt mit den Schultern und schüttelt gleichzeitig den Kopf.
Felix stellt die Schreibmaschine ab. Er geht auf sie zu. »Soll das heißen, dass die Sachen weggekommen sind?«, murmelt er.
Margot hält sich das Taschentuch vors Gesicht. »Ich … Ich weiß nicht.«
»Das ist unfassbar«, sagt er, um ein, zwei Töne lauter. Sie hatte vergessen, dass das die nächste Stufe ist - dass seine Stimme scharf und herrisch wird, bevor er zum entscheidenden Schlag ausholt. »Unfassbar. Sie sind weg, nicht wahr? Du und deine Hexe von Mutter, ihr habt sie weggeworfen. Hinter meinem Rücken.«
»Schrei mich nicht an«, wimmert sie, obwohl Felix nie schreit. Das hat er gar nicht nötig.
»Sag mir eins.« Er beugt sich über sie. »Ist alles weg?«
»Felix, ich weiß wirklich …«
»Ich erwarte eine simple Antwort. Ja oder nein. Hast du alle Sachen weggeworfen?«
»Ich lass mich von dir nicht einschüchtern.«
»Ja oder nein, Margot.«
»Hör auf damit, bitte.«
»Komm schon. Wenn du dich traust, so etwas zu tun, dann traust du dich auch, es zu auszusprechen. Sag es: ›Ja, ich habe die Sachen weggeworfen. Alles, was da war.‹«
Schweigen. Margot knibbelt an einer Nagelhaut, wirft ihr Taschentuch auf den Boden.
Felix wendet sich ab und geht zum Fenster. »Ist dir klar, dass Elina auf dem Weg hierher ist? Dass ich sie gebeten habe zu kommen? Ich habe ihr gesagt, dass wir Lexies Sachen auf dem Dachboden haben. Dass wir sie Ted geben wollen, damit er sie sich ansehen kann. Das sei das Mindeste, was wir tun können, habe ich gesagt. Und wenn sie gleich kommt, um die Sachen abzuholen«, er dreht sich wieder zu ihr um, »ist nichts mehr da, weil du alles weggeworfen hast.«
Margot fängt wieder an zu schluchzen. »Es tut mir leid«, jammert sie. »Ich wollte das nicht … Ich …«
»Es tut dir leid. Du wolltest es nicht«, wiederholt Felix. »Soll ich das etwa Ted erzählen? Margot wollte die Sachen deiner verstorbenen Mutter nicht auf den Müll werfen, aber sie hat es trotzdem getan? Mein Gott«, faucht er. »Elina kann jeden Augenblick hier sein. Das musst du ihr schon selber sagen, dass wir bloß eine alte Schreibmaschine und ein paar verstaubte Gemälde gefunden haben, und wenn du schon mal dabei bist, kannst du ihr auch gleich verraten, warum.«
Margot erhebt sich halb aus dem Sessel. »Die Bilder gehören mir, Felix«, beginnt sie. »Sie haben Lexie nie gehört. Es waren immer meine Bilder. Ich habe mir nur genommen, was mir gehört.«
»Verschon mich mit deinem bornierten, raffgierigen …« Er bricht ab. Es hat geklingelt.
Felix macht Elina die Tür auf. Wie immer ist sie höchst ausgefallen gekleidet: ein langes Schlabberteil mit eingerissenen, ausgefransten Säumen, violette Strumpfhosen, mit Farbe bekleckerte Turnschuhe. Jonah hat sie im Tragetuch auf dem Bauch, wie ein kleines Beuteltier. Er ist wach. Als er Felix erblickt, strahlt er vor Freude und lacht. Was man von seiner Mutter nicht behaupten kann.
»Elina.« Felix tritt zur Seite, um sie ins Haus zu lassen. »Wie geht es dir, mein liebes Kind?«
»Ich …« Sie zuckt mit den Schultern und weicht seinem Blick aus. »Du kannst es dir denken.«
»Vielen Dank, dass du gekommen bist.«
Sie zuckt noch einmal mit den Schultern. »Ich hab nicht viel Zeit. Ich muss wieder zurück.«
Jetzt erst merkt Felix, dass er Teds Lebensgefährtin, die Mutter seines Enkelkindes, nicht wie sonst üblich mit einem Kuss auf die Wange begrüßt hat. Und nun ist es wohl zu spät dafür.
»Ja, natürlich.« Felix ballt ein paarmal die Fäuste. Das hilft ihm oft beim Nachdenken. »Wie geht es ihm denn?«
»Nicht gut.«
»Liegt er noch im Bett?«
»Ja.«
Felix stößt einen halblauten Fluch aus und sagt: »Es tut mir so leid.«
»Schon gut.«
»Würdest du … Würdest du ihm etwas von mir ausrichten?«
»Gern.«
»Sag ihm …« Er zögert. In diesem Augenblick Margot über sich und Gloria unter sich zu wissen, ist fast zu viel für ihn. »Sag ihm, dass es mir leidtut. Sehr leid. Alles. Sag ihm … Sag ihm, es war nicht meine Idee. Und dass ich nie damit einverstanden war.« Er seufzt. »Die beiden Frauen haben es zusammen ausgeheckt, und ich … Es klingt erbärmlich, ich weiß. Ich hätte damals ein Machtwort sprechen müssen, aber ich habe geschwiegen, und dafür muss ich die Verantwortung übernehmen. Es war ein furchtbarer, furchtbarer Fehler. Und … Und sag ihm, dass ich ihn gern besuchen würde. Wann immer er mich sehen will. Sag ihm, er soll mich anrufen. Bitte.«
Sie senkt den Kopf. »Mach ich.«
Jetzt gibt es für Felix kein Halten mehr, er kann nicht mehr aufhören zu reden. Er erzählt Elina von Lexie, wie er sie kennengelernt hat, wie er Theo an jenem Abend in Lyme Regis abgeholt hat, wie er auf dem Polizeirevier mit Robert Lowe aneinandergeraten ist und dass ein Polizist sie ermahnen musste, sich zu beruhigen und doch bitte, Gentlemen, an den Jungen zu denken. Er klammert sich an Elinas Arm und versichert ihr, dass er Lexie geliebt habe, mehr als jeden anderen Menschen, dass er Fehler gemacht habe, gewiss, aber dass sie seine große Liebe gewesen sei, ob sie das verstehe, ob sie das begreife? Elina hört ihm mit zweifelnder Miene konzentriert zu. Sie sieht auf den gefliesten Fußboden. Fährt mit der rot bekleckerten Schuhspitze über die Risse. Und dann sagt Felix ihr, dass die Sachen weg sind. Auf den Müll geworfen. Dass nichts mehr da ist. Nichts, was er Ted geben könnte.
Elina sieht ihm in die Augen, schüttelt sich den Pony aus dem Gesicht. Dann fragt sie: »Gar nichts?«
In diesem Moment fängt Jonah an zu schreien. Er strampelt in dem Tragetuch, macht den Rücken krumm, brüllt, bis er rot wird. Elina schaukelt ihn. Sie gibt tröstliche, schnalzende Laute von sich. Sie nimmt ihn aus dem Tuch und legt ihn sich an die Schulter.
»Nur eine Schreibmaschine. Und ein paar Bilder.«
Elina rubbelt Jonah den Rücken. Sie hat sich von Felix abgewandt und schuckelt den Kleinen, bis er aufhört zu weinen. Er sieht Felix über die Schulter seiner Mutter hinweg in gekränkter Empörung an. Tut mir leid, möchte Felix sagen, es tut mir leid. Er ist erfüllt von dem Drang, sich bei ihnen allen zu entschuldigen, bei einem nach dem anderen.
»Ich kann sie dir zeigen«, sagt er stattdessen. »Komm mit nach oben.«
Sie gehen in den ersten Stock. Auf dem Treppenabsatz steht die Schreibmaschine, dick eingestaubt, das Farbband trocken und brüchig. Bei ihrem Anblick überkommt Felix ein schwindelähnliches Gefühl. Plötzlich hat er ihre Geräusche genau im Kopf, das Klack-klack-a-klack mit dem die Metalltypen auf das Papier schlugen, oder wie sich das Farbband vor jedem Anschlag kurz anhob. Das Maschinengewehrfeuer, wenn die Arbeit gut lief. Die Unterbrechungen und Pausen, wenn Lexie nicht vorankam, wenn sie seufzte oder an ihrer Zigarette zog. Das Ding der Glocke, wenn der Wagen das Ende der Zeile erreichte. Das Surren, wenn die Seite herausgezogen wurde, das rollende Ratschen beim Einspannen der nächsten.
Er wendet den Blick ab und räuspert sich. »Das hier sind die Bilder. Ich glaube, ich habe alle gefunden. Schon möglich, dass irgendwo noch mehr herumliegen, aber die kann ich euch ja jederzeit …«
Zu seiner Überraschung übergibt ihm Elina das Kind.
»Hoppla«, sagt er, packt den Jungen unter den Achseln und hält ihn in der Luft. Jonahs Füßchen beschreiben Kreise, als ob er auf einem eingebildeten Fahrrad in die Pedale tritt. Er sieht über Felix’ Kopf hinweg, mustert sein Ohr, schaut auf den Boden; er legt den Kopf nach hinten, um die Decke zu betrachten.
»Dschabba dschabba uii«, sagt Jonah.
»Recht hast du, alter Knabe«, sagt Felix.
Elina wischt sich die Hände an ihrem Kleid ab und kauert sich neben die Bilder, die an der Wand lehnen. Sie sieht sich das vorderste an - ein Durcheinander aus Dreiecken in düsteren Farben, das Felix noch nie besonders gefallen hat - klappt es vorsichtig nach vorn und sieht sich das nächste an und das nächste und das nächste. Dabei runzelt sie ununterbrochen die Stirn, als ob ihr etwas missfällt. Vielleicht will sie diese staubigen alten Schinken gar nicht im Haus haben, denkt Felix, aber er findet, ein bisschen Interesse könnte sie trotzdem zeigen, schließlich ist sie doch selbst Malerin und …
Und schon erwartet ihn die nächste Überraschung, denn sie sagt: »Ich kann sie nicht mitnehmen.«
»Aber du musst, mein Kind.« Felix bleibt fest. »Sie sind Teds rechtmäßiges Eigentum. Sie haben Lexie gehört. Sie hingen in dem Haus, wo er gewohnt hat, als …«
»Nein«, fällt Elina ihm ins Wort. »Ich meine etwas anderes: Ich kann sie nicht mitnehmen.«
Felix sieht sie verdutzt an. Was für ungewöhnlich große Augen sie doch hat in ihrem blassen Pierrotgesicht. In dem trüben Dielenlicht wirken sie größer als je zuvor. »Ich kann dir leider nicht ganz folgen. Es waren Lexies Bilder. Sie gehören jetzt Ted. Vielleicht möchte er sie haben.«
»Hast du eine Vorstellung …« Sie bricht ab. Fasst sich an die Stirn. »Felix, diese Bilder sind ungeheuer wertvoll.«
»Tatsächlich?«
»Wertvoll ist gar kein Ausdruck. Ich habe keine genaue Vorstellung, was sie wert sind, aber sie gehören - ich weiß auch nicht - ins Museum. In eine Galerie.«
»Nein«, entgegnet Felix. »Ich möchte, dass Ted sie bekommt. Sie gehören ihm.«
Sie reibt sich das Gesicht, denkt nach. »Ich verstehe«, sagt sie. »Ich verstehe, warum du das möchtest. Aber … die Sache ist die … Wir können nicht …« Aufgeregt verfällt sie sekundenlang in eine Fremdsprache, Finnisch vermutlich, wendet sich, halblaut vor sich hin murmelnd, den Bildern zu und wieder von ihnen ab. »Und jetzt könnte ich sie sowieso nicht mitnehmen«, sagt sie schließlich.
»Aber …«
»Felix, ich kann diese Gemälde nicht einfach in Simmys Kofferraum packen. Sie sind … Sie brauchen eine richtige Transportverpackung. Eine Versicherung. Wir müssen eine qualifizierte Kunstspedition damit beauftragen.«
»Ja?«
»Ja. Wenn du möchtest, suche ich dir eine heraus. Ich weiß nur nicht …« Sie nimmt ihm das Kind ab. »Ich weiß nicht, was Ted dazu sagen wird.« Sie sieht ihren Sohn an, rückt ihm die Mütze zurecht. »Ich muss weiter«, murmelt sie.
Felix bringt sie nach unten, hinaus auf die Straße, in den klaren Sonnenschein. Während sie Jonah in den Kindersitz schnallt, stellt Felix die Schreibmaschine auf den Beifahrersitz.
Sie stehen auf dem Bürgersteig und sehen sich an.
»Sag ihm«, stammelt Felix. »Sag ihm …«
Sie nickt. »Ich sag’s ihm.«
»Und du besorgst mir die Nummer von dem Spediteur?«
Sie nickt noch einmal.
Felix küsst sie erst auf die eine, dann auf die andere Wange. »Danke«, murmelt er.
Sie legt die Arme um seinen Hals und umarmt ihn mit überraschender Herzlichkeit. Damit bringt sie ihn so aus der Fassung, dass es ihm die Kehle zuschnürt. Er klammert sich an die schmale Gestalt, an die Freundin seines Sohnes, und er muss die Augen zukneifen, weil ihm die Frühherbstsonne in die Augen sticht.
Noch lange nachdem sie losgefahren ist, spürt er ihre Umarmung. Felix starrt auf die Kurve, hinter der ihre Rücklichter verschwunden sind, als ob er darauf wartet, dass sie zurückkommt, als ob er den Bann nicht brechen will.
044
Elina steht in der Pentonville Road im Stau. Die Autoschlange vor ihr liegt da wie ein Gletscher aus Chrom und Glas, in den an den Kreuzungen stockende Verkehrsnebenflüsse münden. Sie wirft einen Blick nach hinten. Jonah ist eingeschlafen, der Daumen hängt ihm im Mund. Sie schaltet das Radio ein, aber das Einzige, was herauskommt, ist ein einsames Statikgestöber. Sie dreht ein bisschen an den Knöpfen und findet hin und wieder das Piepsen einer undefinierbaren Stimme, die gegen das Schneerauschen ankämpft. Mehr nicht. Sie macht das Radio wieder aus. Sie wirft einen Blick auf die Schreibmaschine, nimmt die Hand vom Lenkrad und legt sie kurz auf das Metallgehäuse. Streicht mit den Fingerspitzen über die Tasten, über die Walze, durch die Kuhle, wo die Typenhebel auf Anweisungen warten. Sie sieht wieder auf die Straße, auf die Ampel, die sinnlos von Rot auf Gelb auf Grün und wieder zurück springt. Sie wirft noch einen Blick auf die Schreibmaschine, sieht nach Jonah, beobachtet, wie der Wind die Äste einer Platane erfasst, die Blätter abschüttelt und auf die Autos niederregnen lässt. Ein Blatt fällt auf ihre Windschutzscheibe, genau vor ihr Gesicht, und während sie darauf starrt, auf das Adernetz und das wächserne Grün und den starren Stiel, kommt ihr eine Idee.
Elina sieht auf ihre Uhr. Sie kramt ihr Handy aus der Tasche und ruft Simmy an. »Wie geht es ihm?«, fragt sie. »Kannst du noch ein bisschen länger bleiben?« Dann blinkt sie, wendet und biegt in eine leere Straße ein.
Sie bleibt mehrere Stunden weg. Sie ist so in ihre Unternehmung vertieft, dass sie sich ein Strafmandat wegen Falschparkens einhandelt, das sie achtlos in ihre Handtasche stopft. Als sie nach Hause kommt, ist alles still. Sie hat das Gefühl, Tage und Wochen fort gewesen zu sein, nicht nur Stunden. Die Tasche quer über dem Leib und Jonah auf der Hüfte geht sie die Treppe hinauf. »Hallo?«, ruft sie. »Ich bin wieder da.«
Oben wartet Simmy auf sie.
»Wie ist die Lage?«, flüstert sie.
»Gut. Er hat geschlafen, aber ich glaube, jetzt ist er wach. Ich bin gerade auf dem Weg nach unten, um uns eine Tasse Tee zu machen. Trau dich ruhig rein.«
Elina geht ins Schlafzimmer. Ted liegt im Bett, fast noch genauso, wie sie ihn verlassen hat, die Bettdecke über sich gebreitet. Zusammengerollt, mit dem Gesicht zur Wand.
»Ted?«, sagt sie. »Entschuldige - es hat länger gedauert, als ich dachte. Wie war es mit Simmy? Es ist ein wunderschöner Tag draußen.«
Sie setzt sich aufs Bett, legt Jonah mit seiner Lieblingsrassel auf den Boden.
»Ted«, sagt sie. Sie weiß, dass er nicht schläft. Das erkennt sie an seinen flachen Atemzügen. Aber er bewegt sich nicht.
Sie rutscht weiter aufs Bett, zieht die Tasche hinter sich her.
»Weißt du was?« Sie legt ihm die Hand auf die Seite. »Ich habe herausgefunden, dass Ted gar nicht dein richtiger Name ist. Sie hat dich anders genannt.«
Sie wartet ab. Obwohl er nicht antwortet, weiß sie, dass er ihr zuhört. Sie fördert einen Packen Papier aus ihrer Tasche zutage. »Ich war im Zeitungsarchiv. Es war unglaublich - wie mir alle geholfen haben. Ich habe alles Mögliche herausbekommen.« Sie breitet die Papiere auf dem Bett aus. »Lexie war Kunstkritikerin. Sie hat Artikel über Picasso, Hopper, Jasper Johns, Giacometti geschrieben. Sie kannte Francis Bacon und Lucian Freud persönlich. Und John Deakin - die ganze Gruppe. Sie hat Yves Klein und Eugene Fitzgerald und Salvador Dalí interviewt. Sie war in New York mit Andy Warhol essen. Hast du gehört? Mit Andy Warhol. Und …« Elina blättert in den Papieren, sie sucht nach einem bestimmten Artikel. »Und irgendwann war sie sogar in Vietnam. Kannst du dir das vorstellen? Es gibt einen Artikel von ihr über das Leben in Saigon während des Krieges. Irgendwo hab ich ihn, ich kann ihn nur gerade nicht finden. Vielleicht hat sie so deinen Vater kennengelernt. Du könntest ihn natürlich auch fragen. Jedenfalls hat sie hunderte, hunderte von Artikeln geschrieben. Und ein paar davon hab ich mitgebracht. Für dich. Ted? Möchtest du sie sehen? Hier.« Sie nimmt eine Handvoll, beugt sich über seine reglose Gestalt, legt sie neben sein Gesicht. Er hat die Augen geschlossen. Seine Lippen sind trocken und rissig, als ob er schon lange nichts mehr getrunken hat. Unten geht Simmy in der Küche hin und her, macht den Kessel voll. Das Wasser rauscht in den Leitungen.
»Ted?«, sagt sie noch einmal, und weil sie ihrer Stimme anhört, dass sie den Tränen nah ist, atmet sie einmal tief durch. »Hier ist ein Foto von ihr auf einem Balkon. Siehst du? In Florenz, steht da. Schau mal. Da ist sie älter als auf dem anderen Foto. Bitte, Ted, sieh her.« Elina legt ihre Wange auf seinen Arm. »Bitte.«
Sie setzt sich auf und blättert noch einmal in den Papieren. »Und weißt du, was das Schönste ist?« Jetzt kann sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie hinterlassen dunkle, transparente Kreise auf den Fotokopien. Unwirsch wischt sie sie weg, rubbelt sich die Wangen mit dem Ärmel trocken. »Sie hat über dich geschrieben.«
Elina findet die Seiten, die sie gesucht hat - jetzt fällt ihr wieder ein, dass sie sie im Archiv extra zusammengeheftet hat. »Sie hatte eine Kolumne. Die hieß ›Neues von der Mutterfront‹.« Sie holt tief Luft. »Darin geht es um dich. Möchtest du es hören?«
Sein Arm zuckt, und sie hält den Atem an. Ob er sich bewegen wird? Ob er etwas sagen wird? Die Hand wandert nach oben, er kratzt sich am Hinterkopf. Aber er schweigt.
»Hier ist die erste Kolumne«, sagt Elina. »Ich hab sie chronologisch geordnet. Hör zu. ›Während ich schreibe, liegt mein Sohn neben mir und schläft. Er ist seit zweihundertfünfzehn Tagen auf der Welt. Er und ich haben nur ein Zimmer, in dem wir wohnen. Er besitzt drei Zähne und zwei Namen: Theodore, so heißt er bei der Mütterberatung, und Theo, so nenne ich ihn.‹«
»Hast du das gehört?« Elina lässt die Blätter sinken und fasst nach seiner Hand. »Sie hat dich Theo genannt.«
Er rührt sich unter der Decke. Er dreht den Kopf hin und her, hat die Augen geöffnet. Er drückt ihre Hand, und er spricht die ersten Worte seit einer Woche. »Weiter, El«, sagt er. »Weiter.«
Und sie liest weiter.