Als Gunvald Larsson abends sein Arbeitszimmer im Polizeigebäude in der Kungsholmsgatan verließ, zeigte die Uhr halb elf, und er hatte nicht die geringste Absicht, ein Held zu werden. Denn nach Hause fahren, duschen, Schlafanzug anziehen und zu Bett gehen war ja wirklich keine Heldentat. Voller Vorfreude dachte er an den Schlafanzug. Den hatte er sich am gleichen Tag gekauft, und die meisten seiner Kollegen hätten wohl ihren Ohren nicht getraut, wenn sie erfahren hätten, was er dafür bezahlt hatte. Eine unbedeutende dienstliche Angelegenheit hatte er noch zu erledigen, länger als fünf Minuten würde das kaum dauern. Er dachte an den Schlafanzug, zwängte sich in seinen bulgarischen Schafpelz, knipste das Licht aus, schlug die Tür hinter sich zu und ging. Der altersschwache Fahrstuhl, mit dem er ins Erdgeschoß fahren wollte, war wie üblich nicht in Ordnung, und Gunvald Larsson mußte zweimal kräftig auf den Boden stampfen, ehe er sich in Bewegung setzte. Gunvald Larsson war einszweiundneunzig groß, wog über hundert Kilo, und wenn er stampfte, saß Kraft dahinter.
Draußen war es kalt und windig, und trockener Schnee wirbelte durch die Luft. Gunvald Larsson eilte die wenigen Schritte bis zu seinem Wagen.
Gunvald Larsson fuhr über die Västerbron und blickte gleichgültig nach links. Er sah das Stadthaus mit den Punktstrahlern, die auf die drei goldenen Kronen der Turmspitze gerichtet waren, und Tausende von anderen Lichtern in der Innenstadt, die im einzelnen kaum zu unterscheiden waren. Von der Brücke fuhr er geradeaus zum Hornsplan, bog nach links in die Hornsgatan ein und dann bei der U-Bahn-Station Zinkensdamm nach rechts ab. Auf dem Ringvägen fuhr er in südlicher Richtung, bremste aber schon nach fünfhundert Metern und hielt an.
An dieser Stelle gibt es so gut wie keine Häuser, obwohl man sich immer noch mitten in Stockholm befindet. Von der Straße aus nach Westen erstreckt sich ein Park, Tantolunden, und an der Ostseite befindet sich ein steiler Hügel, ein Parkplatz und eine Tankstelle. Zwischen dem Berg und der Tankstelle führt eine schmale Straße hindurch. Sie heißt Sköldgatan und ist eigentlich keine richtige Straße, mehr eine Art Feldweg, der aus unerfindlichen Gründen übriggeblieben war, als die Städteplaner, ohne nachzudenken, diesen wie die meisten anderen Stadtteile völlig umgekrempelt und dabei die ursprünglichen Schönheiten und Eigenarten zerstört hatten.
Ein Stückchen holprigen Weges, weniger als dreihundert Meter lang, das den Ringvägen und die Rosenlundsgatan verbindet und auf das sich nur selten ein Taxi oder ein Streifenwagen der Polizei verirrt. In den Sommermonaten wuchern hier üppig blühende Sträucher und Unkräuter, und trotz des Verkehrslärms auf dem Ringvägen und der Eisenbahnzüge, die nur fünfzig Meter entfernt vorbeidonnern, versammelt sich hier die ältere Generation der von der Gesellschaft Abgeschriebenen in relativer Ungestörtheit und widmet sich den Wermutflaschen und Wurstenden oder vertreibt sich die Zeit mit abgegriffenen Spielkarten. Im Winter hält sich niemand freiwillig dort auf.
Doch an diesem Abend, am 7. März 1968, stand ein Mann zwischen den kahlen Büschen auf der Südseite des Weges. Er fror entsetzlich, und das beeinträchtigte natürlich sein Beobachtungsvermögen. Er hatte den Auftrag, das einzige Wohnhaus in dieser Straße, ein altes zweistöckiges Holzhaus, zu überwachen. Noch vor wenigen Minuten hatte Licht in zwei Fenstern des oberen Stockwerks gebrannt, und er hatte Musik, grölenden Gesang und hin und wieder lautes Lachen gehört, aber jetzt war kein Licht mehr zu sehen, und das einzige, was er hörte, war der Straßenlärm, den der Wind von weitem herantrug. Der Mann im Gebüsch stand nicht freiwillig auf seinem Platz. Er war Polizist und hieß Zachrisson und hatte nur einen Wunsch: möglichst bald abgelöst zu werden.
Gunvald Larsson stieg aus dem Auto, schlug den Kragen hoch und zog die Pelzmütze über die Ohren. Dann überquerte er die breite Straße, ging an der Tankstelle vorbei und stapfte durch den Schneematsch. Die Straßenreinigung hielt es offenbar nicht für notwendig, auf diesem kleinen Wegstück Salz zu streuen. Das Haus lag etwa fünfundzwanzig Meter vor ihm, etwas höher als der Weg und in spitzem Winkel zur Fahrbahn. Er blieb davor stehen, blickte sich um und fragte halblaut: »Zachrisson?«
Der Mann in den Büschen reckte sich und kam auf ihn zu.
»Schlechte Nachricht«, sagte Gunvald Larsson. »Du mußt noch zwei Stunden länger aushalten! Isaksson hat sich krank gemeldet.«
»Verdammt«, war Zachrissons einziger Kommentar.
Gunvald Larsson sah sich um. »Es ist wohl sinnvoller, wenn man sich da oben auf den Hügel stellt.«
»Ja, wenn man sich unbedingt den Arsch abfrieren lassen will«, entgegnete Zachrisson unfreundlich.
»Da hat man einen besseren Überblick. Ist was vorgefallen?«
Der andere schüttelte den Kopf. »Absolut gar nichts. Die da oben haben bis vor kurzem gefeiert. Jetzt scheint's so, als ob sie sich hingelegt hätten.«
»Und Mahn?«
»Der auch. Vor drei Stunden hat er das Licht ausgemacht.«
»Ist er die ganze Zeit allein gewesen?«
»Ja, sieht ganz so aus.«
»Sieht so aus? Hat jemand das Haus verlassen?«
»Ich hab niemand gesehen.«
»Was hast du denn gesehen?«
»Drei Personen sind rein, seit ich hier stehe. Ein Mann und zwei Mädchen. Sind mit dem Taxi gekommen. Ich glaube, die waren bei dem Fest dabei.«
»Glaubst du?« Gunvald Larsson sah ihn fragend an.
»Was soll ich denn, verdammt nochmal, sonst sagen. Ich hab doch keine…« Seine Zähne klapperten so, daß seine Worte kaum zu verstehen waren. Gunvald Larsson musterte ihn kritisch und fragte: »Was hast du nicht?«
»Röntgenaugen«, antwortete Zachrisson kleinlaut.
Gunvald Larsson war für seine Strenge bekannt und hatte für menschliche Schwächen nur wenig Verständnis. Als Vorgesetzter war er wenig beliebt, und viele hatten Angst vor ihm. Wenn Zachrisson ihn besser gekannt hätte, hätte er kaum gewagt, sich so ungezwungen zu geben. Aber nicht einmal Gunvald Larsson konnte abstreiten, daß der Mann durchgefroren und übermüdet war und daß seine Kondition und seine Aufmerksamkeit in den nächsten Stunden schwerlich zunehmen würden. Ihm war klar, was er eigentlich tun müßte, er dachte aber nicht daran, fünfe gerade sein zu lassen, sondern knurrte gereizt:
»Frierst du?«
Zachrisson versuchte zu grinsen und wischte sich die Eiskristalle aus den Augenbrauen. »Frieren? Mir geht's wie den drei Männern im Feuerofen.«
»Laß die Witze«, gab Gunvald Larsson ärgerlich zurück. »Du bist im Dienst!«
»Verzeihung, aber…«
»Und dazu gehört, daß man sich von vornherein warm anzieht und hin und wieder die Füße bewegt. Sonst friert man fest und steht hier wie ein Schneemann, wenn's Ernst wird. Hinterher vergeht einem dann das Lachen.« Zachrisson ahnte Schlimmes. Verlegen und bibbernd entgegnete er: »Das ist klar, nur…«
»Nichts ist klar. Ich trage für diesen Auftrag die Verantwortung, und ich will auf keinen Fall, daß die Sache durch einen von euch Pfuschern vermasselt wird.« Zachrisson war dreiundzwanzig Jahre alt und einfacher Polizeibeamter. Er gehörte zur Wache im zweiten Distrikt. Gunvald Larsson war zwanzig Jahre älter und Erster Kriminalassistent bei der Fahndungsabteilung der Stockholmer Polizei. Als Zachrisson den Mund öffnete, um zu 'antworten, hob Gunvald Larsson seine große rechte Hand und sagte mürrisch: »Halt jetzt den Mund. Mach, daß du zur Wache Rosenlundsgatan kommst, dort trinkst du 'ne Tasse Kaffee oder sonstwas. In genau einer halben Stunde bist du wieder hier, aufgetaut und fit. So, und nun los, Zeit läuft.«
Zachrisson verschwand. Gunvald Larsson sah auf seine Armbanduhr, seufzte und murmelte: »Grünschnabel.«
Dann drehte er sich um, zwängte sich durch die Büsche und begann auf den Hügel zu steigen. Er brummte und schimpfte vor sich hin, weil die dicken Gummisohlen seiner italienischen Winterschuhe keinen Halt auf den mit Eis überzogenen Steinen fanden.
Er mußte Zachrisson recht geben: oben auf dem Hügel gab es keinerlei Schutz vor dem beißenden Nordwind, aber er selbst hatte auch recht behalten, denn von diesem Punkt aus hatte man den besten Überblick. Das Haus lag direkt vor ihm und etwas unterhalb von seinem Platz. Nichts, was innerhalb oder in der unmittelbaren Nähe des Hauses passierte, konnte ihm entgehen. Die Fensterscheiben waren ganz oder teilweise mit Eisblumen bedeckt. Licht konnte er nirgends sehen. Das einzige Lebenszeichen war der Rauch aus dem Schornstein, der gerade aufstieg,, bis der Wind hineinfuhr und ihn wie große Wattebälle in den dunklen, bedeckten Himmel trieb.
Der Mann auf dem Hügel trat automatisch von einem Fuß auf den anderen und bewegte die Finger in den dicken, pelzgefütterten Handschuhen. Bevor Gunvald Larsson zur Polizei ging, war er Seemann gewesen. Erst beim Stammpersonal der Kriegsflotte, später auf Frachtern, die die Nordatlantikroute befuhren; in vielen Wachen im Winter auf offener Brücke hatte er gelernt, sich warm zu halten. Außerdem hatte er sich auf solche Aufträge spezialisiert, das heißt, inzwischen beschränkte er sich darauf, so etwas zu organisieren. Als er eine Weile auf dem Hügel gestanden hatte, bemerkte er einen kleinen flackernden Schein hinter dem äußersten rechten Fenster im .Obergeschoß. Es sah so aus, als ob jemand ein Streichholz angerissen hätte, vielleicht um sich eine Zigarette anzustecken oder auf die Uhr zu sehen. Routinemäßig sah auch er auf seine Armbanduhr. Es war vier Minuten nach elf. Sechzehn Minuten waren vergangen, seit Zachrisson seinen Posten verlassen hatte. Jetzt saß er vermutlich im Aufenthaltsraum der Maria-Wache, schüttete gierig Kaffee in sich hinein und beklagte sich bei den uniformierten Kollegen, die dort auf Freiwache saßen. Ein kurzes Vergnügen, denn in spätestens sieben Minuten mußte er sich wieder auf den Weg machen. Wenn er nicht den Anschnauzer des Jahrhunderts riskieren wollte, dachte Gunvald Larsson grimmig.
Dann überlegte er eine Minute lang, wie viele Menschen sich zur Zeit im Haus befinden müßten. In dem alten Holzgebäude gab es vier Wohnungen, zwei im Erdgeschoß und zwei in der ersten Etage. Oben links wohnte eine etwa dreißigjährige unverheiratete Frau mit drei Kindern, die alle verschiedene Väter hatten. Das war eigentlich alles, was er von dieser Dame wußte, und das reichte ihm auch. Unter ihr links im Erdgeschoß hauste ein Ehepaar, betagte Leute. Sie waren beide etwa um die Siebzig und wohnten schon ungefähr ein halbes Jahrhundert da. In den übrigen Wohnungen wechselten die Mieter dafür um so öfter. Der Mann trank und war trotz seines ehrfurchtgebietenden Alters Stammkunde im Ausnüchterungslokal der Maria-Polizeiwache. Rechts oben logierte ein Mann, der der Polizei auch nicht unbekannt war, jedoch nicht wegen seiner Trinkerei, sondern als Rückfalltäter. Obwohl erst siebenundzwanzig, hatte er bereits sechs Gefängnisstrafen unterschiedlicher Länge hinter sich. Sein Strafregister reichte von Trunkenheit am Steuer und Widerstand gegen die Staatsgewalt bis zu Einbruch und Mißhandlung. Er hieß Roth und hatte bis vor kurzem zusammen mit einem männlichen und zwei weiblichen Kumpanen gefeiert. Jetzt hatten sie das Licht ausgemacht und das Grammophon abgestellt, entweder um zu schlafen oder um die Party auf andere Weise fortzusetzen. Und in seiner Wohnung hatte eben jemand ein Streichholz angezündet.
Unter dieser Wohnung, im Erdgeschoß rechts, wohnte der Mann, den Gunvald Larsson jetzt im Moment bewachen durfte. Er wußte, wie dieser Mann hieß und wie er aussah. Dagegen hatte er dummerweise keine Ahnung, warum der Betreffende überwacht werden mußte.
Die Erklärung war einfach: Gunvald Larsson war ein Mörder-Jäger, wie die Zeitungen es in ihrer primitiven, schablonenhaften Sprache manchmal nannten. Und weil es im Augenblick keinen speziellen Mörder zu jagen gab, war er neben seinem normalen Dienst einer anderen Abteilung unterstellt worden, um diesen Überwachungsauftrag zu übernehmen. Er wurde einer eilig zusammengestellten Gruppe von vier Beamten zugeteilt, die einen einfachen Auftrag hatte: Paßt auf, daß der Betreffende nicht verschwindet und daß ihm nichts passiert, und achtet darauf, mit wem er sich trifft.
Er hatte nicht einmal gefragt, worum es eigentlich ging. Wahrscheinlich Rauschgift. Heutzutage drehte sich ja alles um Rauschgift.
Zehn Tage hatten sie ihn jetzt überwacht, aber eine Nutte und zwei Halbliterflaschen Schnaps waren das einzig Bemerkenswerte gewesen.
Gunvald Larsson sah auf seine Uhr. Neun Minuten nach elf. Noch acht Minuten. Er gähnte und schlug mehrmals kräftig die Arme vor der Brust zusammen, um sich warm zu halten.
In diesem Moment explodierte das Haus.