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Die Brandstelle war inzwischen so hermetisch abgeriegelt worden, daß gewöhnliche Sterbliche nichts als Polizeiuniformen wahrnehmen konnten. Gleich nachdem Martin Beck und Kollberg aus dem Auto gestiegen waren, wurden sie von zwei Beamten angehalten.

»Hallo, wo wollen Sie denn hin?« rief der eine großspurig.

»Sie wissen doch hoffentlich, daß man seinen Wagen so nicht parken darf«, fügte der andere hinzu.

Martin Beck wollte seinen Dienstausweis zeigen, aber Kollberg winkte ab und fragte: »Verzeihung, wie ist Ihr Name?«

»Geht Sie gar nichts an.« Der erste Polizist wurde wütend.

»Machen Sie, daß Sie weiterkommen«, sagte der zweite, »sonst passiert was.«

»Sicher«, entgegnete Kollberg, »fragt sich nur, wem.«

Kollbergs schlechte Laune spiegelte sich sehr deutlich in seinem Äußeren wider. Der dunkelblaue Trenchcoat flatterte im Wind, denn er hatte es nicht für nötig gehalten, den Kragen zuzuknöpfen. Der Schlips hing aus der rechten Jackentasche, und den zerknautschten alten Hut hatte er in den Nacken geschoben. Die Polizisten wechselten einen vielsagenden Blick. Der eine machte einen Schritt auf sie zu. Beide hatten rote Wangen von der Kälte und runde blaue Augen. Martin Beck begriff, daß sie sich gerade anschickten, Kollberg wegen Trunkenheit festzunehmen. Er wußte, daß Kollberg in der Lage war, beide in weniger als einer Minute körperlich wie seelisch auseinanderzunehmen, und es lag durchaus im Rahmen des Möglichen, daß die beiden am nächsten Morgen ihre Stellung los waren. Dieser Tag brauchte nicht noch für mehr Menschen zum Unglückstag zu werden, er zog daher blitzschnell seinen Ausweis heraus und hielt ihn dem aggressivsten der beiden unter die Nase.

»Das hättest du nicht tun sollen«, sagte Kollberg wütend. Martin Beck sah die beiden Polizisten an. »Ihr habt noch 'ne ganze Menge zu lernen. Komm jetzt, Lennart.«

Die Ruine sah düster aus. Das einzige, was vom Haus übriggeblieben war, war das Fundament, einer der Schornsteine und ein Berg verkohlter Bretter und Balken, vermischt mit verbogenen Eisenteilen, rußigen Mauersteinen und herabgefallenen Dachziegeln. Über allem lag ein beißender Geruch von kaltem Rauch und verbrannten Gegenständen. Ein halbes Dutzend Experten in grauen Kitteln liefen umher und stocherten mit Stöcken und kurzen Spaten vorsichtig in der Asche. Zwei große Siebe waren auf dem Grundstück aufgestellt worden. Wasserschläuche lagen immer noch ausgerollt, und unten auf dem Weg stand ein Feuerwehrauto. Auf dem Vordersitz saßen zwei Wehrmänner und spielten Karten.

Zehn Meter davon entfernt stand ein großer Mann mit der Pfeife im Mund und den Händen tief in den Manteltaschen vergraben. Das war Fredrik Melander, Inspektor bei der Stockholmer Fahndungsbehörde und ihr alter Bekannter aus Hunderten gemeinsamen Ermittlungen. Er war überall wegen seines Kombinationsvermögens, seines außergewöhnlichen Gedächtnisses und seiner unerschütterlichen Ruhe berühmt. Und im privaten Kreis der Kollegen vor allen Dingen dafür bekannt, daß er sich stets auf der Toilette befand, wenn jemand ihn dringend suchte. Sein Sinn für Humor war nicht zu übersehen, auch wenn er selten lachte. Er war langweilig und geizig und kam niemals mit zündenden Ideen oder glänzenden Einfallen. Kurz gesagt: er war ein erstklassiger Polizeibeamter.

»Tag«, sagte er, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen.

»Wie geht's denn hier voran?« fragte Martin Beck.

»Langsam.«

»Schon irgendwelche Ergebnisse?«

»Nichts Genaues. Wir sind sehr vorsichtig. Wird seine Zeit dauern.«

»Warum?« wollte Kollberg wissen.

»Als die Feuerwehr ankam, war das Haus schon in sich zusammengestürzt, und ehe die Löscharbeiten in Gang kamen, war es fast runtergebrannt. Die haben dann jede Menge Wasser draufgekippt und alles sehr schnell gelöscht. Gegen Morgen wurde es kälter, und das Ganze fror zu einem einzigen riesigen Kuchen zusammen.«

»Das kann ja heiter werden.«

»Wenn ich's richtig verstanden habe, müssen die also Schicht für Schicht abheben?«

Martin Beck hustete. »Und die Leichen? Hat man schon welche gefunden?«

»Eine.« Melander nahm die Pfeife aus dem Mund und zeigte mit dem Stiel auf die rechte Seite des abgebrannten Hauses. »Da drüben. Scheint das vierzehnjährige Mädchen zu sein, das im Dachgeschoß geschlafen hat.«

»Kristina Modig?«

»Ja, so hieß sie. Sie lassen sie über Nacht erst mal liegen. Wird bald dunkel, und die wollen nur bei Tageslicht arbeiten.« Melander nahm seinen Tabaksbeutel, stopfte sorgfältig seine Pfeife und zündete sie an. Dann erkundigte er sich: »Wie steht's denn bei euch?«

»Ausgezeichnet, wirklich!« sagte Kollberg.

»Ja«, fügte Martin Beck hinzu, »besonders für Lennart. Erst hätte er fast 'ne Schlägerei mit Rönn gehabt…«

»Tatsächlich?« Melander hob die Augenbrauen.

»… und dann wäre er beinahe wegen Volltrunkenheit von zwei Polizisten festgenommen worden.«

»Ach so. Wie geht's Gunvald?«

»Liegt im Krankenhaus. Gehirnerschütterung.«

»Der hat hier heute nacht wirklich allerhand geleistet.«

Kollberg blickte auf die Reste des Hauses und schüttelte sich. »Ja, das muß man ihm zugestehen. Und alles in kürzester Zeit. Übrigens ist es verdammt kalt hier.«

»Ja«, sagte Martin Beck. Und dann: »Wieso konnte das Haus so schnell Feuer fangen?«

»Die Feuerwehr hat keine Erklärung dafür.«

Kollberg schielte zu dem Feuerwehrauto und wechselte das Thema. »Warum sind denn die Burschen noch hier? Das einzige, was brennen könnte, ist doch deren Wagen.«

»Brandwache, Routinesache.«

»Als ich klein war, ist folgende Geschichte irgendwo passiert: Das Spritzenhaus fing Feuer und brannte ab, und alle Feuerwehrfahrzeuge standen drin und die Wehrmänner draußen davor und machten Kulleraugen. Weiß nicht mehr, wo das war.«

»Na, ganz so einfach war das nicht. Ist in Uddevalla passiert, genauer gesagt, am zehnten…«

»Nicht mal die Kindheitserinnerungen kannst du einem lassen!«

»Wie erklären die sich denn die Entstehung des Brandes?« fragte Martin Beck.

»Die erklären überhaupt nichts. Warten auf das Ergebnis der technischen Untersuchung. Genau wie wir.«

Kollberg blickte sich widerwillig um. »Verdammt kalt ist das hier«, wiederholte er, »und stinkt wie ein offenes Grab.«

»Ist auch 'n offenes Grab«, sagte Melander ernst.

»Komm, wir fahren weg«, sagte Kollberg zu Martin Beck.

»Wohin?«

»Nach Hause. Was haben wir hier noch zu suchen?«

Fünf Minuten später saßen sie im Auto und fuhren in südlicher Richtung.

»Wußte dieser Idiot wirklich nicht, warum er den Mahn beobachten sollte?«

fragte Kollberg, als sie über die Skanstullsbron fuhren.

»Meinst du Gunvald?«

»Ja, wen denn sonst!«

»Ich glaub nicht, daß er's wußte. Aber man kann nicht sicher sein.«

»Herr Larsson ist, wie wir wissen, keine große Leuchte…«

»Er ist ein Mann der Tat. Das kann auch seine Vorteile haben.«

»Klar. Aber es ist doch ein starkes Stück, daß er keine Ahnung davon hatte, womit er beschäftigt war.«

»Er wußte, daß er einen Mann überwachen mußte. Das hat ihm vielleicht gereicht.«

»Wie hängt denn das zusammen?«

»Ganz einfach. Dieser Göran Mahn hatte nichts mit der Mordkommission zu tun. Er war wegen irgendeiner Sache festgenommen worden. Man wollte ihn in Untersuchungshaft stecken, aber dazu reichte es nicht. So wurde er auf freien Fuß gesetzt, aber man wollte verhindern, daß er untertauchte. Da sie selbst mit Arbeit überhäuft waren, baten sie Hammar um Hufe. Und der beauftragte Gunvald Larsson mit der Überwachung, als Sonderauftrag.«

»Warum gerade ihn?«

»Seit Stenströms Tod gilt Gunvald Larsson als der Mann, der solche Sachen am besten erledigen kann. Jedenfalls hat das Folgen gehabt, mit denen keiner rechnen konnte.«

»Nämlich?«

»Nämlich, daß er acht Menschenleben rettete. Was meinst du, wie viele Rönn aus der Todesfalle rausgeholt hätte, oder Melander?«

»Du hast natürlich recht. Ich sollte Rönn vielleicht um Entschuldigung bitten.«

»Das finde ich auch.«

Die Autoschlangen nach Süden rollten um diese Tageszeit besonders langsam. Nach einer Weile fragte Kollberg: »Welche Dienststelle wollte den denn überwacht haben?«

»Weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich das Einbruchsdezernat. Bei an die dreihunderttausend Einbrüchen und Diebstahlsfällen im Jahr haben die kaum Zeit, mal 'ne Tasse Kaffee zu trinken. Montag werden wir uns das alles näher ansehen. Ist ja 'ne einfache Sache.«

Kollberg nickte und ließ den Wagen einige Dutzend Meter weiterrollen. Dann stand die Schlange wieder.

»Wahrscheinlich hat Hammar recht. Das ist einfach ein ganz normales Schadenfeuer.«

»Verdächtig ist, daß es sich so schnell ausgebreitet hat. Und Gunvald sagte ja…«

»Gunvald ist ein Idiot. Und außerdem war er im Kopf nicht ganz richtig. Es gibt genügend einfache Erklärungen.«

»Zum Beispiel?«

»'ne Art Explosion. Einer von den Bewohnern war Einbrecher und hatte Sprengstoff in der Wohnung. Oder Benzinkanister im Kleiderschrank. Oder Gasflaschen. Dieser Mahn kann ja kein besonders großer Fisch gewesen sein, wenn sie ihn wieder freilassen mußten. Klingt doch unwahrscheinlich, daß jemand das Leben von elf Menschen gefährdet, nur um einen um die Ecke zu bringen.«

»Wenn einer von denen ermordet werden sollte, dann gibt es jedenfalls keine Beweise dafür, daß ausgerechnet Mahn das Opfer sein sollte.«

»Nein. Da hast du auch wieder recht«, gab Kollberg zu. »Ich hab heute nicht meinen besten Tag.«

»Scheint mir auch so.«

»Na ja, Montag wissen wir mehr.« Damit war das Gespräch beendet.

Bei der Station Skärmarbrink stieg Martin Beck aus und fuhr mit der U-Bahn weiter. Er wußte nicht recht, was ihm unangenehmer war, die überfüllte U-Bahn oder das Schneckentempo der Autoschlange. Die U-Bahn hatte jedenfalls einen Vorteil: er kam erheblich schneller zum Ziel. Allerdings hatte er keine Eile, ihn erwartete zu Hause nichts Besonderes.

Bei Lennart Kollberg war das anders. Er wohnte in der Palandergatan in Skärmarbrink und hatte eine hübsche Frau, die Gun hieß, und eine Tochter, die gerade ein halbes Jahr und drei Tage alt war.

Seine Frau lag auf dem Wohnzimmerteppich und las in einem Lehrbuch. Im Mund hatte sie einen gelben Bleistift, und neben ihr lag ein roter Radiergummi. Sie hattenur eine alte Schlafanzugjacke an und ließ die langen nackten Beine in der Luft pendeln. Sah ihn mit ihren großen braunen Augen an und begrüßte ihn: »Großer Gott, was siehst du mürrisch aus.« Er zog die Jacke aus und warf sie auf einen Stuhl. »Schläft Bodil?« Sie nickte.

»Das war 'n toller Tag heute. Alle wollten sie auf mir rumhacken. Erst ausgerechnet Rönn und dann zwei eingebildete Bullen von der Maria-Wache.« Sie zwinkerte mit den Augen. »Und du hast überhaupt keine Schuld?«

»Jetzt hab ich jedenfalls bis Montag frei.«

»Ich hab nicht vor, dich zu schlagen. Was willst du machen?«

»Ich will ausgehen, was Besonderes essen und fünf Schnäpse dazu trinken.«

»Können wir uns das leisten?«

»Ja. Ist doch erst der Achte. Kriegen wir einen Babysitter?«

»Äsa wird's sicher machen.«

Äsa Toreil war die Witwe eines Polizeibeamten, obwohl sie erst fünfundzwanzig Jahre alt war. Sie hatte mit einem Kriminalassistenten zusammen gelebt, der Äke Stenström geheißen hatte. Er war vor nur vier Monaten in einem Bus erschossen worden.

Die Frau auf dem Fußboden zog ihre kräftigen Augenbrauen hoch und begann energisch, in ihrem Heft zu radieren.

»Es gibt 'ne andere Möglichkeit. .Wir gehen ins Bett. Das ist billiger und macht mehr Spaß.«

»Hummer Vanderbilt ist auch was Schönes«, entgegnete Kollberg. »Du denkst mehr ans Essen als an die Liebe«, beklagte sie sich, »obwohl wir erst zwei Jahre verheiratet sind.«

»Stimmt gar nicht. Außerdem habe ich eine noch bessere Idee. Wir gehen erst ins Restaurant, essen und trinken fünf Schnäpse, und dann gehen wir ins Bett. Ruf jetzt Äsa an.«

Das Telefon hatte ein fünf Meter langes Verlängerungskabel und stand bereits auf dem Teppich. Sie streckte den Arm aus und zog es zu sich heran. Dann wählte sie eine Nummer. Während sie sprach, drehte sie sich auf den Rücken, zog die Beine an und setzte die Fußsohlen auf den Boden. Die Schlafanzugjacke rutschte ein Stück höher.

Kollberg sah seine Frau an. Betrachtete gedankenvoll das dichte, schwarze Vlies, das ihre Scham bedeckte und sich zwischen den Beinen verlor. Sie blickte zur Decke, während sie sprach und zuhörte. Nach einer Weile nahm sie das linke Bein hoch und kratzte sich am Fuß.

»Abgemacht«, sagte sie und legte den Hörer auf. »Sie kommt. In ungefähr einer Stunde. Hast du übrigens das Neueste gehört?«

»Nein, was denn?«

»Äsa ist auf der Polizeischule angenommen worden.«

»Auch das noch. Gun?«

»Ja?«

»Mir ist noch eine Lösung eingefallen, noch besser als die vorige. Wir gehen erst ins Bett, dann ins Restaurant und trinken fünf Schnäpse, und dann fahren wir nach Hause und legen uns wieder hin.«

»Das ist beinah genial. Hier auf dem Teppich?«

»Ja. Ruf den Opernkeller an und bestell uns einen Tisch.«

»Such du die Nummer raus.«

Kollberg blätterte im Telefonbuch und knöpfte währenddessen sein Hemd auf, öffnete den Gürtel, fand die Nummer und hörte, wie sie die Nummer wählte. Dann setzte sie sich aufrecht, zog die Schlafanzugjacke über den Kopf und warf sie auf den Fußboden.

»Was hast du vor? Willst du mir meine Unschuld rauben?«

»Erraten.«

»Von hinten?«

»Wie du willst.«

Sie fing zu kichern an, begann sich umzudrehen, langsam und geschmeidig. Lag dann auf allen vieren, die Beine weit gespreizt. Den Kopf mit den schwarzen Haaren hatte sie gesenkt und das Gesicht auf die Unterarme gestützt.

Drei Stunden später beim Ingwerdessert erinnerte sie Kollberg an ein Ereignis, an das er nicht mehr gedacht hatte, seit er Martin Beck bei der U-Bahn-Station abgesetzt hatte.

»Dieser scheußliche Brand«, sagte sie, »meinst du, daß der gelegt war?«

»Nein. Kann ich mir beim besten Willen nicht denken. Irgendwo muß das ja mal seine Grenzen haben.«

Er war seit mehr als zwanzig Jahren bei der Kriminalpolizei und hätte es besser wissen müssen.