Gunvald Larsson konnte sich nicht verkneifen, die Frage, die Melander sich nur in Gedanken gestellt hatte, auszusprechen.
Er trug jetzt seinen eigenen Bademantel, hatte zum erstenmal seinen neuen Schlafanzug an, und die Füße steckten in den weißen Pantoffeln.
Er stand am Fenster und bemühte sich, die Blumen nicht zu beachten, die Rönn mitgebracht hatte, einen schauderhaft zusammengestellten Strauß aus Nelken, Tulpen und vielen grünen Stengeln.
»Ja, ja«, sagte er wütend und schwenkte die Papiere, die Rönn ihm gegeben hatte, »das begreift auch der dümmste Hund.«
Rönn nickte. Er saß auf dem Besucherstuhl und blickte hin und wieder mit nicht geringem Stolz auf die Blumenpracht.
»Selbst wenn die Wohnung voller Gas war wie ein Luftballon, dann muß doch irgendwas den Scheiß angesteckt haben, oder?«
»Ja, aber…«
»Was aber?«
»Der kleinste Funke kann in einem gasgefüllten Raum eine Explosion verursachen.«
»Aber der kleinste Funke muß doch irgendwoher kommen!«
»Ich hatte mal einen Fall mit einer Gasexplosion. Ein Mann hatte die Gashähne geöffnet und wollte sich das Leben nehmen. Da kam ein Bettler, klingelte an der Tür, und der Funke von der Batterie ließ das ganze Haus in die Luft fliegen.«
»Tatsache ist aber, daß kein Bettler bei Malm geklingelt hat.«
»Ja, aber da kann es Hunderte von anderen Lösungen geben.«
»Nein, kann es nicht. Es kann nur eine Lösung geben. Und um die hat sich keiner gekümmert.«
»Das kann man unmöglich alles nachprüfen. Es ist ja alles verbrannt. Es genügt schon ein Kurzschluß in einem elektrischen Kontakt, oder eine Leitung ist schlecht isoliert, und da kommen Funken…«
Gunvald Larsson sagte nichts.
»Beim Brand wurde die gesamte elektrische Anlage zerstört. Alle Sicherungen brannten durch. Niemand kann mehr beweisen, ob eine Sicherung früher als die anderen durchgebrannt ist.«
Gunvald Larsson sagte immer noch nichts.
»Ein elektrischer Wecker oder ein Radio oder ein Fernseher. Oder ein Stück Glut, das plötzlich aus dem Kachelofen oder aus dem eisernen Ofen fiel.«
»Aber die Luftklappen waren doch geschlossen?«
»Ein Stück Glut kann jedenfalls rausgefallen sein«, beharrte Rönn, »beispielsweise in den Aschenkasten.«
Gunvald Larsson zog unzufrieden die Augenbrauen hoch und blickte geradeaus auf die kahlen Bäume und die verschneiten Hausdächer.
»Weshalb hat sich der Mahn denn das Leben genommen?« fragte er plötzlich.
»Der war völlig fertig. Hatte kein Geld und wußte, daß die Polizei hinter ihm her war. Daß er auf freien Fuß gesetzt worden war, bedeutete noch lange nicht, daß er sich in Sicherheit befand. Er wäre bestimmt wieder festgenommen worden, sobald Olofsson aufgetaucht wäre.«
»Hm«, brummte Gunvald Larsson widerwillig. »Da hast du recht.«
»Außerdem waren seine familiären Verhältnisse wenig erfreulich. Alleinstehend und dem Alkohol verfallen. Vorbestraft. Zweimal geschieden. Hatte Kinder, für die er jahrelang keinen Unterhalt bezahlt hatte. Wäre beinahe ins Arbeitslager eingewiesen worden.«
»Aha.«
»Und außerdem war er krank. War mehrmals in der Nervenheilanstalt gewesen.«
»Meinst du, daß er nicht ganz richtig im Kopf war?«
»Er war manisch depressiv. Litt unter schweren Depressionen, wenn er betrunken war oder nicht vorankam.«
»Es reicht! Es reicht!«
»Er hatte schon früher Selbstmordversuche unternommen«, fuhr Rönn unbeirrt fort. »Mindestens zwei.«
»Deswegen wissen wir immer noch nicht, wo der Funke herkam.« Rönn zuckte die Achsem. Eine Weile blieb es still im Zimmer.
»Einige Minuten vor der Detonation hab ich etwas gesehen«, bemerkte Gunvald Larsson nachdenklich.
»Was denn?«
»Jemand muß in der Wohnung über der von Malm ein Streichholz oder ein Feuerzeug angesteckt haben.«
»Die Explosion entstand aber bei Mahn und nicht in der Wohnung darüber«, wandte Rönn ein. Er putzte sich mit einem zusammengefalteten Taschentuch die Nase.
»Laß das«, sagte Gunvald Larsson, ohne ihn anzusehen. »Sie wird davon nur noch röter.«
»Verzeihung.« Rönn steckte das Taschentuch ein, dachte nach und sagte schließlich: »Aber das Haus war alt und baufällig. Melander meint, daß oben in der Wohnung auch 'ne ganze Menge Gas gewesen sein muß, wenn es auch nicht tödlich war.«
Gunvald Larsson drehte sich um und starrte Rönn an. »Wer hat die Überlebenden verhört?«
»Niemand.«
»Niemand?«
»Nein. Die hatten doch nichts mit Malm zu tun. Jedenfalls deutet nichts darauf hin.«
»Woher weißt du denn das?«
»Na ja…«
»Wo sind diese Leute jetzt?«
»Immer noch im Krankenhaus. Hier, glaube ich. Bis auf die Kinder. Um die hat sich das Jugendamt gekümmert.«
»Und sie haben überlebt? Ich meine die Erwachsenen?«
»Ja. Bis auf diese Madeleine Olsen, die hat keine große Chance. Das heißt, als ich zuletzt von ihr hörte, lebte sie noch.«
»Aber die übrigen sind vernehmbar?«
»Jetzt nicht mehr. Die Untersuchung ist abgeschlossen.«
»Glaubst du selbst, daß es sich um einen Unglücksfall gehandelt hat?«
Rönn sah sich seine Hände an. Dann nickte er. »Ja. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Alles ist belegt.«
»Bis auf die Sache mit dem Funken.«
»Da hast du recht. Aber da kann man keine Beweise vorlegen.«
Gunvald Larsson riß sich ein blondes Haar aus einem seiner Nasenlöcher und betrachtete es nachdenklich. Dann ging er zum Bett und setzte sich. Faltete die Papiere, die Rönn mitgebracht hatte, zusammen und warf sie auf den Nachttisch. So, als ob der Fall damit auch für ihn erledigt sei.
»Wirst du übermorgen entlassen?«
»Scheint so.«
»Aber dann wirst du wohl 'ne Woche oder so krank geschrieben werden?«
»Wahrscheinlich«, sagte Gunvald Larsson abwesend.
Rönn blickte auf seine Uhr. »So, jetzt muß ich gehen. Mein Junge hat morgen Geburtstag, und ich muß noch ein Geschenk besorgen.«
»Was willst du denn kaufen?« fragte Gunvald Larsson gleichgültig.
»Ein Feuerwehrauto.«
Der andere starrte ihn an, als ob er etwas besonders Obszönes gesagt hätte.
»Er hat sich eins gewünscht«, fuhr Rönn fort, ohne darauf zu achten. »Das ist nicht größer als so und kostet trotzdem 32,50.« Mit zwei Fingern zeigte er, wie groß das Auto war.
»Soso.«
»Ja, dann also auf Wiedersehen.«
Gunvald Larsson nickte. Erst als Rönn die Klinke schon in der Hand hatte, hielt er ihn noch einmal zurück. »Du, Einar?«
»Ja.«
»Diese Blumen. Hast du die selbst gepflückt, auf dem Friedhof oder so?« Rönn blickte ihn gekränkt an und schloß die Tür.
Gunvald Larsson legte sich auf den Rücken, faltete die kräftigen Hände hinter dem Kopf und starrte gegen die Zimmerdecke.
Der nächste Tag war ein Donnerstag, genauer gesagt der 14. März, aber noch deutete nichts auf den Frühling hin, der dem Kalender nach bald kommen sollte. Im Gegenteil, der Wind blies eisiger als je zuvor, und draußen im Polizeigebäude Süd prasselte der feinkörnige Schnee in Böen gegen die Fenster. Kollberg saß in seinem Zimmer, trank Kaffee aus einem Pappbecher und schlang Blätterteigstücke in sich hinein. Die Krümel fielen auf Martin Becks Schreibtisch. Martin Beck selbst trank Tee, in der Hoffnung, daß der Tee seinem Magen besser bekommen würde. Es war halb vier Uhr nachmittags, und Kollberg hatte den größten Teil des Tages damit zugebracht, an Skacke herumzunörgeln. Wenn das Opfer seiner Spottlust zwischendurch einmal außer Reichweite war, hatte er so gelacht, daß er Krämpfe in der Magengegend bekommen hatte.
Es klopfte vorsichtig an der Tür, und Skacke trat ein. Mit einem scheuen Blick zu Kollberg hinüber legte er vorsichtig ein Blatt Papier auf Martin Becks Schreibtisch.
»Was ist denn das?« fragte Kollberg. »Ein neuer Fall mit einem Scheintoten?«
»Eine Kopie des Untersuchungsberichtes des Kriminalteehnischen Laboratoriums«, antwortete Skacke kaum hörbar und wandte sich zur Tür.
»Hör mal, Benny«, fuhr Kollberg mit unschuldiger Miene fort. »Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, Polizist zu werden?«
Skacke blieb stehen und trat von einem Fuß auf den anderen.
»Ist gut«, sagte Martin Beck und nahm das Blatt auf. »Danke, du kannst gehen.«
Als die Tür wieder geschlossen war, wandte er sich an Kollberg. »Hast du heute nicht schon genug auf ihm rumgehackt?«
»Ja«, erwiderte Kollberg gemütlich. »Ich kann ja morgen immer noch weitermachen. Was ist denn das da?«
Martin Beck überflog den Text. »Von Hjelm. Er hat eine Reihe Proben und Gegenstände von der Brandstelle in der Sköldgatan analysiert. Um deren eventuellen Zusammenhang mit der Brandursache festzustellen, schreibt er. Resultat gleich Null.« Er legte das Blatt beiseite. »Dieses Mädchen Olsen ist gestern gestorben«, fuhr er fort.
»Ja. Hab ich in der Zeitung gelesen.« Kollberg wirkte wenig beeindruckt.
»Weißt du übrigens, warum dieser Bursche Polizist geworden ist?« Martin Beck schwieg.
»Ich weiß es. Steht nämlich in seiner Personalakte. Er hat angegeben, daß er den Polizeiberuf als Sprungbrett auf seinem Weg nach oben benutzen will. Er beabsichtigt nämlich, Polizeichef zu werden.« Kollberg bekam einen neuen Lachanfall, und das Kuchenstück wäre ihm beinahe im Hals steckengeblieben.
»Das mit dem Feuer gefällt mir nicht«, sagte Martin Beck mehr zu sich selbst.
»Warum zerbrichst du dir deswegen den Kopf?« Kollberg hatte wieder Luft geholt. »Muß einem so was auch noch gefallen? Reicht es nicht, daß vier Menschen verbrannt sind und dieser zwei Meter lange Idiot eine Medaille bekommt?« Kollberg war ernst geworden. Er sah Martin Beck aufmerksam an und fuhr fort: »Ist doch alles vollständig klar, oder? Man dreht den Gashahn auf und nimmt sich das Leben. Was danach passiert, ist ihm völlig gleichgültig, denn er ist selbstsüchtig und außerdem schon mausetot, wenn es knallt. Drei unschuldige Menschen müssen mit dran glauben, und die Polizei verliert einen Zeugen und damit die Chance, diesen Olofsson, oder wie der nun heißt, zu fassen. Und du und ich haben absolut nichts damit zu tun. Hab ich nicht recht?«
Martin Beck schnaubte sich lange und sorgfältig die Nase.
»Stimmt alles überein«, fuhr Kollberg nachdrücklich fort. »Und behaupte bloß nicht, daß es zu gut übereinstimmt. Oder daß deine berühmte Eingebung…« Er unterbrach sich und beobachtete Martin Beck nachdenklich. »Du siehst wieder verdammt deprimiert aus.«
Martin Beck zuckte die Achseln. Kollberg nickte.
Sie kannten sich schon lange und sehr gut, und Kollberg wußte genau, warum Martin Beck niedergeschlagen war. Aber das war ein Thema, zu dem er sich nur äußern würde, falls man ihn direkt fragte, und darum fuhr er in leichtem Ton fort: »Kümmere dich doch nicht um diese Brandgeschichte. Ich hab sie schon vergessen. Kommst du heut abend zu uns nach Hause? Gun muß zu irgendeinem Kursus, und wir können einen heben und 'ne Partie Schach spielen.«
»Ja, warum nicht«, stimmte Martin Beck zu.
Dann konnte er es sich ersparen, um fünf nach Hause gehen zu müssen.