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Mänsson fuhr am Dienstag, dem 23. Juli, morgens nach Kopenhagen. Weil er meinte, sich beeilen zu müssen, nahm er eines der Tragflügelboote. Es hieß Flyveflsken und schaffte die Strecke über den Sund in genau fünfunddreißig Minuten. Schön war die Fahrt nicht. Man saß in Flugzeugsesseln und wurde durchgeschüttelt, und wer keinen Fensterplatz hatte, konnte kaum darauf hoffen, das Wasser, auf dem man fuhr, auch nur zu sehen.

Mänssons internationale Verbindungen waren, was Dänemark betraf, außerordentlich gut. Er wich allen hindernden Instanzen und zwischenstaatlichen Komplikationen aus und ging geradewegs zu einem Polizeiinspektor, der Mogensen hieß.

»Morgen. Ich suche nach einer Frau. Wie sie heißt, weiß ich nicht.«

»Morgen«, begrüßte ihn Mogensen. »Wie sieht sie denn aus?«

»Hat kurzgeschnittenes, lockiges blondes Haar und blaue Augen. Ausgeprägte Gesichtszüge, breiter Mund, gesunde Zähne und ein Grübchen am Kinn. Ungefähr einssechzig groß, breite Schultern und Hüften und eine schmale Taille. Kurze kräftige Beine und hübsche Waden. Sie ist ungefähr fünfunddreißig Jahre alt. Schwedin. Sicher aus Skäne, wahrscheinlich aus Malmö.«

»Hört sich an, als ob sie hübsch ist.«

»Da bin ich nicht so sicher. Sie bevorzugt lange gestrickte Pullover, dazu lange Hosen oder kurze karierte Röcke. Um diese Jahreszeit wohl eher Röcke. An den Füßen Sandalen oder Holzschuhe. Keine Strümpfe. Sie liebt sehr breite Gürtel, die sie fest um die Taille schnallt. Ist nicht ausgeschlossen, daß sie rauschgiftsüchtig ist. Sie hat irgendwas mit Kunst zu tun. Die, die sie gesehen haben, sagen, daß sie immer Farbflecke oder was Ähnliches an den Fingern hat.«

»Gut«, sagte Mogensen. Und damit war die Sache klar.

Mänssons Beziehungen zu diesem Mann bestanden seit dem Ende des Krieges, als Mogensen aus Deutschland nach Trelleborg kam. Er war einer der etwa zweitausend Polizisten, die die Gestapo bei einer Razzia am 9. September 1944 festgenommen und nach Deutschland in ein Konzentrationslager verschleppt hatte.

Seit damals waren sie immer in gutem Kontakt geblieben. Diese Verbindung war praktisch, bewirkte einen schnellen Austausch von Informationen, und beide zogen ihren Nutzen daraus. Was Mänsson nach einem halben Jahr erfahren hätte, wenn er den normalen Dienstweg benutzt hätte, erledigte Mogensen normalerweise an einem Tag. Und wenn Mogensen etwas Bestimmtes aus Malmö wissen wollte, schaffte Mänsson das in der Regel in wenigen Stunden. Der Zeitunterschied erklärt sich aus der Tatsache, daß Kopenhagen viermal so groß ist wie Malmö.

Es gehört zum guten skandinavischen Umgangston, zu behaupten, daß die Zusammenarbeit zwischen der Polizei beider Länder ausgesprochen gut ist In der Praxis ist das allerdings anders, und zwar zu einem nicht geringen Teil wegen der Sprachschwierigkeiten.

Daß Schweden und Dänen die Sprache des anderen mit etwas gutem Willen ohne Schwierigkeiten verstehen, ist eine Behauptung, die im Laufe der Jahre in beiden Ländern von hoher Stelle dauernd wiederholt worden ist. Aber häufig ist so etwas eine Wahrheit mit Einschränkungen und noch öfter etwas viel Ernsteres, zum Beispiel das Ergebnis intensiven Wunschdenkens, also eine Illusion. Oder, um es einfacher zu sagen: eine Lüge.

Zwei der vielen Opfer dieses Wunschdenkens waren Hammar und ein bekannter dänischer Kriminalist, die sich seit Jahren kannten und bei vielen internationalen Polizeikongressen nebeneinandergesessen hatten. Sie waren gute Freunde, und jeder für sich brüstete sich damit, daß er die Muttersprache des anderen vollständig und ohne Schwierigkeiten beherrsche. Was übrigens jeder normalbegabte Skandinavier eigentlich auch können sollte, eine spöttische Bemerkung, die hinzuzufügen sie selten versäumten.

Bis sie sich, nachdem sie jahrelang nur in Konferenzräumen bei großen gesellschaftlichen Anlässen zusammengekommen waren, einmal privat in Hammars Sommerhäuschen zu einem gemeinsamen Wochenende verabredet hatten. Da zeigte es sich nämlich, daß sie sich nicht mal bei den einfachsten alltäglichen Redewendungen verstanden. Als der Däne um eine Karte bat, ging Hammar hinein und holte ein Foto von sich, und danach war alles vorbei. Ein Teil ihres Weltbildes war eingestürzt, und als sie einige Stunden förmlich in gegenseitigem Nichtverstehen geschwelgt hatten, einigten sie sich darauf, Englisch zu sprechen, und entdeckten, daß sie eigentlich überhaupt nicht zueinander paßten.

Ein Teil des Geheimnisses der guten Zusammenarbeit zwischen Mogensen und Mänsson war, daß sie sich tatsächlich verstanden. Keiner der beiden bildete sich ein, die Sprache des anderen zu beherrschen, und demzufolge sprachen sie miteinander ein sogenanntes Skandinavisch, ein selbstgestricktes Rotwelsch, das eigentlich nur sie beide verstanden. Außerdem waren sie gute Polizeibeamte, und keiner von ihnen hatte Lust, Untersuchungen noch schwieriger zu machen, als sie ohnehin schon waren.

Um halb drei Uhr nachmittags ging Mänsson zum Polizeigebäude am Polititorv in Kopenhagen zurück und bekam einen Zettel, auf dem mit Schreibmaschine ein Name und eine Adresse geschrieben standen.

Eine Viertelstunde später stand er vor einem alten Mietshaus in der Leaderaede und verglich das Geschriebene auf dem Zettel mit der verblichenen Nummer oben über einem schmalen, düsteren Torweg. Er ging durch den Gang stieg eine Außentreppe hinauf, die unter seinem Gewicht bedenklich schwankte und ihn an eine Hühnerleiter erinnerte, und kam vor eine Tür, von der die Farbe abblätterte und an der kein Namensschild hing.

Er klopfte. Eine Frau öffnete.

Sie war klein und untersetzt, hatte aber eine gute Figur, breite Schultern und Hüften, eine schmale Taille und hübsche kräftige Beine. Ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, mit hellem, lockigem, kurzgeschnittenem Haar, breitem sinnlichem Mund, blauen Augen und einem Grübchen am Kinn. Sie hatte keine Strümpfe an, lief barfuß und trug einen schmutzigen Kittel, der früher einmal weiß gewesen sein mußte. Unter dem Kittel hatte sie ein schwarzes Polohemd an. Mehr konnte er nicht sehen, da sie den Kittel mit einem breiten Ledergürtel geschlossen hatte. Über sie hinweg blickte er in eine Küche. Die war klein und ziemlich dunkel.

Sie starrte ihn an und fragte mit dem typischen Dialekt der Leute aus Malmö:

»Was sind Sie denn für einer?«

Mänsson antwortete mit einer Gegenfrage: »Heißen Sie Nadja Eriksson?«

»Ja.«

»Kannten Sie Bertil Olofsson?«

»Ja.« Dann wiederholte sie ihre Frage: »Was sind Sie denn für einer?«

»Verzeihung. Ich wollte nur sehen, ob ich hier richtig bin. Ich heiße Per Mänsson und arbeite bei der Polizei in Malmö.«

»Polizei? Was hat die schwedische Polizei hier zu suchen? Sie haben kein Recht, hier hereinzukommen!«

»Nein. Hab ich nicht. Ich hab auch keinen Durchsuchungsbefehl oder so was. Ich will mich nur ein bißchen mit Ihnen unterhalten. Wenn Sie nicht mögen, geh ich wieder.«

Sie sah ihn einen Moment an. Dabei bohrte sie nachdenklich mit einem gelben Bleistift in ihrem Ohr. Schließlich fragte sie: »Was wollen Sie?«

»Mich 'n bißchen mit Ihnen unterhalten.«

»Über Bertil?«

»Ja.«

Sie trocknete den Stift am Ärmel des Kittels ab und biß sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Ich hab nicht gern was mit der Polizei zu tun.«

»Ich bin ja auch hier als…«

»Als was? Privatmann? Oder Nachbars Katze?«

»Paßt beides gut.«

Sie lachte, plötzlich und heiser. »Na, dann fangen Sie an, kommen Sie rein.« Sie drehte sich um und ging durch die kleine Küche. Mänsson folgte ihr, und ihm fiel auf, daß sie schmutzige Füße hatte.

Hinter der Küche befand sich ein großes Atelier mit schrägen Fenstern, in dem eine grenzenlose Unordnung herrschte. Bilder, Zeitungen, Farbtuben Pinsel und Kleidungsstücke lagen überall umher. An Möbeln hatte sie einen großen Tisch, einige Stühle, zwei große Schränke und ein Bett. An den Wänden hingen Poster und Bilder, und auf Sockeln und Podesten standen Skulpturen, von denen einige in feuchte Tücher gehüllt waren; an einer arbeitete sie offenbar gerade. Auf dem Bett lag ein schmächtiger dunkelhäutiger Jüngling in weißem Netzhemd und Unterhosen. Er hatte schwarzes, krauses Haar, und ein silbernes Kruzifix hing um den Hals.

Mänsson sah sich um. Überall lagen Reste und Abfall herum, aber sie schien sich hier wohl zu fühlen. Er blickte fragend auf den Mann im Bett.

»Um den brauchen wir uns nicht zu kümmern, der versteht sowieso kein Wort. Außerdem kann ich ihn rausschmeißen.«

»Nicht meinetwegen!«

»You better run along, Baby«, sagte sie.

Der Mann im Bett stand sofort auf, nahm ein Paar Khakihosen vom Boden auf und zog sie an.

»Ciao«, sagte er und ging.

Mänsson blickte scheu zu der Skulptur hinüber. Soviel er erkennen konnte, stellte sie einen aufrechtstehenden Penis dar, in den von allen Seiten rostige Eisenstücke und alte Schrauben gesteckt worden waren.

»Dies hier ist nur ein Modell«, sagte sie. »Eigentlich soll er hundert Meter hoch sein.« Sie runzelte gedankenverloren die Stirn.

»Ist er nicht schrecklich«, fuhr sie fort. »Glauben Sie, daß den jemand kaufen wird?«

Mänsson dachte an die Kunstwerke, die seine Heimatstadt schmückten.

»Warum denn nicht?«

»Was wissen Sie über mich?« fragte sie und drückte mit einem Schimmer von sadistischer Befriedigung in den Augenwinkeln noch ein Eisenstück in die Skulptur.

»Sehr wenig.«

»Da gibt es auch nicht viel zu erzählen. Ich wohne schon zehn Jahre hier. Beschäftige mich mit solchen Sachen. Aber berühmt werde ich wohl nie werden.«

»Sie haben Bertil Olofsson gekannt?«

»Ja«, sagte sie ruhig. »Das hab ich.«

»Wissen Sie, daß er tot ist?«

»Ja. Die Zeitungen hier haben vor Monaten kurz darüber berichtet. Sind Sie deswegen hier?«

Mänsson nickte.

»Was wollen Sie wissen?«

»Alles.«

»Das ist 'ne ganze Menge.«

Eine Weile war es still. Sie nahm einen Holzhammer mit kurzem Stiel und schlug damit mehrmals auf die Skulptur, ohne sichtbares Resultat. Dann fuhr sie sich durch das blonde Haar und runzelte die Stirn. Stand mit hängendem Kopf da und sah sich ihre Füße an. Sie war recht hübsch. Mänsson entdeckte eine Art natürlicher Reife an ihr, die ihm gefiel.

»Wollen Sie mit mir ins Bett gehen?« fragte sie plötzlich.

»Ja«, antwortete er. »Warum nicht?«

»Schön. Anschließend ist es viel leichter, über solche Sachen zu sprechen. Wenn du den Schrank da hinten aufmachst, findest du zwei saubere Laken auf dem obersten Brett. Ich schließ die Haustür zu und wasch mich, besonders die Füße. Schmeiß die schmutzige Bettwäsche in den Beutel drüben.«

Mänsson holte das frisch gemangelte Laken und machte das Bett. Dann setzte er sich auf die Kante, warf seinen zerkauten Zahnstocher auf den Boden und fing an, sein Hemd aufzuknöpfen.

Sie ging durch das Zimmer, hatte die schwarzen Holzschuhe angezogen und ein Frotteehandtuch über die Schulter geworfen. Soviel er sehen konnte, hatte sie keine Narben an den Armen oder den Oberschenkeln und auch sonst keine besonderen Kennzeichen am Körper. Sie trällerte ein Lied, während sie duschte.