13

Gleich nach elf Uhr am Donnerstag aber geschah etwas. Martin Beck stand in seiner üblichen Stellung, den rechten Ellbogen auf den Ak-tenschrank gestützt, und hörte wohl zum fünfzigstenmal an diesem Vormittag das Telefon klingeln. Gunvald Larsson nahm den Hörer ab.

»Ja, Larsson. - Was? - Ich komme sofort nach unten!«

Er stand auf und sagte hastig zu Martin Beck: »Das war die Meldung. Da ist jemand unten, der sagt, daß er was weiß.«

»Worüber?«

Gunvald Larsson war schon an der Tür.

»Über den Parkräuber«, rief er.

Einige Minuten später saß ihm am Schreibtisch ein Mädchen gegenüber. Sie war zwanzig Jahre, sah aber älter aus. Sie trug durchbrochene violette Strümpfe, hochhackige, vorn offene Schuhe und etwas, was man in diesem Jahr einen Minirock nannte. Ihr Dekolltete war, ebenso wie das hochtoupierte, blondierte Haar und die Aufmachung mit künstlichen Wimpern und gewaltigen Lidschatten, bemerkenswert. Ihr Mund war klein und blutigrot, und die Brüste hatte sie mit dem Büstenhalter hoch nach oben geholt.

»Also, was wissen Sie?« fragte Gunvald Larsson ohne Umschweife.

»Sie wollen etwas über den Mann im Vasapark und im Vanadislunden wissen«, entgegnete sie geschraubt, »zumindest hörte ich jemanden so etwas andeuten.«

»Weshalb sonst sind Sie hergekommen?«

»Hetzen Sie mich nicht«, entgegnete sie.

»Was wissen Sie?« fragte Gunvald Larsson ungeduldig.

»Warum denn gleich so unfreundlich? Merkwürdig, daß alle Greifer so mufflig sind.«

»Wenn Sie auf eine Belohnung aus sind, muß ich Ihnen sage daß es keine gibt«, stellte Gunvald Larsson fest.

»Ich scheiße auf das Geld«, sagte die Dame.

»Weshalb sind Sie hergekommen?« fragte nun Martin Beck, so sanft er konnte.

»Ich habe Geld genug«, sagte sie.

Es war offensichtlich, daß sie - zu einem Teil wenigstens - auch gekommen war, um sich aufzuspielen. Und von diesem Vorsatz wollte sie sich nicht abbringen lassen. Martin Beck konnte die Adern auf Gunvald Larssons Stirn anschwellen sehen.

»Ich verdiene wahrscheinlich eine ganze Menge mehr als ihr«, sagte das Mädchen schnippisch.

»Ja, im Be…«, sagte Gunvald Larsson, unterbrach sich aber und fuhr fort: »Ich glaube, es tut nichts zur Sache, wie Sie Ihr Geld verdienen.«

»Noch solch ein Wort, und ich gehe wieder«, drohte das Mädchen.

»Sie gehen nirgendwohin«, entgegnete Gunvald Larsson.

»Ist das hier vielleicht kein freies Land? Eine Demokratie oder wie das nun heißt?«

»Weshalb sind Sie gekommen?« fragte Martin Beck erneut und fast genauso sanft wie beim erstenmal.

»Ja, das möchten Sie wohl gerne wissen, was? Da sind Sie wohl neugierig. Ich hätte große Lust, Sie zu enttäuschen.«

Es war Melander, der den toten Punkt überwand. Er hob den Kopf, nahm die Pfeife aus dem Mund, sah das Mädchen zum erstenmal voll an und sagte ruhig: »Nun erzähl mal, mein Mädchen.«

»Über den im Vanadislunden und im Vasapark und so weiter?«

»Ja, wenn Sie wirklich etwas wissen«, sagte Melander.

»Und dann kann ich gehen?«

»Natürlich.«

»Ehrenwort?«

»Ehrenwort«, antwortete Melander.

»Und er wird nichts davon erfahren?« Doch dann zuckte sie die Schultern und murmelte mehr zu sich selbst: »Das kann er sich ohnehin an den fünf Fingern abzählen.«

»Wie heißt er?« fragte Melander.

»Roffe.«

»Und mit Nachnamen?«

»Lundgren. Rolf Lundgren.«

»Wo wohnt er?« wollte Gunvald Larsson wissen.

»Luntmakargatan 57.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Dort«, antwortete das Mädchen.

»Woher wissen Sie so sicher, daß er dort ist?« fragte Martin Beck.

In den Augenwinkeln des Mädchens glitzerte es, und mit leichter Verwunderung stellte er fest, daß es Tränen waren.

»Wer sollte es wissen, wenn nicht ich«, murmelte sie.

»Die Dame ist also mit diesem Kerl befreundet«, sagte Gunvald Larsson. Sie starrte ihn an, ohne zu antworten.

»Was für ein Name steht denn an der Tür?« fragte Melander.

»Simonsson.«

»Wem gehört die Wohnung?« wollte Martin Beck wissen.

»Ihm, Roffe, glaube ich.«

»Wie kommt dann der andere Name an die Tür?« warf Gunvald Larsson ein.

»Er hat sie wohl zur Untermiete. Glaubt ihr, er ist solch ein Idiot, daß er seinen eigenen Namen an die Tür schreibt?«

»Wird nach ihm gefahndet?«

»Weiß ich nicht.«

»Ist er auf der Flucht?«

»Weiß ich nicht.«

. »Natürlich wissen Sie das!« erwiderte Martin Beck. »Ist er vielleicht aus irgendeinem Gefängnis ausgebrochen?«

»Nein, das nicht. Roffe hat noch nie gesessen.«

»Bis jetzt«, sagte Gunvald Larsson.

Sie starrte ihn haßerfüllt und mit blanken Augen an. Gunvald Larsson feuerte eine Salve von Fragen ab.

»Luntmakargatan 57?«

»Ja. Hab ich doch gesagt.«

»Vorder oder Hinterhaus?«

»Hinterhaus.«

»Welcher Stock?«

»Erster.«

»Wie groß ist die Wohnung?«

»Ein Zimmer.«

»Küche?«

»Nein, keine Küche, nur ein Zimmer.«

»Wie viele Fenster?«

»Zwei.«

»Zum Hof?«

»Nein, mit Seeblick.«

Gunvald Larsson biß sich auf die Unterlippe. Die Adern auf seiner Stirn schwollen abermals an.

»Nur ruhig«, sagte Melander. »Er hat also ein Zimmer im ersten Stock mit zwei Fenstern auf den Hof hinaus. Sind Sie sicher, daß er jetzt dort ist?«

»Ja«, sagte sie, »daß weiß ich genau.«

»Haben Sie einen Schlüssel?« fragte Melander freundlich.

»Nein, nein, es gibt nur einen.«

»Und er hat abgeschlossen?« warf Martin Beck ein.

»Da können Sie Gift drauf nehmen.«

»Geht die Tür nach innen oder nach außen auf?« wollte Gunvald Larsson wissen. Sie überlegte. Schließlich sagte sie: »Nach innen.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja.«

»Wie viele Wohnungen gibt es im Hinterhaus?« fragte Beck.

»Tja, wohl vier oder so.«

»Und was ist im Erdgeschoß?«

»Eine Werkstatt.«

»Kann man die Tür zum Vorderhaus von den Fenstern aus sehen?« fragte Gunvald Larsson.

»Nein, den Riddarfjord. Und ein Stück vom Rathaus. Und das Königliche Schloß!«

»Jetzt reicht's!« sagte Gunvald Larsson. »Schafft sie raus.« Das Mädchen machte eine heftige Bewegung.

»Einen Augenblick«, sagte Melander.

Im Raum wurde es still. Gunvald Larsson sah Melander abwartend an.

»Darf ich nicht gehen?« fragte das Mädchen. »Ihr habt es mir versprochen.«

»Ja«, antwortete Melander. »Sie dürfen bestimmt gehen. Wir müssen nur vorher kontrollieren, ob Sie die Wahrheit gesagt haben, Ihretwegen. Aber ich habe noch eine Frage.«

»Ja, was denn?«

»Er ist nicht allein, nicht wahr?«

»Nein«, sagte das Mädchen sehr leise.

»Wie heißen Sie übrigens?« fragte Gunvald Larsson. »Das kann euch scheißegal sein.«

»Raus mit ihr«, sagte Gunvald Larsson.

Melander stand auf, öffnete die Tür zum Nebenzimmer und sagte:

»Rönn, wir haben hier eine Dame. Darf sie eine Weile bei dir im Zimmer warten?« Rönn erschien in der Türöffnung. Seine Augen waren gerötet. Ebenso seine Nase. Er betrachtete die Szene.

»Natürlich«, sagte er.

»Verzieh dich«, knurrte Gunvald Larsson.

»Ist sie ein Ehrengast?«

»Den Eindruck habe ich«, antwortete Melander, hielt die Tür auf und sagte höflich:

»Bitte schön.«

Das Mädchen stand auf und ging. In der Türöffnung blieb sie ste-hen und ließ einen eiskalten Blick von Gunvald Larsson zu Martin Beck wandern. Diese beiden hatten ihre Sympathie augenscheinlich nicht erringen können. Ein Fehler in der psychologischen Grundaus-bildung, dachte Martin Beck.

Dann sah das Mädchen Melander an und sagte zögernd: »Wer wird ihn festnehmen?«

»Wir«, antwortete Melander freundlich. »Dafür ist die Polizei ja da.«

Das Mädchen rührte sich nicht, sah noch immer Melander Schließlich sagte es: »Er ist gefährlich.«

»Was meinen Sie damit?«

»Sehr gefährlich. Er schießt. Bestimmt wird er mich umlegen.«

»Nicht so bald«, warf Gunvald Larsson ein.

Das Mädchen beachtete ihn nicht. »Er hat zwei Maschinenpistolen im Zimmer. Geladen. Und einen gewöhnlichen Revolver. Er gesagt…«

Martin Beck schwieg. Er wollte Melander die Antwort überlasse und hoffte gleichzeitig, daß Gunvald Larsson den Mund halte würde.

»Was hat er gesagt?« fragte Melander.

»Daß er sich niemals lebend fangen lassen wird. Und das meint er auch so.« Nach einigen Sekunden fügte sie hinzu: »Das wollte ich nur noch sagen.«

»Danke«, antwortete Melander und machte die Tür hinter ihr »So was«, staunte Gunvald Larsson.

»Beschaffe einen Durchsuchungsbefehl vom Staatsanwalt«, sag Martin Beck, sobald die Tür zu war. »Her mit dem Stadtplan!«

Die Blaupause des Stadtplans lag auf dem Tisch, noch ehe Melander sein kurzes Telefongespräch, das ihr Vorhaben legitimierte, beendet hatte.

»Es kann unangenehm werden«, meinte Martin Beck.

»O ja«, sagte Gunvald Larsson, zog die Schreibtischschublade auf, nahm seine Dienstpistole heraus und wog sie einen Augenblick lang in der Hand. Martin Beck trug wie die meisten schwedischen Polizeibeamten in Zivil die Pistole im Schulterhalfter, wenn er eine Waffe benötigte. Gunvald Larsson dagegen hatte sich einen speziellen Clip besorgt, mit dem er das Halfter am Hosenbund festmachen konnte. Nun befestigte er die Pistole über der rechten Hüfte und sagte: »Okay, ich nehme ihn selbst fest. Kommst du mit?«

Martin Beck sah Gunvald Larsson nachdenklich an, der gut und gerne einen halben Kopf größer war als er und riesenhaft wirkte, wenn er stand.

»Das ist die einzige Möglichkeit«, sagte Gunvald Larsson. »Wie denn sonst? Stell dir vor, wie eine Meute von Polizisten mit Maschinenpistolen und Tränengasbomben und schußsicheren Westen durch den Eingang quillt und über den Hof rennt, während er selbst wie ein Irrer durchs Fenster und ins Treppenhaus schießt. Oder willst du dich selbst, oder soll sich vielleicht der Polizeichef, der Reichspolizeichef oder der König hinstellen und ins Megaphon schreien: ›Sie sind umzingelt. Jeder Widerstand ist sinnlos.‹«

»Tränengas ins Schlüsselloch«, riet Melander.

»Das ist auch eine Idee«, antwortete Gunvald Larsson. »Aber sie gefällt mir nicht recht. Vermutlich steckt der Schlüssel von innen. Nein, Polizisten in Zivil auf der Straße, und zwei Männer gehen ins Haus. Kommst du mit?«

»Natürlich«, antwortete Martin Beck.

Martin Beck hätte lieber Kollberg bei sich gehabt, aber der Parkräuber war unzweifelhaft Gunvald Larssons Mann.

Die Luntmakargatan im Stockholmer Stadtteil Norrmalm ist eine lange, schmale Straße, überwiegend mit älteren Gebäuden. Sie führt von der Brunnsgatan im Süden zur Odengatan im Norden. In den Parterreräumen der Vorderhäuser gibt es viele gute Geschäfte, in den Hinterhäusern zahlreiche billige Wohnungen.

In weniger als zehn Minuten waren sie dort.