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Andersson. Gunvald Larsson legte den Kopf auf die Seite und betrachtete den Namen.

»Ja, das sieht wie Andersson aus«, sagte er. »Oder vielleicht wie Andersen. Oder Andresen. Verdammt noch mal. Am ehesten sieht es aus wie Andersson.« Andersson.

In Schweden gibt es 390 000 Menschen, die Andersson heißen. Allein das Telefonbuch von Stockholm weist 10 200 Fernsprechteilnehmer dieses Namens auf, zuzüglich weiterer 2 000 in der näheren Umgebung.

Martin Beck überlegte. Es konnte ein leichtes sein, die Anruferin mit Hilfe von Presse, Rundfunk und Fernsehen zu finden. Aber es konnte auch schwierig werden. Und bis jetzt war nichts in diesem Fall leicht gewesen.

Man wandte sich an Presse, Rundfunk und Fernsehen. Nichts geschah. Daß während des Sonntags nichts geschah, war erklärlich.

Als bis Montag vormittag elf Uhr noch immer nichts geschehen war, wurde Martin Beck nervös.

Herumzutelefonieren und von Tür zu Tür zu gehen, würde einen riesigen Arbeits und Personalaufwand erfordern, und das für eine Spur, die sich vielleicht als völlig wertlos erwies. Aber ließ sich die Arbeit irgendwie begrenzen? Eine sehr breite Straße. Es mußte irgendwo in der Innenstadt sein.

»Muß es das?« wiederholte Kollberg zweifelnd. »Natürlich nicht, aber…« »Aber was? Was sagt deine Intuition?«

Martin Beck sah ihn gequält an, richtete sich auf und sagte: »Der U-Bahn-Fahrschein, der in der Rädmansgatan gekauft wurde.«

»Und der durchaus nichts mit dem Mörder zu tun haben muß«, hielt ihm Kollberg entgegen.

»Er wurde an der Station Rädmansgatan gekauft und nur für die Hinfahrt benutzt«, sagte Martin Beck starrköpfig. »Der Mörder wollte ihn für die Rückfahrt benutzen. Er fuhr von der Rädmansgatan zum Mariatorget oder nach Zinkensdamm und ging das letzte Stück bis zum Tantolunden zu Fuß.« »Vermutung«, sagte Kollberg.

»Er mußte irgendeinen Trick anwenden, um den kleinen Jungen loszuwerden, der mit dem Mädchen zusammen war. Er hatte nichts anderes zur Hand als den Fahrschein.« »Vermutung!« »Aber logisch.« »Zur Not.«

»Außerdem wurde der erste Mord im Vanadislunden begangen. Alles hat irgendwie mit gerade diesem Stadtteil zu tun. Vanadislunden, Rädmansgatan, Vasastaden, Övre Norrmalm oder Sibirien.«

»Du hast es schon selbst gesagt«, meinte Kollberg trocken. »Es ist das reine Rätselraten.« »Wahrscheinlichkeitsprinzip.« »So kann man es natürlich auch nennen.« »Ich will diese Frau Andersson haben!« sagte Martin Beck. »Wir können nicht nur dasitzen und darauf warten, daß sie sich von selbst meldet. Sie hat vielleicht keinen Fernseher und liest vielleicht auch keine Zeitung. Sie muß aber auf jeden Fall ein Telefon haben.« »Muß sie das?«

»Ja, auf jeden Fall. So ein Gespräch führt man nicht von einem Geschäft oder von einer Telefonzelle aus. Außerdem hatte man den Eindruck, daß sie den Mann während des Telefonats beobachtete.« »Okay, in diesem Punkt gebe ich mich geschlagen.« »Und wenn wir herumtelefonieren und von Tür zu Tür gehen wollen, müssen wir irgendwo anfangen, innerhalb eines gewissen Gebietes. Da wir ja nicht genügend Leute haben, um jeden Menschen aufzusuchen, der Andersson heißt.«

»Kollberg schwieg eine Weile, dann sagte er: »Laß uns doch mal für einen Augenblick diese alte Frau Andersson vergessen und uns statt dessen fragen, was wir über den Mörder wissen.« »Wir haben eine Art Personenbeschreibung.« »Eine Art, ja, das ist wahrhaftig das richtige Wort. Wir wissen aber nicht, ob es der Mörder war, den dieser Lundgren gesehen hat -wenn er überhaupt irgend jemand gesehen hat.«

»Wir wissen, daß es ein Mann ist.«

»Ja. Was wissen wir sonst noch?«

»Wir wissen, daß er nicht als Sittlichkeitsverbrecher registriert ist«

»Ja. Vorausgesetzt, daß niemand geschlampt oder etwas vergessen hat. So etwas ist schon vorgekommen.«

»Wir wissen ungefähr den Zeitpunkt, an dem die Morde begangen wurden. Der im Vanadislunden kurz nach sieben Uhr abends und der im Tanto zwischen zwei und drei Uhr nachmittags. Er arbeitet also nicht.«

»Was besagt das?«

Martin Beck antwortete nicht.

Kollberg beantwortete die Frage selbst: »Daß er arbeitslos ist, Ferien hat, krankgeschrieben ist, zufallig auf Besuch ist, unregelmäßige Arbeitszeiten hat, pensioniert ist, herumlungert oder… kurz gesagt alles und nichts.«

»Das ist richtig«, stimmte Martin Beck zu, »aber wir haben eine Vorstellung von seinem Verhalten.«

»Du meinst das Geschreibsel der Psychologen?«

»Ja.«

»Das sind auch nur Vermutungen, aber…« Kollberg schwieg einen Augenblick, ehe er fortfuhr: »… aber ich muß zugeben, daß Melander einen sehr verständlichen Auszug aus diesem Gutachten gemacht hat.«

»Ja.«

»Schön, was nun diese Frau mit dem Telefongespräch betrifft, so laß uns versuchen, sie zu finden. Und da wir ja, wie du so treffend hervorgehoben hast, irgendwo beginnen müssen und weil wir uns sowieso nur blind vorwärtstasten, können wir auch ebensogut annehmen, daß du recht hast. Wie willst du es gemacht haben?«

»Wir beginnen im 5. und im 9. Revier«, sagte Martin Beck. »Setz einige Leute ein, die alle Anderssons anrufen, und einige, die von Tür zu Tür gehen. Sämtliche Beamte in diesen Revieren sollen au den Namen achten. Vor allem in breiten Straßen, wo Häuser mit konen sind. Odegatan, Karlbergsvägen, Tegnergatan, Sveavägen un so weiter.«

»Okay«, sagte Kollberg.

Sie machten sich an die Arbeit.

Es war ein abscheulicher Montag. Der »Große Detektiv Öffentlichkeit«, der am Sonntag wenig aktiv gewesen war, zum Teil, weil viele Menschen die Stadt verlassen hatten, zum Teil auf Grund der beruhigenden Appelle in den Zeitungen und im Fernsehen, trat wieder voll in Aktion. Die Zentrale für Hinweise aus dem Publikum wurde überhäuft mit Gesprächen von Leuten, die glaubten, etwas zu wissen, von Verrückten, die sich selbst bezichtigten, und von Witzbolden, die nur anriefen, um die Polizei zu verulken. Parks und Grünanlagen wimmelten von Polizisten in Zivil: Dazu kam nun noch die Suche nach jemandem, der Andersson hieß.

Und die ganze Nacht hindurch lauerte die Angst im Hintergrund. Viele Eltern riefen bereits bei der Polizei an, wenn das Kind mehr als fünfzehn oder zwanzig Minuten von zu Hause weg war. Alles mußte notiert und verglichen werden. Das Material wuchs und wuchs. Und blieb in allen Fällen gleich wertlos. Mitten darin rief Hansson vom 5. Revier an.

»Hast du wieder eine Leiche gefunden?« fragte Martin Beck.

»Nein, aber ich bin so unruhig wegen diesem Eriksson, auf den wir ein Auge haben sollen. Der Exhibitionist, den ihr festgenommen hattet.«

»Warum?«

»Er ist seit Mittwoch nicht zum Vorschein gekommen. Mittwoch hat er sich in verschiedenen Spirituosengeschäften mit Alkohol eingedeckt.«

»Und was dann?«

»Dann hat er noch ab und zu aus dem Fenster gesehen, soll wie ein Geist ausgesehen haben, sagen die Jungens. Aber seit gestern morgen hat ihn keiner mehr zu Gesicht bekommen.«

»Habt ihr an seiner Wohnungstür geklopft?«

»Ja, aber er macht nicht auf.«

Martin Beck hatte den Mann fast vergessen. Nun erinnerte er sich an den verstörten, unglücklichen Blick, die zitternden, ausgemergelten Hände. Er fühlte, daß es ihm kalt über den Rücken kroch.

»Verschafft euch Zutritt«, ordnete er an.

»Wie?«

»Mir gleich.«

Er legte auf und blieb sitzen, den Kopf in die Hände gestützt. Nein, dachte er, nicht auch noch das zu allem Elend. Nach einer halben Stunde rief Hansson wieder an.

»Er hatte den Gashahn aufgedreht.« »Und?«

»Ist unterwegs ins Krankenhaus, lebend.«

Martin Beck seufzte auf - erleichtert nannte man es wohl.

»Mit knapper Not«, berichtete Hansson. »Er hatte es sehr ordentlich gemacht. Die Türspalten verklebt und die Schlüssellöcher zugestopft, von der Wohnungs-, wie auch von der Küchentür.«

»Aber er wird durchkommen?«

»Ja, dank des Üblichen. Hatte nicht genug Geld eingeworfen. Aber hätte er noch eine Weile gelegen, dann…« Hansson schwieg, ohne den Satz zu beenden.

»Hat er etwas Schriftliches hinterlassen?«

»Ja. ›Ich halte es nicht mehr aus‹, stand auf dem Rand einer alten Porno-Zeitung.

›Ich habe mich an die Antialkoholiker gewendet.«

»Das hätte er längst tun sollen.«

»Tja, er pflegte eben sein Laster.« Einige Sekunden später setzte er hinzu: »Bis es ihn übermannte.«

Noch lagen viele Stunden dieses scheußlichen Montags vor ihnen. Gegen elf Uhr abends fuhren Martin Beck und Kollberg nach Hause. Gunvald Larsson auch.

Melander blieb noch. Alle wußten, daß er Nachtdienst verabscheute und daß der bloße Gedanke, von seinen zehn Schlafstunden auch nur eine entbehren zu müssen, ein Alptraum für ihn war; doch er sagte nichts, und er benahm sich genauso stoisch und unerschütterlich wie immer.

Nichts passierte. Man hatte mit vielen Frauen gesprochen, die An-dersson hießen, aber keine von ihnen hatte das ominöse Telefongespräch geführt.

Man hatte auch keine weiteren Leichen gefunden, und alle Kinder, die im Laufe des Tages als vermißt gemeldet worden waren, hatten sich wieder angefunden. Martin Beck ging zum Fridhelmsplan und fuhr mit der U-Bahn nach Hause. Auch an diesem Tag war alles gut gegangen. Nun war es eine Woche her seit dem letztenmal - oder fast eine Woche.

Er fühlte sich wie ein Ertrinkender, der gerade Grund unter die Füße bekommen hat, der aber weiß, daß es nur ein Aufschub ist, da die nächste Flut in einigen Stunden kommen wird.