Samstag
Kriminalhauptkommissar Frank Hackenholt verwünschte sich innerlich für seine spontanen Ideen – und das nicht zum ersten Mal. Vor rund drei Monaten hatte er seiner Freundin Sophie ein Schlemmer-Gutscheinbuch geschenkt, über das er an der Kasse seines Lieblingsbuchladens gestolpert war. Dabei handelte es sich um eins dieser in Mode geratenen kleinen Büchlein, die es neuerdings für jede Stadt gab: Neben diversen Gutscheinen, die niemand einlöste, der nicht gerade zufällig einen Fallschirmsprung absolvieren, Flugunterricht nehmen oder nach einem neuen Fitnessclub suchen wollte, stellten sich darin zahlreiche Restaurants der Umgebung vor und luden mit der Aktion »2 x essen – 1 x zahlen« zu einem preisgünstigen Kennenlernen ein.
Was Hackenholt, der die Idee mit dem Gutscheinbuch anfänglich für absolut genial gehalten hatte, beim Kauf entgangen war, war die Tatsache, dass es in dem Buch nicht nur Gutscheine für fränkische Lokale mit bodenständiger Küche gab, sondern auch für Mexikaner, Koreaner, Inder und sogar einen Afrikaner. Allesamt Geschmacksrichtungen, auf die er gerne verzichtet hätte. Nicht so jedoch Sophie, die in diesem Punkt ganz unfränkisch war und mit dem größten Vergnügen exotische Speisen ausprobierte. »Wos der Bauer ned kennd, frissder aa ned.« Der Spruch galt also eher für den aus Münster stammenden Hauptkommissar denn für die gebürtige Fränkin.
Mittlerweile ärgerte sich Hackenholt sogar schon darüber, Sophie anstelle des Gutscheinhefts nicht den »Schäufeleführer« geschenkt zu haben. Ein DIN-A6-kleines Büchlein, ganz in den Nürnberger Stadtfarben Rot und Weiß gehalten, das er bei seinem nächsten Besuch im Buchladen an der Kasse hatte liegen sehen und dem er nicht hatte widerstehen können.
Zunächst hatte er das Buch für einen Witz gehalten, den bisherigen Höhepunkt fränkischer Spinnereien. Zwar war ihm absolut bewusst gewesen, dass Schäufele mit Kloß das fränkische Nationalgericht war, das sonntags in keiner gutbürgerlichen Küche, die etwas auf sich hielt, fehlen durfte, doch fand er es zunächst mehr als übertrieben, deshalb gleich einen solchen Führer zusammenzustellen. Schließlich besaßen die Bayern auch keinen »Weißwurst-« oder die Schwaben einen »Spätzleführer«. Hackenholts anfängliches Amüsement hatte sich sogar noch gesteigert, als er las, dass die darin enthaltenen Restauranttipps von den »Freunden des fränkischen Schäufele n. n. e. V.« herausgegeben worden waren – wobei »n. n. e. V.« für »noch nicht eingetragener Verein« stand.
Zu diesem Zeitpunkt war für Hackenholt eins klar gewesen: Er musste dieses Büchlein kaufen, um es seiner Kollegin Saskia Baumann zu verehren und damit ihre fränkische Art ein wenig hochzunehmen. Am Abend hatte er zuerst aus Langeweile, später dann jedoch mit wachsendem Interesse darin herumgeblättert und beschlossen, die Empfehlungen des Führers selbst auszuprobieren, bevor er ihn weitergeben würde.
Über die vergangenen Wochen hinweg hatte er das Büchlein – und damit auch das fränkische Schäufele – so lieb gewonnen, dass er sich nicht nur ernsthaft überlegte, dem noch nicht eingetragenen Verein beizutreten, sondern dass es ihm auch immer schwerer fiel, sich zur Abwechslung zwischendurch auf Sophies Gutscheinbuch einzulassen. Die wenigen Male, die er sich dann doch überwand, nutzte Sophie daher schamlos zu ihren Gunsten aus: Sie reservierte in Lokalen, in die er sich unter normalen Umständen zu gehen geweigert hätte. Deshalb saßen sie an diesem Samstagmittag Mitte Juli nun gemeinsam im Garten eines afrikanischen Restaurants.
Allein die Tatsache, dass es in Nürnberg eine solche Gaststätte gab, verwunderte Hackenholt. Entweder waren die Franken doch nicht so eigen, wie ihr Ruf es ihnen nachsagte, oder der Laden musste ein Geheimtipp unter Kennern sein, da es ihn laut Hinweis in der Speisekarte bereits seit über zehn Jahren gab.
Sophie war schon restlos begeistert, als sie die Bedienung sah. Der Ober war so feingliedrig und seine Haut so dunkel, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Als Hackenholt und Sophie herauszufinden versuchten, was sich hinter den unbekannten Begriffen auf der Karte verbarg, lachten die Augen des Senegalesen sie die ganze Zeit über an, während er in einer verwirrenden Mischung aus Französisch, Deutsch und Fränkisch antwortete. Schließlich entschieden sie sich für eine große gemischte Platte, die einen Eindruck der unterschiedlichen Geschmacksrichtungen der senegalesischen Kulinarik bieten sollte. Hackenholt hoffte inständig, man würde ihm keine gebratenen Heuschrecken, Spinnen, Schlangen oder sonstiges Ungetier vorsetzen.
Die Wartezeit überbrückte er damit, Sophie zu überreden, am morgigen Sonntag einen Ausflug in die Fränkische Schweiz zu machen. Um genau zu sein, nach Leutenbach, da er in »seinem« Führer von einem exzellenten Brauereigasthof dort gelesen hatte – was er wohlweislich verschwieg, Sophie jedoch sofort erriet.
Im Geiste bereitete sich Hackenholt schon darauf vor, beim Eintreffen ihres Essens ein fröhliches, nun, notfalls zumindest interessiertes Gesicht zu machen, wobei er sich fest vor Augen hielt, dass auch dieses Lokal nur einen einzigen Gutschein im Buch hatte platzieren dürfen, der mit diesem Besuch aufgebraucht war. Kurz bevor der Moment der kulinarischen Wahrheit jedoch tatsächlich eintreten konnte, begann sein Diensthandy fröhlich zu piepsen.
Hätte ihn jemand gefragt, und wäre er ehrlich gewesen, hätte er zugeben müssen, dass er in diesem Augenblick inständig hoffte, es wäre etwas Dringendes. Etwas, das ihm einen Vorwand lieferte, das Restaurant fluchtartig zu verlassen. Als er Sophies bohrenden Blick auf sich fühlte, setzte er schnell sein Pokerface auf, bevor er das Gespräch annahm. Es war seine Kollegin Christine Mur, die Leiterin der Spurensicherung.
»Ich hoffe, ich störe nicht gerade beim Mittagessen, aber nachdem ja morgen erst Sonntag und damit Schäufele-Tag ist, dachte ich, dass ich es wagen kann, dich anzurufen.«
Für Mur, die im Präsidium wegen ihrer Ungeduld und eher mürrischen Art gefürchtet war, war eine so flapsige und ausführliche Begrüßung reichlich ungewöhnlich. Hackenholt wunderte sich.
»Was gibt es denn, Christine?«, fragte er misstrauisch.
»Einen toten Sandler im Lorenzer Reichswald«, antwortete sie nun wieder gewohnt knapp. »Kopfwunde oberhalb der rechten Schläfe. Allerdings könnte er in diesem unwegsamen Gelände auch einfach nur gestolpert und gestürzt sein. Kommst du trotzdem her, oder soll der Dauerdienst alles aufnehmen?«
»Nein, natürlich nicht. Ich mach mich sofort auf den Weg. Wo muss ich hin?«
Rasch gab Mur Hackenholt eine Wegbeschreibung durch, die er auf einer Serviette notierte, bevor er das Gespräch beendete.
»Das ist jetzt aber nicht dein Ernst!«, rief Sophie entgeistert. »Habt ihr das abgesprochen, damit du dich vor dem Essen drücken kannst?«
Hackenholt sah sie empört an. »So etwas würde ich doch nie machen!«
»Und wozu gibt es dann den Kriminaldauerdienst? Oder hat der am Wochenende vielleicht frei?«
»Natürlich nicht, aber wenn ich den Fall am Montagmorgen sowieso auf dem Schreibtisch liegen habe, ist es mir lieber, ihn gleich von Anfang an zu bearbeiten, als mich darauf verlassen zu müssen, was andere vorher vielleicht erledigt haben oder vielleicht auch nicht.«
So viel wusste sogar Sophie schon: Genau das war nun einmal Hackenholts Art. Wenn er einen neuen Fall übernahm, dann immer mit vollem Einsatz. Sie seufzte. »Grandios. Und was machen wir jetzt?«
»Wir zahlen und gehen.«
Sophie überlegte, dann schüttelte sie den Kopf. »Fahr du zu deinem Einsatz, ich bleibe hier. Ich habe mich die ganze Woche schon auf den Restaurantbesuch gefreut, jetzt will ich das Essen auch probieren. Und deine Portion kann ich mir ja einpacken lassen«, fügte sie mit einem fröhlichen Grinsen hinzu. Ganz so, als wäre es ihr gerade eben erst eingefallen.
Hackenholt fuhr Richtung Rehhof, bog vorher am Mögeldorfer Plärrer jedoch in die Schmausenbuckstraße ab, durchquerte die Unterführung und hielt dann auf der schnurgeraden Straße auf den Tiergarten zu. Unmittelbar vor dem Eingang teilte sich die Straße. Rechts ging es zu weiteren Parkplätzen und dem Wohnstift am Tiergarten in der Bingstraße. Hackenholt hielt sich links und folgte dem Weg in den Wald. Nach hundert Metern gabelte sich die Straße erneut: Rechts führte sie zum Hochbehälter Schmausenbuck, doch Mur hatte ihm eingeschärft, auf dem unteren, schmaleren Weg zu bleiben und immer weiter geradeaus zu fahren. An einen Baum genagelt entdeckte er schließlich auch das beschriebene hölzerne Straßenschild, das dem Waldweg den Namen »Sandweg« gab. Lange Zeit erstreckte sich rechter Hand ein alter Holzzaun. Überrascht las Hackenholt an einer Tafel neben einer Einfahrt, dass das Areal zum Naturkindergarten »Waldwichtel e. V.« gehörte. Der Mischwald war an dieser Stelle dicht gewachsen, sodass das Licht schummrig wurde, obwohl über den Wipfeln die Sonne von einem tiefblauen Himmel lachte. Hackenholt schaltete das Licht seines Autos ein. Endlich, auch wenn es objektiv nur wenige Minuten gewesen sein konnten, endete der Teerweg, und der Hauptkommissar erreichte eine Schneise im Wald, in der die Hochspannungsleitungen zum Umspannwerk in Rehhof verliefen, dann ging es wieder in den Wald. Hackenholt war schon an zwei Wegkreuzungen vorbeigekommen, bevor er an der nächsten den lang erwarteten Streifenwagen und die Fahrzeuge der Spurensicherung erblickte. Er parkte und stieg aus. Hatte er erwartet, die beiden im Streifenwagen sitzenden uniformierten Kollegen würden es ihm gleichtun, wurde er enttäuscht. Der Beifahrer ließ lediglich das Fenster hinunter und wies Hackenholt nach einer äußerst knappen Begrüßung an, immer geradeaus in das Dickicht zu gehen. Nach rund hundert Metern würde er an den Ort kommen, an dem der Spaziergänger die Leiche gefunden hatte.
»Und wer kümmert sich um den Mann?«, fragte Hackenholt irritiert. Das lethargische Verhalten des Kollegen ärgerte ihn.
Der junge Streifenbeamte zuckte nur mit den Schultern. »Ich nehme an, die von der Spurensicherung.«
»Ich meine nicht den Toten, sondern den Spaziergänger! Wer kümmert sich um den? Das ist wohl kaum Aufgabe der Spurensicherung!«, fauchte Hackenholt. »Vielleicht hätten Sie jetzt endlich die Güte auszusteigen, Herr Kollege, und mich zum Fundort zu bringen. Und Sie«, wandte er sich an den im Fahrersitz lümmelnden zweiten Beamten, »kümmern sich schleunigst um den Zeugen, den Sie bislang so sträflich vernachlässigt haben!«
Unbewusst war er dazu übergegangen, die Kollegen zu siezen. Nun trat er einen Schritt vom Auto zurück und sah die beiden auffordernd an, weshalb ihm auch nicht der vielsagende Blick entging, den sie sich gegenseitig zuwarfen, wobei der Jüngere entnervt die Augen verdrehte. Hackenholt beschloss, es dieses Mal nicht auf sich beruhen zu lassen, sondern eine offizielle Beschwerde zu schreiben. Immer wieder gab es mit den Kollegen von der PI Ost Probleme. Stand die PI West im Ruf, äußerst gewissenhaft und exakt zu arbeiten, stand die PI Ost im genau gegenteiligen. Nein, das stimmte so nun auch wieder nicht. Er durfte nicht anfangen zu verallgemeinern. Es gab nur ein paar einzelne Beamte, die immer wieder Sand ins Getriebe streuten und damit ihre gesamte Dienststelle, wenn nicht sogar den Polizeiapparat als solchen, in Misskredit brachten. Ein paar wenige, die die ganze gute Arbeit und die Bemühungen aller anderen Kollegen mit einem Schlag zunichtemachten, da sich das menschliche Gehirn in der Regel lieber an Pannen erinnert als an die Fälle, in denen alles glattgelaufen ist.
Hackenholt ließ den Kollegen den Vortritt. Obwohl sich mittlerweile vom häufigen Hin- und Herlaufen so etwas wie ein schmaler Trampelpfad gebildet hatte, war das Gestrüpp am Waldboden dicht. Die Streifenbeamten hatten ihre dicken Lederhandschuhe angezogen, um sich vor Kratzern an den Händen zu schützen. Immer wieder verfingen sich die spitzen Dornen von wild wuchernden Brombeerranken in den Hosenbeinen der Männer. Ein paarmal mussten sie auch über umgestürzte Baumstämme steigen, die noch vom letzten Sturm herumlagen. Hackenholt fragte sich, was wohl ein Obdachloser in dieser unwirtlichen Gegend gesucht haben mochte. Er hing dem Gedanken noch nach, als sie plötzlich eine kleine Lichtung betraten, auf der auf einem umgestürzten Baumstamm ein grauhaariger Mann saß, das hagere Gesicht Richtung Sonne gewandt. Zu seinen Füßen lag ein angeleinter Schäferhund, der aufsprang, als sich die Beamten näherten.
»Sie sind von der Mordkommission?«, fragte der Rentner sichtlich verwirrt, nachdem der ältere der beiden Uniformierten Hackenholt vorgestellt hatte. »Ja, ist der Mann denn ermordet worden?« Unwillkürlich drehte er sich um und sah in die Richtung, in der hinter einigen Baumstämmen die Kollegen von der Spurensicherung in ihren weißen Overalls zu erkennen waren.
»Nein, nein«, wiegelte Hackenholt schnell ab, »unsere Dienststelle heißt eigentlich Tote und Vermisste. Nur im Volksmund werden wir Mordkommission genannt.« Den bohrenden Blick ignorierend, den ihm der Streifenpolizist zuwarf, fuhr der Kriminalist fort: »Wären Sie jetzt so nett, die Kollegen zu ihrem Fahrzeug zu begleiten? Sie würden gerne Ihre Aussage zu Protokoll nehmen. Und ich möchte mich auch noch kurz mit Ihnen unterhalten, sobald ich hier fertig bin.«
Wortlos drehten sich die Streifenpolizisten um und schritten dem Mann voraus zurück zu den abgestellten Wagen. Hackenholt seufzte und überquerte die Lichtung, an deren Ende Christine Mur bereits auf ihn wartete.
»Reizende Bürschchen, nicht wahr?«, fragte sie statt einer Begrüßung. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie den entschwindenden Rücken der Streifenkollegen nach. »Haben den Mann mitsamt seinem Hund hier neben der Leiche alleine herumstehen lassen, während sie im Auto gesessen sind und auf uns gewartet haben. Aber denen habe ich es heimgezahlt.« Ein schiefes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich habe sie unsere gesamten Ausrüstungskoffer zum Fundort der Leiche schleppen lassen. Einen nach dem anderen. Und immer, wenn sie geglaubt haben, fertig zu sein, habe ich sie mit einem Koffer zurückgeschickt und dafür einen anderen holen lassen.«
Hackenholt seufzte erneut. Die Kollegen als Laufburschen zu missbrauchen, war auch nicht gerade die feine englische Art. Vielleicht würde er sich doch nicht über die Beamten beschweren. Als ahnte Mur seine Gedanken, machte sie eine wegwerfende Handbewegung. »Ich frage mich manchmal wirklich, was die heutzutage überhaupt noch auf der Polizeischule lernen! Aber mal ganz abgesehen davon, man braucht sich nicht zu wundern, wie wenig sie dazulernen, wenn man sie mit den unwilligsten Kollegen als Bärenführer losschickt.«
Hackenholt wurde ihres Monologs überdrüssig. »Was ist eigentlich Sache?«, fragte er.
Mur musterte ihn einen Moment lang mürrisch, dann entspannten sich ihre Gesichtszüge wieder. »Du hast ja recht«, murmelte sie, wandte sich um und ging ein paar Schritte in den Wald. »Ich bin froh, dass du hergekommen bist«, sagte sie über ihre Schulter. »Inzwischen habe ich nämlich ein paar Ungereimtheiten festgestellt.«
Sie ging neben dem Leichnam in die Hocke. Der Tote lag bäuchlings, der Länge nach ausgestreckt, im Laub des vergangenen Herbsts, das sich in einer grabenförmigen Senke im Waldboden angesammelt hatte. Von seinem Gesicht war nur wenig zu erkennen. Was nicht durch das strähnig herabhängende Haar verdeckt wurde, verbargen die Blätter. An der ausgestreckt daliegenden Hand erkannte Hackenholt, dass die Waldtiere den Toten schon geraume Zeit vor dem Spaziergänger entdeckt hatten.
»Wie lange liegt er schon hier?«
Mur zuckte mit den Schultern. »Wir warten noch auf den Gerichtsmediziner. Und bevor du fragst, wer kommt: Natürlich hat Dr. Puellen heute mal wieder Bereitschaft. Allmählich hätte ich schon gerne gewusst, ob er auch irgendwann mal frei hat. Na ja, vielleicht verirrt er sich ja im Wald, und wir sehen ihn nie wieder«, murmelte sie hoffnungsvoll.
»Christine!« Hackenholt klang ungeduldig. Zwar wusste er, wie wenig sie den Mediziner mochte, doch was sie gerade von sich gegeben hatte, ging eindeutig zu weit.
»Ist ja schon gut.« Sie holte tief Luft. »Wie du selbst siehst, ist das keine frische Leiche. Wahrscheinlich liegt er schon ein paar Tage. Vielleicht eine Woche? Keine Ahnung, ich bin kein Experte. Aber dem Grad der Fäulnis nach zu urteilen, muss der Tod schon vor einer Weile eingetreten sein. Es haben sich bereits Ödeme gebildet. Und das, obwohl es nur die letzten drei Tage warm war.« Sie wies mit ihren behandschuhten Fingern auf die Hand des Toten, auf der eine große Blase zu sehen war. »Komm da bloß nicht ran, wenn die aufplatzt, stinkt es gewaltig. Wir können wirklich froh sein, dass er hier im Wald liegt.« Behutsam strich Mur dem Toten ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, sodass eine Wunde in Höhe des Haaransatzes oberhalb der rechten Schläfe sichtbar wurde.
»Und welche Ungereimtheiten sind dir aufgefallen?«, fragte Hackenholt.
»Er hat nichts bei sich. Gar nichts. Keine Ausweispapiere, kein Geld, keine Zigaretten. Die Taschen von seinem Jackett sind leer, und das übliche Sammelsurium von Plastiktüten haben wir auch nirgendwo gefunden.«
»Könnten sich nicht vielleicht irgendwelche Tiere über die Tüten hergemacht haben?«
»Möglich, aber meiner Meinung nach eher unwahrscheinlich. Ein Sandler besitzt mehr als nur eine Tasche. Ich glaube nicht, dass in allen etwas Essbares war und sich irgendwelches Getier darüber hergemacht hat. Außerdem erklärt das nicht, warum er nichts in seinen Kleidertaschen hat. Zumindest ein paar Centstücke oder ein Streichholzheftchen hätte ich erwartet. Du weißt doch selbst, was die immer in ihren Jacken- und Hosentaschen spazieren tragen. Aber hier: Fehlanzeige.«
Hackenholt nickte versonnen. »Was er wohl mitten im Wald gesucht haben mag? Die Stelle hier ist doch ziemlich abgelegen.«
Mur wiegte ihren Kopf hin und her. »Das kommt dir nur so vor, weil du die Straße vom Tiergarten hergefahren bist. Wenn du dir das Gelände auf der Karte anschaust, wirst du sehen, dass es von hier aus nur ein Katzensprung bis nach Rehhof ist. Vielleicht eine knappe Viertelstunde bis zum nächsten Schrebergarten. Andererseits gebe ich dir schon recht: ein naturverbundener Sandler, der im Wald spazieren geht? Dass ich nicht lache!«
Hinter ihnen brach mit einem lauten Knacken ein Ast. Hackenholt fuhr erschrocken herum, doch es war nur Dr. Puellen, der sich den Weg durch das Unterholz bahnte – ohne die geschätzte Begleitung einer der beiden Streifenpolizisten, wie Hackenholt verärgert feststellte. Bei ihnen angekommen zuckte der Mediziner entschuldigend mit den Schultern. »Tut mir leid, ich wollte euch nicht erschrecken. Aber ich bin froh, dass ich euch überhaupt gefunden habe. Ich hatte schon Angst, mich hier zu verlaufen.«
Rasch warf Hackenholt Mur einen warnenden Blick zu, doch die hatte ausnahmsweise gar nicht vor, das Eingeständnis mit einer ihrer spitzen Bemerkungen zu kommentieren. Puellen breitete auf dem Boden ein kleines Tuch aus, das wie das Stück einer zerschnittenen Picknickdecke aussah, und kniete sich darauf neben dem Toten nieder. Hackenholt und Mur traten beiseite und ließen den Mediziner in Ruhe arbeiten.
»Außerdem ist auffällig, dass er nur einen Schuh anhat«, nahm Mur das Gespräch wieder auf, das durch Puellens Ankunft unterbrochen worden war. »Natürlich kann ein Fuchs oder ein Wildschwein dafür verantwortlich sein, aber wenn Letzteres den Mann gefunden hätte, sähe die Leiche jetzt anders aus.«
»Andererseits ist der Tote nicht verscharrt worden«, gab Hackenholt zu bedenken. »Wenn jemand eine Leiche loswerden will, dann vergräbt er sie normalerweise oder deckt sie zumindest mit Ästen und Laub zu.«
»Stimmt. Aber wir befinden uns hier in einem besonders schwer zugänglichen Waldstück. Schau dir nur die Brombeerranken an. Wenn jemand hier einen Toten ablädt, ist er wahrscheinlich davon überzeugt, dass der nie gefunden wird.«
»Du gehst also von einem Tötungsdelikt aus?«
Mur schnitt eine Grimasse. »Schlussendlich wird das nur Dr. Puellen feststellen können. Einstweilen bleibe ich bei meiner Theorie, dass ihn jemand hier abgeladen hat. Oder aber zumindest vor uns gefunden und seine Habseligkeiten an sich genommen hat.«
Hinter ihnen war ein Ächzen zu vernehmen. Dr. Puellen hatte den Toten umgedreht. Als Folge waren einige der Ödeme geplatzt, die nun einen intensiven Leichengeruch verströmten. Mur schnitt eine Grimasse und wich automatisch einen Schritt zurück.
»Gibt es irgendwelche Auffälligkeiten?«, fragte Hackenholt den Arzt. Er musste sich zwingen, näher heranzutreten.
Puellen blickte auf. »Er hat einige blaue Flecke und Kratzwunden, aber die würde man bei jedem erwarten, der sich hier durch das Dickicht gekämpft hat. Alles Weitere kann ich erst nach der Obduktion sagen. Woran er gestorben ist. Und auch wann«, fügte er schnell hinzu, als er sah, dass Hackenholt zu einer weiteren Frage ansetzen wollte.
»Ein bisschen mehr wirst du uns doch auch jetzt schon verraten können, Maurice. Was ist beispielsweise mit der Wunde an der Stirn?«
Der Mediziner seufzte. »Gerade die muss ich mir unter dem Mikroskop ganz genau anschauen, bevor ich sagen kann, ob er auf einen sehr harten Gegenstand gestürzt ist oder absichtlich niedergeschlagen wurde. Der Schädelknochen ist jedenfalls gebrochen. Habt ihr vielleicht einen Stein gefunden, auf den er aufgeschlagen sein könnte?« Puellen sah Hackenholt und Mur fragend an.
Die Leiterin der Spurensicherung starrte aus zusammengekniffenen Augen zurück und wies dann wortlos auf mehrere unmittelbar neben dem Mediziner halb aus dem Waldboden herausragende Felsblöcke.
»Und der ungefähre Zeitpunkt des Todes?«, fragte Hackenholt schnell nach, da er befürchtete, Mur würde sich bei Puellen doch noch erkundigen, ob er eigentlich Augen im Kopf hatte.
»Wenn er die ganze Zeit hier draußen gelegen hat, können es ein bis zwei Wochen gewesen sein. In einer geheizten Wohnung wären es dagegen wohl nur ein paar Tage.« Damit erhob sich der Rechtsmediziner endlich wieder, zupfte einige Kletten von seinen Hosenbeinen ab und legte die kleine Picknickdecke zusammen, bevor er sie in seinem Arztkoffer verstaute. Dann sah er sich suchend um. »Und wie komme ich jetzt von hier zum Auto zurück?«
Hackenholt lächelte. »Komm, ich begleite dich. Ich muss sowieso noch mit dem Spaziergänger reden, der den Toten gefunden hat.«
Bei den Fahrzeugen verabschiedete Hackenholt Dr. Puellen und sah sich suchend nach den zwei Streifenbeamten um. Sie waren mit ihrem Auto verschwunden, nur der Zeuge wartete mit seinem Hund noch geduldig neben Hackenholts Wagen.
»Falls Sie die beiden Polizisten suchen, die mussten dringend weg. Ich soll Ihnen ausrichten, dass sie Ihnen ihr Protokoll zusenden werden.«
Hackenholt sah auf die Uhr. Dreiviertel drei. Das konnte nur eins bedeuten: Die Kollegen hatten Frühschicht und wollten sich vor ihrem am gleichen Abend beginnenden Nachtdienst lieber eine Runde aufs Ohr hauen, statt noch Überstunden zu schieben. Während Hackenholt mit sich rang, ob er die beiden über die Einsatzzentrale zurückbeordern lassen sollte, kam ein weiterer Streifenwagen mit alten Bekannten den Waldweg entlanggeholpert: Christian Berger und seine Kollegin. Hatte der Einsatz mit den beiden unwilligsten Streifendienstlern der PI Ost begonnen, so wurden diese jetzt durch zwei äußerst engagierte und fähige Kollegen abgelöst. Mit einem Schlag verbesserte sich Hackenholts Laune um ein Vielfaches.
»Tut mir leid, dass wir nicht nahtlos an unsere Vorgänger anknüpfen konnten«, entschuldigte sich Berger zur Begrüßung, »aber wir wurden auf dem Weg durch einen Unfall aufgehalten.«
Hackenholt setzte die beiden grob über das Geschehene ins Bild und bat sie, zu Christine Mur in den Wald zu gehen. Schließlich musste die nähere Umgebung noch nach den Plastiktüten des Obdachlosen abgesucht werden. Dann wandte sich der Hauptkommissar endlich dem noch immer geduldig wartenden Hundebesitzer zu.
»Kommen Sie, setzen wir uns in mein Auto, dort tue ich mich mit dem Schreiben leichter. Und dann erzählen Sie mir mal, wie es kam, dass Sie den Mann gefunden haben.«
»Ich war mit Niko, meinem Hund, unterwegs«, erklärte der Rentner. »Seit ich in Pension bin, machen wir oft lange Spaziergänge. Und bevor Sie fragen: Niko war nicht angeleint. Er ist ein braves Tier, tut keiner Menschenseele was zuleide – und auch keinem Eichhörnchen. Außerdem hört er eigentlich immer aufs Wort. Aber heute ist Niko plötzlich ins Dickicht gerannt und hat ganz schauerlich zu bellen und winseln angefangen. Also bin ich hinterher, und da lag der Tote. Ich habe ihn natürlich nicht angefasst, sondern Niko schnell angeleint und auf den Weg zurückgezerrt. Anschließend habe ich mit meinem Handy den Notruf gewählt. Es war gar nicht einfach zu beschreiben, wo genau ich mich im Wald befand. Der Mann am Telefon hat sich nicht besonders gut ausgekannt und musste ewig in seinem Computer suchen. Na, und dann hat die Warterei begonnen, bis alle nacheinander eingetrudelt sind.«
»Kommen Sie öfter hier vorbei?«
Der Mann nickte. »Das ist quasi unsere Hausstrecke. Wir wohnen dahinten in Mögeldorf am Waldrand.« Er deutete mit der Hand aus dem Seitenfenster.
Unwillkürlich folgte Hackenholt mit seinem Blick der Richtung, in die der Spaziergänger zeigte, sah aber, wie nicht anders zu erwarten, nur Wald. Rasch machte er sich eine Notiz auf dem Schreibblock: Er musste sich das Gelände unbedingt auf der Karte ansehen, um ein Gefühl für die Entfernungen zu bekommen.
»Wann sind Sie zum letzten Mal hier spazieren gegangen?«
»Ach, das ist schon eine ganze Weile her.« Der Mann hielt inne und dachte kurz nach. »Gut und gerne zwei Wochen. Erst war ich krank. Hatte mir eine dieser Magen-Darm-Geschichten eingefangen und bin fast eine Woche lang nicht aus dem Haus gekommen. Ich kann Ihnen sagen …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Und dann gab es ja dieses Unwetter, wo es so schlimm geregnet hat und sämtliche Keller vollgelaufen sind. Da wird das Gebiet hier zur reinsten Seenlandschaft. Seien Sie bloß froh, dass das schon alles versickert ist, sonst hätten Sie so hohe Gummistiefel gebraucht, wie sie Angler beim Fliegenfischen tragen, wenn sie sich mitten in einen Fluss stellen.«
»Und als Sie zuletzt hier waren, ist Ihnen da schon etwas aufgefallen? Wollte der Hund vielleicht ins Gebüsch laufen?«
»Nein, da war nichts. Nicht wahr, Niko?« Er beugte sich zu dem vor der offenen Autotür sitzenden Hund und streichelte ihm über den Kopf. »Da ist er einfach nur durch den Wald gesprungen.«
Nachdem sich Hackenholt noch die Personalien des Rentners notiert hatte, verabschiedete er ihn, und der Senior zog mit seinem noch immer angeleinten Hund von dannen. Der Kriminalhauptkommissar stieg wieder aus dem Auto und machte sich auf den Weg zurück in den Wald.
»Brauchst du mich hier noch?«, fragte er Christine Mur ein paar Minuten später.
Sie schaute erstaunt auf. »Nein. Was sollte es hier für dich noch zu tun geben?«
Auf dem Weg ins Büro hielt Hackenholt an einer Imbissbude in der Ostendstraße und bestellte sich eine Pizza zum Mitnehmen, da die Kantine des Polizeipräsidiums am Wochenende geschlossen blieb. Er konnte sich allenfalls in die davor gelegene Cafeteria setzen, die sowieso nur aus ein paar Tischen und einem Süßigkeitenautomaten bestand, und einen Schokoriegel essen – aber darauf konnte er gerne verzichten.
Mit dem Pizzakarton bewaffnet ging er in sein Büro im zweiten Stock. Zugegeben, die Pizza schmeckte wohl vor allem deswegen so hervorragend, weil er immer wieder daran denken musste, wie knapp er dem Essen beim Afrikaner entronnen war.
Nachdem er sich gestärkt hatte, griff er zum Telefonhörer, um die erforderlichen Gespräche mit der Staatsanwaltschaft und der Pressestelle zu führen, die beide auch am Wochenende einen Bereitschaftsdienst stellten, der informiert werden wollte. Dann begann er die Vermisstenanzeigen im Computer durchzusehen. Zuerst mussten sie herausbekommen, wer der Tote eigentlich war – auch wenn Hackenholt wenig Hoffnung hegte, dass jemand einen Obdachlosen vermisst gemeldet hatte. Zu dünn war deren soziales Netzwerk, und zu gerne sahen die Mitbürger weg, wenn sie einem dieser verwahrlost wirkenden und zumeist nach Alkohol stinkenden Menschen mit leerem Blick begegneten.
Er sollte recht behalten: Zwei Stunden und rund sechzig Vermisstenanzeigen später, zunächst aus Mittelfranken, dann aus ganz Bayern, hatte er niemanden gefunden, auf den die Beschreibung des Toten passte. Es blieb Hackenholt also nichts anderes übrig, als in den Obdachlosenheimen anzurufen und nachzufragen, ob bei ihnen ein Bewohner abgängig war. Im Telefonbuch suchte er erst die Nummer für das Männerwohnheim des Sozialamts heraus und danach noch die der Heilsarmee. Gleich beim ersten Anruf erfuhr er eine Ernüchterung: Der Heimleiter brach in schallendes Gelächter aus, als Hackenholt ihn fragte, ob eines seiner Schäfchen verschwunden sei.
»Soll das ein Witz sein? Wir haben zwanzig Übernachtungsmöglichkeiten für Männer in der Notschlafstelle. Wer hier schlafen will, steht einfach vor der Türe. Unangemeldet. Und genauso verschwindet er am Morgen wieder – ohne sich abzumelden. Manche kommen am gleichen Abend wieder, manche suchen sich in einer anderen Einrichtung einen Unterschlupf. Im Winter sind wir immer voll, im Sommer, wenn das Wetter passt, schlafen viele lieber draußen. Bei unseren stationären Männern ist das natürlich etwas anderes. Je nach Angebot wohnen die sechs Monate oder zwei Jahre hier, aber von denen ist mir nicht zu Ohren gekommen, dass einer verschwunden ist.«
Auch die Beschreibung, die Hackenholt von dem Toten geben konnte, half nicht, da er zu Größe, Gewicht, Alter, Aussehen nur sehr vage Angaben machen konnte.
»So kommen wir nicht weiter«, stellte der Heimleiter fest. »Hat er denn nichts Auffälliges bei sich gehabt? Einen Hut mit einer Blume? Oder vielleicht ein ungewöhnliches Rollwägelchen für seine Taschen?«
»Nein, wir haben leider gar nichts gefunden.«
»Das ist aber komisch. Die meisten haben immer ihre gesamte Habe bei sich.« Der Mann dachte einen Moment nach. »Und wie schaut es mit einem Schließfachschlüssel aus? Manchmal sperren sie ihre Sachen am Bahnhof ein, wenn sie draußen schlafen. Das Wetter hat in den letzten zwei, drei Tagen ja dafür gepasst.«
Hackenholt verneinte. Auch einen Schlüssel hatte Mur in den Kleidertaschen des Toten nicht entdeckt.
»Tja, so am Telefon kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Sie müssten mir schon ein Bild zeigen«, erklärte der Heimleiter abschließend.
Hackenholt dankte ihm und legte auf. Auch bei seinem Gespräch mit dem Kapitän der Heilsarmee erging es ihm keinen Deut besser. Resigniert seufzte er, als er auflegte. Dann musste er am nächsten Tag eben den bei der Obduktion anwesenden Kriminaltechniker bitten, ein paar Bilder vom Toten zu machen, die man herumzeigen konnte. Außerdem hatte Christine Mur vielleicht schon im Wald Fingerspuren des Opfers genommen. Mit etwas Glück waren sie in der Polizeikartei gespeichert und erleichterten die Identifikation. Allerdings musste der Mann dafür früher einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten sein – und allen Vorurteilen zum Trotz waren das beileibe nicht alle Obdachlosen. Es gab genügend, die unter kriminalistischen Aspekten gesehen ein absolut unauffälliges und damit unbescholtenes Leben führten.
Bevor Hackenholt schließlich nach Hause ging, um sich Sophies Schwärmereien über das entgangene afrikanische Essen zu stellen, rief er noch seinen Kollegen Ralph Wünnenberg an und verabredete sich mit ihm für Sonntag um halb zwölf in der Dienststelle.