Sonntag
Der Sonntag begann mit strahlendem Sonnenschein, den Hackenholt allerdings nicht, wie ursprünglich geplant, mit Sophie bei einem Ausflug in die Fränkische Schweiz genießen konnte. Vielmehr musste er den Vormittag in einem steril wirkenden Obduktionssaal verbringen. Wie immer nahm sich Dr. Puellen viel Zeit. Lange betrachtete er die Kopfwunde, bevor er Hackenholt zu sich winkte und ihn durch das Vergrößerungsglas schauen ließ.
»Siehst du die kleinen bräunlichen Flecken da? Das sind Rostpartikel.«
Vorsichtig stellte er einige der winzigen Stücke in einer Petrischale sicher, bevor er sich daranmachte, Größe, Tiefe und Form der Verletzung genauer zu untersuchen.
»Verstehe ich das richtig: Der Mann wurde also niedergeschlagen und ist nicht über etwas gestolpert?«, fragte Hackenholt nach. Er wollte die Schlussfolgerung gerne explizit von Puellen hören.
Der Rechtsmediziner nickte zustimmend. »Hm-mh. Er wurde mit einem zylindrischen Gegenstand geschlagen. Der Durchmesser dürfte um die drei Zentimeter betragen. Einen Sturz auf einen Stein schließe ich aus. Dazu sind die Bruchkanten des Schädelknochens viel zu lang gestreckt und symmetrisch.« Der Mediziner hielt einen Augenblick inne. »Allerdings glaube ich nicht, dass der Mann sofort tot war. Bewusstlos ja, aber nicht tot. Schauen wir mal, was wir sonst noch finden.«
Hackenholt trat zurück. Während der nächsten Minuten blendete er das Geschehen so weit wie möglich aus. Zu oft schon hatte er Obduktionen beiwohnen müssen, um sich noch für jeden einzelnen Schritt zu interessieren und ihn gebannt zu verfolgen. Erst als er ein Geräusch hörte, das ihn an knirschende Schritte im Schnee erinnerte, trat er wieder näher. Die grauweißlich verfärbte Lunge des Toten war unnatürlich groß aufgebläht.
Verwirrt sah Hackenholt Puellen an. »Deutet das nicht auf einen Tod durch Ertrinken hin?«
Der Mediziner verzog den Mund zu einem breiten Grinsen, das wegen seines Mundschutzes jedoch nur zu erahnen war. Noch ein paar Jahre, dann würde er aus dem Ermittler einen passablen Rechtsmediziner gemacht haben. Er nickte zufrieden. »Und zwar in Süßwasser. Schau, hier in der Lunge ist weder Wasser noch Schaum, aber ich wette, dafür werden wir im Magen fündig werden.«
Hackenholt wandte sich ab und überlegte. Es hatte keinerlei Anzeichen dafür gegeben, dass der Mann nach dem Eintritt des Todes bewegt worden war. Die Lage der Totenflecke entsprach der Lage des Körpers beim Auffinden.
»Kannst du anhand von Wasseranalysen feststellen, in welchem Gewässer er ertrunken ist?«, fragte Hackenholt.
»Normalerweise geben Kieselalgen darüber Aufschluss, aber der hier sieht mir ganz und gar nicht nach einer Wasserleiche aus. Wenn einer schon bewusstlos ist, dann genügt ein Kinderplanschbecken mit einer Handbreit Wasser oder sogar eine Pfütze, um darin zu ertrinken.«
Hackenholt verfiel wieder in brütendes Schweigen. Hatte der Mann, der den Toten gefunden hatte, nicht erzählt, dass der Reichswald durch die starken Regenfälle vor ein paar Tagen in eine wahre Seenlandschaft verwandelt worden war?
»Dann kann es also sein, dass jemand den Obdachlosen niedergeschlagen hat und der dann in die mit Wasser gefüllte Mulde gefallen ist?«
Puellen grunzte zustimmend. »Stellt sich nur die Frage, wer einen Penner mitten im Wald niederschlägt. Und warum? Um ihn auszurauben?«
Als Hackenholt kurz vor Mittag von der Obduktion zurückkam, wartete Wünnenberg bereits im Büro auf ihn. Wie nicht anders zu erwarten war, hatte er sich die Zeit mit Kaffeekochen vertrieben, sodass Hackenholt beim Eintreten von den aromatischen Düften frisch aufgebrühten Arabicas empfangen wurde. Großzügig reichte Wünnenberg ihm eine Tasse.
»Ich habe mir gerade die bisherigen Berichte durchgelesen. Soll ich unsere Frau Chef-Spurensucherin gleich dazurufen?«
Hackenholt sah seinen Kollegen verblüfft an. »Ist Christine denn im Haus?«
»Allerdings. Sie kam vorhin hereingeschneit und hat mir eine ganze Thermoskanne Kaffee geklaut! Offenbar hat sie heute noch Größeres vor.«
»Na dann.« Hackenholt griff zum Telefonhörer.
»Und? Was hat die Obduktion ergeben?«, war das Erste, was Mur fragte, kaum dass sie den mitgebrachten Aktendeckel auf den Schreibtisch gelegt und sich von Wünnenberg eine weitere Tasse Kaffee gemopst hatte. »War der Mann betrunken und ist auf einen der Felsbrocken gestürzt? Allerdings konnten wir keine Blutanhaftungen finden.«
Hackenholt schüttelte den Kopf. »Er ist ertrunken.«
»Im Wald?« Wünnenberg konnte sein Erstaunen nicht verbergen.
Mur verdrehte gequält die Augen. »Schon mal was davon gehört, dass der Fundort nicht immer mit dem Tatort identisch ist, Ralph?« Sie hielt inne. »Allerdings hätten wir dann ein Problem mit den Totenflecken.«
»In diesem Fall könnte der Mann wirklich im Wald ertrunken sein«, erklärte Hackenholt und berichtete von der Obduktion und von den Vermutungen, die er zusammen mit Dr. Puellen aufgestellt hatte.
»Damit könntest du recht haben«, meinte Mur nachdenklich. »In der Mulde, in der die Leiche lag, war es unter der Laubschicht noch immer matschig. Möglich, dass sich dort das Wasser gestaut hat und er darin ertrunken ist. Allerdings hege ich Zweifel, ob er wirklich an dieser Stelle mitten im Wald niedergeschlagen wurde. Überlegt doch mal: Die Wunde wurde von einem rostigen, zylindrischen Gegenstand verursacht. Wahrscheinlich von einem Rohr. Niemand, der im Wald spazieren geht, trägt einfach so ein Rohr mit sich herum.«
»Wenn er einen Überfall plant, dann vielleicht schon«, protestierte Wünnenberg.
»Kein Mensch, der bei klarem Verstand ist, würde planen, einen Obdachlosen auszurauben.«
»Ach ja? Und wo sind dann seine Tüten?«
»Wahrscheinlich da, wo er niedergeschlagen wurde!« Mur raufte sich die Haare. »Schau, der Obdachlose wurde aus irgendeinem Grund an einem uns noch unbekannten Ort angegriffen. Anschließend bekam es der Täter mit der Angst zu tun. Er glaubte, der Mann sei tot, also hat er ihn ins Auto gepackt, ist in den Wald gefahren, hat ihn im dichtesten Gestrüpp in einer Mulde abgeladen und vielleicht noch mit einer Schicht Laub zugedeckt. Als es dann zu regnen anfing und das Wasser sich in der Senke gesammelt hat, ist der Totgeglaubte ertrunken, ohne noch mal das Bewusstsein erlangt zu haben.«
Hackenholt gab einen zustimmenden Laut von sich und stellte die Kaffeetasse ab. »So könnte es tatsächlich gewesen sein.« Versonnen sah er aus dem Fenster.
»Wie weit hat Dr. Puellen die Todeszeit eingrenzen können?«, wollte Mur wissen.
»Dafür, dass der Tote schon eine Weile im Wald lag, erstaunlich genau. Es gibt da ein neues immunhistochemisches Verfahren, das ein Gerichtsmediziner in Tübingen entwickelt hat. Es basiert auf dem Nachweis der Zersetzung von verschiedenen Proteinen im Körper.«
Mur zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Davon habe ich noch gar nichts gehört. Das muss ich heute Abend gleich mal nachlesen. Aber schade, denn ich hatte wirklich gehofft, endlich mal einen Forensiker kennenzulernen, der sich auf Entomologie spezialisiert hat und mir ein bisschen mehr über die Besiedlung von Leichen durch Insekten erzählen kann.« Sie seufzte enttäuscht.
»Nun, jedenfalls wurde unser Obdachloser vor sechs bis acht Tagen umgebracht«, kam Hackenholt auf die ursprüngliche Frage zurück. »Vielleicht können wir das Zeitfenster sogar noch weiter eingrenzen. Erinnert sich einer von euch, wann es geregnet hat?«
Mur wiegte den Kopf hin und her, während sie gedankenverloren mit einem von Hackenholts Kugelschreibern herumspielte. »Bei mir in Feucht hat es in den letzten zwei Wochen fast die ganze Zeit geregnet, aber nie so stark wie hier in Nürnberg.«
»Mal sehen«, murmelte Wünnenberg und rief im Internet seine Lieblingswetterwebseite auf. Mit ein paar Klicks gelangte er zur Vorhersage für Nürnberg und ließ sich unter der Rubrik »Rückblick« eine Tabelle der amtlich gemessenen Niederschlagsmengen anzeigen. »Also, am vorletzten Donnerstag hat es zwar geregnet, aber nur zwei Liter. Das ist nicht sonderlich viel. Am Freitag und Samstag gab es gar keinen Niederschlag, am Sonntag immerhin zwölf Liter, und am Montagabend war dieses schlimme Gewitter am Abend. Da gingen sage und schreibe zweiunddreißig Liter auf uns nieder. Dienstag waren es nur noch zwei, und seither ist es trocken.«
»Dann muss es wohl am Sonntag passiert sein, wenn Dr. Puellens Angaben stimmen. Oder vielleicht noch am Montag.« Hackenholt machte sich eine Notiz auf seiner Schreibtischunterlage. »Auf jeden Fall müssen wir jetzt erst mal herausfinden, wer der Tote überhaupt ist.« Er sah Mur fragend an.
»Dabei kann ich euch leider nicht helfen.« Die Leiterin der Spurensicherung erhob sich von ihrem Stuhl. »Ich habe die Fingerabdrücke beziehungsweise das, was davon noch übrig war, heute Nacht schon durch den Computer vom LKA laufen lassen. Kein Treffer. Sie sind nicht erfasst. Der Mann scheint ein unbescholtener Bürger gewesen zu sein.« Als Mur schon in der Tür stand, drehte sie sich noch einmal um und deutete mit dem Kuli auf den von ihr mitgebrachten Aktendeckel, den sie auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen. »Mein Kollege schickt euch ein paar Ausdrucke der Fotos, die er heute Morgen in der Rechtsmedizin vom Toten gemacht hat.«
Erst nachdem Mur das Büro verlassen hatte, bemerkte Hackenholt, dass mit ihr auch sein Stift verschwunden war. Wünnenberg sah ihn grinsend an.
»Mir stibitzt sie eine Kanne Kaffee, dir den Kuli. Kein Wunder, dass sie so unnatürlich gut gelaunt ist.« Dann wurde er wieder ernst. »Und was machen wir jetzt? Wohnheime abklappern?«
»Uns wird wohl nichts anderes übrig bleiben.«
»Dann suche ich mal die Liste mit den Adressen der Etablissements heraus.« Wünnenberg wandte sich seinem Computer zu, während Hackenholt den kleinen Stapel Bilder des Toten durchschaute.
Als sich nach ein paar Minuten der Drucker mit seinem charakteristischen Summen in Bewegung setzte und Seite um Seite ausspuckte, sah Hackenholt fragend von den Fotos auf. »Was, um Himmels willen, druckst du da eigentlich alles aus?«
Wünnenberg warf ihm über seinen Monitor hinweg einen verwirrten Blick zu. »Na, die Anschriften. Oder weißt du die Adressen von sämtlichen Obdachloseneinrichtungen in der Noris auswendig?«
»Gibt es denn so viele davon?« Hackenholt machte eine Bewegung in Richtung des Druckers. »Ich kenne das Wohnheim in der Großweidenmühlstraße und die Heilsarmee in der Gostenhofer Hauptstraße und in der Leonhardtstraße. Dann gibt es noch die ›Hängematte‹, aber die ist für Drogenabhängige, und das ›Sleep In‹ für Jugendliche. Die letzten beiden kommen in unserem Fall ja wohl nicht infrage.«
»Du warst also noch nie im ›Domus Misericordiae‹ der Caritas in der Pirckheimerstraße?«, fragte Wünnenberg in übertrieben erstauntem Tonfall. »Das ist eine Notschlafstelle für wohnungslose Männer. Außerdem gibt es noch fast zwei Dutzend Pensionen, in denen Obdachlose untergebracht sind, sowie viele angemietete Wohnungen, wobei dort eher Familien und Paare leben und kaum alleinstehende Männer. Viel wichtiger ist aber, dass wir auch in der Wärmestube der Stadtmission in der Köhnstraße nachfragen. Und in der ›Straßenambulanz Franz von Assisi‹ im Hummelsteiner Weg. Vielleicht können uns auch die Mitarbeiter vom ›Straßenkreuzer‹ in der Glockenhofstraße weiterhelfen, aber dort ist erst morgen wieder jemand zu erreichen.«
Hackenholt kniff die Augen zusammen. »Seit wann kennst du dich denn so gut mit Anlaufstellen für Obdachlose aus?«
Auf Wünnenbergs Gesicht erschien ein breites Grinsen. »Okay, du hast mich erwischt. Heute Vormittag, während ich auf dich gewartet habe, habe ich doch die bisherigen Informationen durchgelesen. Und als mir klar wurde, dass wir uns mit der Obdachlosenszene befassen müssen, habe ich Manfred auf dem Handy angerufen. Wenn einer eine Liste dieser Einrichtungen im Computer gespeichert hat, dann er. Da war ich mir sicher. Ich soll dir von ihm übrigens einen schönen Gruß ausrichten. Er ist gerade auf dem Rückweg vom Gardasee und hat angeboten vorbeizukommen, sobald er wieder in heimischen Gefilden ist. Ich habe ihm aber gesagt, dass er seinen letzten Urlaubstag noch genießen soll und es genügt, wenn wir uns morgen früh sehen.«
Hackenholt nickte und stellte wieder einmal fest, wie viel Spezialwissen in dem älteren Kollegen Manfred Stellfeldt steckte. So viele Fakten, die trotz intensiver Bemühungen keinem anderen Mitarbeiter der Dienststelle geläufig waren und die wohl mit Stellfeldts Pensionierung in ein paar Jahren dem Kommissariat unwiderruflich verloren gehen würden, denn die meisten Informationen ließen sich, anders als in diesem Fall, eben nicht in Listen festhalten.
Wünnenberg riss ihn aus seinen Gedanken. »Manfred besitzt übrigens nicht nur eine Adressenliste dieser Einrichtungen, sondern auch ein paar interessante Statistiken. Insgesamt gibt es rund eintausendfünfhundert Obdachlose in Nürnberg. Ungefähr fünfzig davon schlafen auf der Straße, die anderen sind in verschiedenen von der Stadt angemieteten Wohnungen, Pensionen und anderen Einrichtungen untergebracht.«
Als Erstes fuhren Hackenholt und Wünnenberg zur Heilsarmee in die Gostenhofer Hauptstraße, die dem Präsidium am Jakobsplatz am nächsten lag. Sie hatten Glück und fanden eine leere Parkbucht gleich rechts vom Eingang. Von außen sah das Gebäude unscheinbar aus, eher wie ein modernes Businesshotel. Nur die Videokameras sowie das dezent in luftiger Höhe an der Fassade angebrachte Logo der Heilsarmee verrieten die wahre Funktion des Hauses. Vor dem Gebäude, dessen ehemals altrosa Anstrich von den Abgasen grau geworden war, standen zwei Bäume. Die gläserne Schiebetür und der dahinter befindliche lange Empfangstresen erinnerten wiederum an ein Hotel. An der Rezeption wurden sie freundlich empfangen. Hackenholt blickte sich verstohlen um, während Wünnenberg nachfragte, ob der Leiter zu sprechen sei. Auch wenn die Räumlichkeiten etwas steril wirkten, waren sie immerhin in einem freundlichen Gelb gestrichen.
Der Kapitän der Heilsarmee ließ nicht lange auf sich warten. Hackenholt war überrascht, dass er auch am Sonntag anwesend war. Ohne lange Umschweife kam der Hauptkommissar zur Sache und zeigte dem Mann das mitgebrachte Bild des Toten.
Der Leiter musterte das Foto aufmerksam. »Im Tod sehen sie alle so anders aus.« Dann schüttelte er den Kopf. »Trotzdem bin ich mir sicher, dass ich den Mann hier bei uns noch nie gesehen habe. Aber wenn Sie möchten, kann ich das Bild in den kommenden Tagen unter den Mitarbeitern herumzeigen. Wir betreuen rund zweihundertfünfzig Männer und Frauen stationär in unseren Häusern. Von denen kenne ich die meisten persönlich, aber vielleicht hat er nur unseren Tagestreff aufgesucht. Das könnte durchaus sein, dann würde ich ihn wohl nicht wiedererkennen. Andererseits kann er natürlich auch in einer der anderen Notunterkünfte für Männer genächtigt haben. Kennen Sie die verschiedenen Anlaufstellen?«
Hackenholt bejahte, dankte dem Kapitän für seine Hilfe und gab ihm eine Visitenkarte mit der Bitte anzurufen, falls jemand den Mann erkannte.
Im Haus Großweidenmühlstraße, das von Insidern meistens nur »Männerwohnheim« genannt und vom Sozialamt betrieben wurde, dauerte es etwas länger, bis auf ihr Läuten hin jemand an der Pforte erschien. Dem Aussehen nach war es ein sehr junger Zivildienstleistender, der sie ins Büro führte. Seine Haare trug er zu einem modischen Iro gestylt, der zur Zeit bei den Teens und Twens wieder beliebt war, jedoch nur im Entferntesten etwas mit dem klassischen Irokesenschnitt der Punkszene zu tun hatte. Der Zivi betrachtete das Foto und nickte dann langsam.
»Ja, ich glaube, den habe ich hier schon mal gesehen. Einen Moment. Ich hole mal Rudi, unseren Sozialarbeiter. Der hat ein Gedächtnis wie ein Elefant.« Er griff zum Haustelefon und bat seinen Kollegen, ins Büro zu kommen.
Der Mann namens Rudi besah sich das Bild nur einen kurzen Augenblick, bevor er zu einem Aktenschrank ging und eine Schublade herauszog, der er mit gezieltem Griff einen Hängeordner entnahm.
»Das ist Heinrich Gruber. Dr. Heinrich Gruber. Alle nannten ihn nur Professor.«
»Dr. Heinrich Gruber?«, fragte Wünnenberg erstaunt. »Besaß er wirklich einen Doktortitel?«
Der Sozialarbeiter nickte und reichte Wünnenberg die schmale Akte, damit er sich die Personalien notieren konnte. »Wir sind verpflichtet, uns immer den Ausweis der Männer zeigen zu lassen, wenn wir sie bei uns aufnehmen, egal wie lange sie bleiben. Wenn ich mich richtig erinnere, war er Allgemeinmediziner.«
»Und wie kam es, dass er …?« Hackenholt machte eine Handbewegung, die das Gebäude umfasste.
»Wie es kam, dass er hier bei uns gelandet ist? Wohnsitzlos? Sozial geächtet? Alkoholabhängig? Ein Penner?« Der Sozialarbeiter lächelte traurig. »Sie müssen sich das als eine Art Teufelskreis vorstellen. Im Leben dieser Menschen passiert etwas Einschneidendes, das alles verändert und ihnen den Boden unter den Füßen wegzieht. Sie verlieren den Halt, flüchten sich in den Alkoholkonsum, der mit der Zeit immer weiter zunimmt. Sie verlieren ihren normalen Lebensrhythmus, und ihre Lage spitzt sich immer weiter zu. Was genau bei Herrn Gruber dazu führte, dass er aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurde, kann ich Ihnen nicht sagen. Er bat nur wenige Male bei uns um Aufnahme.« Der Mitarbeiter wies auf eine kurze Liste mit den Daten der Übernachtungen. »Ein sehr höflicher Mann. Wenn Sie Genaueres über seine Lebensgeschichte erfahren wollen, müssen Sie entweder seine Angehörigen finden, falls es noch welche gibt, oder mit den paar Kumpels sprechen, die er hatte. Ich erinnere mich, dass ich ihn ein paarmal in der Grünanlage am Friedrich-Ebert-Platz gesehen habe. Vielleicht wissen die Kollegen vom ›Domus Misericordiae‹ ja etwas. Wenn Sie sich nach ihm erkundigen, fragen Sie nach dem Professor. Unter seinem echten Namen kennt ihn auf der Straße wahrscheinlich niemand.«
Im Auto überflog Wünnenberg nochmals, was er sich aus den Akten über Dr. Gruber notiert hatte. »Zum letzten Mal hat der Professor vor über drei Monaten in der Schlafstelle übernachtet. Er muss also noch einen anderen Anlaufpunkt gehabt haben. Wollen wir es zuerst in dieser Notschlafstelle in der Pirckheimerstraße versuchen, oder fahren wir gleich zum Friedrich-Ebert-Platz?«
»Zum Friedrich-Ebert-Platz«, entschied Hackenholt. »Ist ja gleich nebenan, und ich habe Hunger. Wir könnten uns beim ›Piknik Pide‹ einen Döner holen und uns dann zum Essen in den Park setzen. Den wollte ich mir sowieso mal genauer ansehen, weil er wegen der Baumfällarbeiten im Herbst und der damit verbundenen Umgestaltung so häufig im Gespräch ist.«
Wünnenberg verzog das Gesicht, sagte aber nichts, sodass es Hackenholt überlassen blieb zu mutmaßen, ob ihm bei seinem Plan die Dönerbude oder der Park nicht zusagte. Höchstwahrscheinlich Ersteres, da dort zum Trinken allenfalls Tee angeboten wurde und kein Kaffee.
Sie betraten vom nordwestlichen Ende der Archivstraße aus den Park, den die Stadt Nürnberg 1941 der Colleg-Gesellschaft abgekauft hatte, um das im westlichen Teil stehende Gesellschaftsgebäude als Krankenhaus zu nutzen. Vorbei an der gigantischen U-Bahn-Baustelle gingen sie den von großen alten Bäumen beschatteten Weg entlang, bis sie die Bänke in der Nähe des Spielplatzes erreichten. Bis auf eine waren alle besetzt. Auf zweien lagen schlafende Stadtstreicher, auf einer anderen saßen drei weitere Obdachlose mit ihren Wein- und Bierflaschen, inmitten von zig Tüten und einem Einkaufswagen.
Wünnenberg warf Hackenholt einen Blick zu und schüttelte den Kopf. Er konnte sich hier nicht hinsetzen und im gemütlichen Miteinander sein verspätetes Mittagessen einnehmen. Die Ausdünstungen der ungewaschenen Körper und des Alkohols hingen wie eine Glocke über ihnen in der Luft. Hackenholt seufzte und nickte. Statt jedoch den Rückzug anzutreten, ging er auf die drei Stadtstreicher zu, stellte sich vor und fragte, ob sie den Professor kannten.
»Freili, en Brofesser kenner mer«, antwortete einer der Männer. »Obber unserer hod nix mied di Bolli zern dou. Unserer is er feiner Moh.« Die beiden anderen nickten schweigend.
»Waren Sie mit ihm befreundet?«, fragte Hackenholt unbeholfen. »Ich meine, können Sie mir etwas über ihn und sein Leben erzählen?«
»Naa, ieber unsern Brofesser derzill iech Ihner nix. Der is doch anner vo uns. Då doud mer nix ausblaudern.«
Hackenholt dachte kurz nach und beschloss, mit der Wahrheit herauszurücken. Er erklärte den Männern, dass im Wald ein Toter gefunden worden war, von dem die Polizei vermutete, dass es sich um den Professor handelte, und sie nun versuchten, seine Angehörigen zu finden, um sie zu informieren. Deshalb seien sie auf die Mithilfe seiner Kumpel angewiesen.
Der Obdachlose, der zuvor schon geantwortet hatte, kratzte sich ausgiebig an seinem Bart. »Also, sei Familie, däi kenn iech ned. Am besdn froongs ern Schorsch. Der is efders midn Brofesser zammgsessen.«
»Und wie erkenne ich den Schorsch?«
»Der is hald anner vo uns. Hod immer ern Wång derbei un ersou ern Houd aaf mied anner gelm Sunnerblummer. Masdns hoggder am Weißn Durm.«
Hackenholt bedankte sich für die Auskünfte und wandte sich zum Gehen.
»Herr Kommissår?«
Hackenholt drehte sich noch einmal um.
»Also, wenns Ihrn Döner in den Düdler ned essn wolln, also iech nemmerd nern fei schoo.« Die glasigen Augen des Stadtstreichers leuchteten verschmitzt auf. Ein bisschen machte er den Eindruck, als sei er selbst über seine Kühnheit erstaunt, einen Kripobeamten um sein Essen anzuhauen. Hackenholt war sich sicher, dass die Geschichte sofort die Runde machen würde, also drückte er dem Mann lächelnd seinen Döner in die Hand. Auch Wünnenberg zeigte sich großzügig und überließ seine türkische Pizza einem der vormals schlafenden Obdachlosen, die mittlerweile neugierig nähergekommen waren.
Als Hackenholt um kurz nach fünf endlich nach Hause kam, stand Sophie in der Küche. In der Röhre brutzelten zwei Portionsschäufele langsam vor sich hin. Natürlich hatte sie gewusst, dass der für diesen Tag geplante Ausflug in die Fränkische Schweiz maßgeblich dem Ziel hätte dienen sollen, eins der im Schäufeleführer vorgestellten Restaurants auszuprobieren.
Nachdem Hackenholt sich geduscht – wobei dies schon fast einer rituellen Waschung gleichkam – und umgezogen hatte, erzählte er Sophie zögerlich von den Obdachlosen und den beiden Heimen, die sie besucht hatten.
»Hast du dir in der Großweidenmühlstraße auch das Haus für Frauen angeschaut? Hausnummer 33?«
Hackenholt schüttelte erstaunt den Kopf. »Nein, wieso auch? Unser Toter ist doch ein Mann.«
»Ich rede ja auch nur vom Haus und nicht von seinen Bewohnern.« Sophie verdrehte die Augen. »Im Mittelalter, um genau zu sein 1528, wurde auf dem Gelände, das heute die Obdachlosen beherbergt, ein Pestlazarett eröffnet. Also in unmittelbarer Nähe vom Johannisfriedhof. Benannt wurde das Haus nach dem Pestheiligen Sankt Sebastian, und damit war das Sebastiansspital geboren, das wir Nürnberger zumeist nur ›Wastl‹ nennen.«
»Aber das ist doch ein Altenheim in der Veilhofstraße«, protestierte Hackenholt, der das »Wastl« nicht nur vom Hörensagen kannte, sondern auch schon selbst besucht hatte. »Und so alt, wie es aussieht, steht das schon seit Jahrhunderten dort.«
Sophie schüttelte entschieden den Kopf. »Als die Pest im 18. Jahrhundert keine so große Rolle mehr spielte, wurde die Anlage in der Großweidenmühle als Fürsorgeeinrichtung für Alte, Kranke und Arme genutzt. Der Umzug von Johannis nach Wöhrd fand erst nach dem Ersten Weltkrieg statt. 1909 ging das Grundstück neben dem Johannisfriedhof dann in öffentliche Hand über und wird seither als Asyl für Obdachlose genutzt. Das Männerhaus wurde in den fünfziger Jahren erbaut, aber das Gebäude, in dem heute die Frauen untergebracht sind, ist noch ein originales Überbleibsel aus dem Mittelalter.«