Dienstag
Am Morgen beschlossen Hackenholt und Wünnenberg, das schöne Wetter zu genießen und zumindest auf dem Hinweg nicht über die Autobahn nach Neumarkt zu jagen. Vielmehr fuhren sie nach Diepersdorf und folgten dann der Staatsstraße 2240, die sie über Altdorf nach Neumarkt führte. Wieder einmal bedauerte es Wünnenberg zutiefst, dass sich das Polizeipräsidium Mittelfranken hartnäckig dagegen sträubte, Cabriolets als Dienstwagen anzuschaffen. Dabei war das nicht immer so gewesen. Stellfeldt hatte ihm vor einiger Zeit an einem Freitagnachmittag ein paar uralte Fotos gezeigt, darunter auch eins, auf dem der Hof der Lenau-Wache zu sehen war – voller VW-Käfer mit heruntergeklapptem Verdeck.
Heinrich Grubers Schwägerin hatte Hackenholt am Vortag ihre Adresse gegeben. Sie und ihre Tochter wohnten in einer Neubausiedlung im Stadtteil Holzheim, im Norden von Neumarkt. Mit Hilfe von Wünnenbergs privatem Navigationsgerät – denn auch an diesem Punkt musste die Polizei sparen und konnte sich keine serienmäßigen Einbauten leisten – fanden die beiden Beamten die Straße problemlos. Das gesuchte Haus stand als letztes in einer Reihe von fünf Häusern an einer Ecke. Am Ende des Gartens führte der Radweg direkt am Alten Kanal entlang. Trotz der nahe gelegenen Staatsstraße war es hier herrlich ruhig.
»Gumoang«, begrüßte sie eine Frau Mitte zwanzig in breitestem Oberpfälzisch. »Sans äbba foo da Boolidsei?«
Hackenholt nickte und zeigte seinen Dienstausweis.
»Kumma’s doch eina, bittschee.« Sie führte sie ins Esszimmer. »Setz’ns Sa se. Ich rouf nu grod d’Mudda.«
Die Beamten nahmen auf der rustikalen Eckbank Platz.
»Mieng’s woos z’drinka?«
Hackenholt schüttelte den Kopf, doch Wünnenberg bat um einen Kaffee, wenn es keine Umstände mache. Die junge Frau winkte ab und verschwand lachend in der Küche.
»Kannst du die Befragung übernehmen?« Hackenholt sah seinen Kollegen flehentlich an. »Ich bin mir echt nicht sicher, ob ich alles verstehe. Ich habe ja so schon mit Saskias fränkischem Dialekt meine Schwierigkeiten, obwohl ich jeden Tag mit ihr rede, aber das hier ist ein ganz anderes Kaliber. Dabei hat die Mutter gestern am Telefon noch normal gesprochen.«
Wünnenberg grinste. »Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich alles verstehe, aber mit Händen und Füßen wird es schon gehen.«
Wie sich schnell herausstellte, waren ihre Befürchtungen unbegründet. Die Tochter setzte sich nicht zu ihnen, und die Mutter, Margot Kreuzeder, sprach auch heute fast perfektes Hochdeutsch. Sie war sichtlich schockiert, als Hackenholt ihr eröffnete, ihr Schwager sei Opfer eines Verbrechens geworden.
»Es waren also nicht sein Lebenswandel und der Alkohol?«
Hackenholt schüttelte den Kopf. Er hätte ihr gerne die Einzelheiten erspart, aber sie bestand auf einer Schilderung des Geschehens, zumindest soweit die Beamten es bisher rekonstruiert hatten. So schnell wie möglich schwenkte Hackenholt jedoch auf die Fragen um, wegen derer sie eigentlich nach Neumarkt gekommen waren.
»Können Sie uns etwas über Ihren Schwager erzählen, bevor er obdachlos wurde? Wo hat er gelebt? Was war er für ein Mensch?«
Frau Kreuzeder stand auf und nahm ein Fotoalbum von der Anrichte. Sie zeigte den Ermittlern Bilder von ihrer älteren Schwester Evelyn und Heinrich Gruber. Beide hatten sich Anfang der siebziger Jahre vermählt.
»Evelyn war erst knapp zwanzig Jahre alt, als sie heirateten, weil sie schwanger wurde. Allerdings wurde es dann ein Sternenkind.« Als sie Hackenholts verwirrten Blick sah, erklärte sie den Begriff: »Eine Totgeburt. Doch die schweißte die beiden nur umso stärker zusammen. Evelyn vergötterte Heinrich. Ende der siebziger Jahre wurde sie noch einmal schwanger, und Sonja kam gesund zur Welt. Alle waren glücklich.« Margot Kreuzeder schluckte schwer. »Im Sommer 2004 klagte Sonja dann immer wieder über Kopfschmerzen. Zwei Tage bevor sie einen Termin beim Neurologen hatte, brach sie am Frühstückstisch zusammen. Sie wurde sofort in die Universitätsklinik nach Erlangen gebracht, aber es war schon zu spät. Ihr Hirn hatte bereits aufgehört zu arbeiten. Wie man bei der Obduktion feststellte, hatte sich ein Tumor direkt am Hirnstamm gebildet. Meine Schwester litt sehr unter dem Tod ihrer Tochter, trotzdem schafften Heinrich und sie es erneut, sich gegenseitig über den Verlust hinwegzutrösten. In dieser Zeit waren sie oft bei uns. Ich lebte damals mit meiner Tochter und einem Untermieter in einer großen Wohnung direkt im Stadtkern von Neumarkt.« Wieder machte Frau Kreuzeder eine Pause. Die Finger ihrer linken Hand spielten nervös mit einem Ring an ihrer rechten. »Fast genau ein Jahr später wurde bei Evelyn Gebärmutterkrebs festgestellt. Sie wurde bestrahlt und operiert, aber es half nichts. Der Krebs war schon zu weit fortgeschritten. Heinrich ging nicht mehr in seine Praxis, sondern pflegte seine Frau. Bis zum Schluss. Als Evelyn im Spätherbst 2005 starb, brach für ihn die Welt zusammen. Seine Praxis betrat er nie wieder. Mit seiner Familie hatte er auch den Glauben an die Medizin verloren. Wie schlimm es um ihn stand, merkte ich erst, als er das Haus aufgeben musste, da er die Hypothekenzinsen nicht mehr bezahlen konnte. Von einem Tag auf den anderen stand er auf der Straße. Erst später erfuhr ich von ehemaligen Nachbarn, dass er mit Evelyns Tod zu trinken angefangen hatte. Ich bot ihm an, bei uns unterzukommen, aber er lehnte ab. Sein Leben auf der Straße betrachtete er als gerechte Strafe dafür, dass er weder seine Frau noch seine Tochter hatte retten können.« Bei den letzten Sätzen waren Frau Kreuzeder Tränen in die Augen getreten. Sie wandte sich ab und holte ein Taschentuch aus ihrer Strickjacke. Nachdem sie sich geschnäuzt hatte, fuhr sie fort. »Heinrich war ein herzensguter Mensch. Ein solches Ende hat er nicht verdient.«
Hackenholt räusperte sich. »Wo haben Ihre Schwester und Ihr Schwager zuletzt gelebt?«
»In Heroldsbach. Das ist in der Nähe von Forchheim. Meine Schwester und ich sind in Höchstadt an der Aisch aufgewachsen. Heinrich kam aus Nürnberg, weshalb er nach Sonjas und Evelyns Tod auch dorthin zurückgekehrt ist. Außerdem sagte er, als Penner würde es sich in der Großstadt besser leben lassen als auf dem Land.« Ihre Stimme brach. Schnell vergrub sie ihr Gesicht in dem Taschentuch. Nach ein paar Minuten hatte sie sich wieder gefasst. In ruhigerem Tonfall fragte sie: »Wie wird das mit der Beerdigung gehandhabt? Ich möchte, dass er anständig begraben wird.«
»Am besten wäre es, Sie rufen bei der städtischen Bestattungsbehörde in Nürnberg an, dort kann man Ihnen sicher weiterhelfen.« Hackenholt notierte die Telefonnummer auf einem leeren Blatt seines Notizblocks, riss es ab und reichte es Frau Kreuzeder.
»Eine letzte Frage hätte ich aber noch an Sie.«
Sie schaute auf. »Ja?«
»Hatte Ihr Schwager Feinde?«
Das kurze Lachen, das sie ausstieß, klang bitter. »Haben Sie mir überhaupt zugehört? Er war der liebenswerteste Mensch, den man sich vorstellen kann. Einer, der jedem half, wenn er nur konnte. Seine Patienten hat er besucht, egal ob es Tag oder Nacht, Samstag oder Sonntag war. Heute erreicht man ja keinen Arzt, wenn man ihn mal außerhalb der Praxisöffnungszeiten braucht. Die Familie war in der Dorfgemeinschaft sehr angesehen, und alle waren fassungslos, als …«, wieder begann sie zu schluchzen, »als das Unglück über sie hereinbrach.«
Auf dem Rückweg fuhr Wünnenberg auf der B 8 über Postbauer-Heng, Pfeifferhütte und Ochenbruck nach Feucht, bevor er dort auf die A 73 einbog. Sie kamen zügig voran, bis sie auf dem Frankenschnellweg in einen kilometerlangen Rückstau gerieten. An den Rampen hatte wieder einmal ein Lastwagenfahrer die Höhe seines Vehikels unterschätzt und war an der Unterführung hängen geblieben. Als sie endlich im Präsidium ankamen, begrüßte sie Saskia mit einem bedeutungsschweren Blick auf die Uhr.
»Un iech hob scho dengd, ihr wärd annerern Baggersee gfåhrn, un mir derferdn dou allans schwidzn.«
»Wenn du wissen willst, was wirkliches Schwitzen ist, dann stell dich jetzt mal gleich an den Rampen in den Stau. Und zwar in dem Dienstwagen, den wir gerade fahren durften. Bei dem funktioniert nämlich die Klimaanlage nicht. Ich brauche jetzt jedenfalls erst mal einen ordentlichen Kaffee.« Wünnenberg stapfte mit der Kanne zum Wasserhahn.
»Zunnerern Eiskaffee kennerdsd miech heid fei scho ieberredn!«, rief Saskia ihm nach.
»Gibt es etwas Neues, Manfred?«, wollte Hackenholt wissen.
»Nicht viel. Die Zeugenaufrufe sind in den Zeitungen erschienen. Ich habe die Artikel überflogen und sie dir auf den Schreibtisch gelegt. Bisher hat sich leider noch niemand gemeldet.«
Saskia Baumann erhob und streckte sich. »Gäider mied zern Essn? Aa wenns gscheid haaß is – iech hob ern gscheidn Kohldambf!«
»Was gibt es denn?«, fragte Wünnenberg neugierig, der wieder zurückgekehrt war.
»Des hobbder derfoh, wennder immer däi Drebbm nemmd! Wennder Aafzuuch fårerd nocherdla, kennerder in aller Rouh ern Schbeisezeddl ooschauer, der wou doddn hengd. Haid gibds Baggers mied Abflmus odder Schbageddi Bolonees.« Sie sah in die Runde. »Edz kummd hald. Iech brauch edzerd ann, mied den iech nåcherdla erweng ieber däi Kolleng lesdern kou, däi wou si widder ermol däi Soos iebers Hemmerd drenzd hom«, grinste sie fröhlich. »Odder ieber däi, wou si er Dischdeggn wäi er Gaafergollerla rumbindn.« Sie gluckste vor Lachen und erinnerte damit alle an einen älteren, ranghohen Kollegen, der seine Uniform vor der tückischen Tomatensoße hatte schützen wollen. In Ermangelung einer Serviette hatte er kurzerhand die Tischdekoration beiseitegeräumt und sich die darunterliegende kleine Zierdecke geschnappt und umgebunden.
Schlussendlich waren es nur Hackenholt und Stellfeldt, die sich der Herausforderung der Tomatensoße stellen wollten und Saskia begleiteten. Im Gänsemarsch stiegen sie die Treppe in den dritten Stock hinauf und wandten sich nach rechts. Durch die große Glasfront sahen sie, dass ausnahmsweise sogar in der vor dem Speisesaal liegenden Cafeteria reger Andrang herrschte. Unterbrochen von einigen kollegialen Begrüßungen gingen sie an der Garderobe vorbei und durch die sich anschließende Glastür. Als sie die Kantine betraten, kam ihnen ein Kollege von der Pressestelle entgegen, der sich freute, so unverhofft auf Hackenholt zu stoßen, und ihn in ein längeres Gespräch verwickelte. Stellfeldt und Baumann hatten sich schon fast bis zur Essensausgabe vorgearbeitet, als sich Hackenholt überhaupt erst in die Schlange einreihte. Vor ihm standen zwei Kollegen aus dem Kommissariat für Drogenkriminalität. Hackenholt mochte den Jüngeren von beiden, Sven Leichtle, recht gerne, der ihm sofort seine Gesellschaft anbot, da er dachte, Hackenholt sei allein zum Mittagessen gegangen. Sie überbrückten die Wartezeit, indem sie sich angeregt über Gott und die Welt unterhielten. Als sie jedoch auf ihre aktuellen Fälle zu sprechen kamen, machte Leichtle ein sorgenvolles Gesicht.
»Ich weiß nicht, ob du es schon gehört hast, aber im Moment haben wir wieder ganz schöne Probleme mit K.-o.-Tropfen.«
Hackenholt sah ihn erstaunt an. »Ich dachte, das Zeug wäre seit ein paar Jahren weitgehend ausgerottet, weil die Rohstoffe nicht mehr frei abgegeben werden dürfen?«
»Die kommen immer wieder auf neue Ideen, woraus man das Zeug mixen kann.« Leichtle schüttelte den Kopf. »Ganz klassische Vorgehensweise. In der Disko oder Kneipe sprechen sie die Opfer an und schütten ihnen entweder schon vor Ort etwas in den Drink oder fahren mit ihnen manchmal sogar noch in deren Wohnung, um dort gemeinsam etwas zu trinken, und betäuben sie dann. Sobald das Opfer bewusstlos ist, wird es ausgeraubt oder vergewaltigt.« Leichtles Ton zeigte deutlich, wie pervers er ein solches Vorgehen fand. »Unser Problem ist, dass es den Opfern danach erst mal so schlecht geht, dass sie nicht zur Polizei gehen. Sie leiden unter Kopfschmerzen, Übelkeit und diesen verdammten Erinnerungslücken. Und wenn sie dann endlich zu uns kommen, ist das Zeug, das man ihnen eingeflößt hat, meistens nicht mehr in ihrem Körper nachweisbar.«
Kaum saß Hackenholt nach überstandenen Spaghetti ohne Flecken wieder am Schreibtisch, klingelte sein Telefon. Eine junge Frau meldete sich.
»Ich habe das mit dem Obdachlosen in der Zeitung gelesen«, erklärte sie. »Na ja, und ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich ihn in der S-Bahn gesehen habe.«
»Und wann war das?«
»Am Freitag vor zwei Wochen. Ich bin am Mittag von der Arbeit nach Hause gefahren. Um kurz nach zwei.«
»War er in Begleitung? Oder hatte er etwas bei sich?«
»Er trug einen Rucksack, aber er hat es nicht geschafft, ihn sich aufzusetzen. Deswegen ist er mir überhaupt erst aufgefallen. Normalerweise schaue ich nicht so genau hin.« Sie verstummte. Das Eingeständnis schien ihr peinlich zu sein.
»Ja?«, fragte Hackenholt aufmunternd.
»Er wollte wie ich am Mögeldorfer Plärrer aussteigen, aber dann hat er immer wieder in die Luft gegriffen und den Arm nicht durch den zweiten Rucksackträger gebracht. Als ich es nicht mehr mit ansehen konnte, wie er sich abmühte, habe ich ihm geholfen. Er hat mir leidgetan.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Außerdem hatte er noch zwei oder drei Plastiktüten dabei.«
Hackenholt notierte sich die Personalien der Anruferin und dankte ihr für den Hinweis. Als er aufblickte, stand Saskia Baumann in der Tür.
»Bei mir hod groud anner aus dera Gleingaddnkolonie an der Langseeschdraß in Mögldorf oogrufm. Der hod gsachd, dasser vuurledzdn Samsdåch ern Sandler derwischd hod, wäi sis der in seinerer Laum hod begwem machn wolln. Beschwörn konners allerdings ned, dass des wergli der Moh wår. Auf alle Fäll hoddern wechgscheichd un seidher aa nemmer gsehng.«
»Kannst du noch mal bei dem Mann anrufen und fragen, ob der Obdachlose einen Rucksack und mehrere Tüten bei sich hatte? Und falls ja, klär bitte ab, ob es sich rentiert, jemanden von der Spurensicherung hinzuschicken. Wie es scheint, können wir nur anhand der Fingerabdrücke in der Laube feststellen, ob es sich bei dem Stadtstreicher wirklich um Heinrich Gruber gehandelt hat.«
Baumann nickte und verschwand wieder in ihrem Büro.
Einer Eingebung folgend holte sich Hackenholt die Tagebucheinträge der letzten Wochen auf den Bildschirm und durchforstete sie nach Einbrüchen in Gartenhäuser. Bingo! Er war fündig geworden. Schnell griff er zum Telefon und rief den zuständigen Kollegen an, der vor Ort gewesen war.
»Ich habe gerade im Tagebuch gelesen, dass euch vorletzte Woche ein Einbruch in ein Gartenhaus im Leo-Beyer-Weg gemeldet wurde. Kannst du mir ein bisschen mehr darüber erzählen?«
»Klar. Bei der Laube handelt es sich um ein richtiges kleines Haus mit zwei Zimmern und einer Küche. Alles aus Holz gebaut. Allerdings ohne Strom und Abwasser. Im Garten gibt es immerhin einen Wasseranschluss und ein Plumpsklo. Das Grundstück ist abgelegen und vom Weg aus wegen einer mannshohen Hecke nicht einsehbar. Den Einbruch haben der Eigentümer und seine Frau entdeckt, nachdem sie aus dem Urlaub zurückgekommen sind. Die Türe hatten sie zwar abgesperrt, den Schlüssel aber nur unter dem Blumenkasten am Fenster versteckt. Ich frage mich wirklich, ob die Dummen auf dieser Welt nie aussterben werden. Als sie wiederkamen, steckte jedenfalls der Schlüssel in der Türe und drinnen lagen überall Zigarettenkippen herum. Außerdem hatte sich der Eindringling aus Decken und Sitzkissen ein regelrechtes Lager gebaut. Es haben auch ein paar Konserven und ein Glas Instantkaffee gefehlt. Ach, und die Propangasflasche war leer. Meiner Vermutung nach hat sich da ein Penner ein paar schöne Tage gemacht. Und genau das habe ich den Besitzern gesagt. Auch dass sie sich nicht zu wundern brauchen, wenn sie den Schlüssel an einem so geheimen Platz verstecken.« Die Stimme des Kollegen troff vor Sarkasmus.
»Habt ihr irgendwelche Spuren gesichert?«
»Nö, wozu auch? Die Eigentümer haben schließlich eingesehen, dass sie selbst schuld waren, und von einer Anzeige Abstand genommen. Es ist ja auch nichts geklaut worden, und den Täter hätten wir sowieso nie erwischt.«
Schon gar nicht, wenn ihr es nicht einmal versucht, dachte Hackenholt bitter.
»Warum interessierst du dich überhaupt dafür? Einbrüche fallen doch gar nicht in dein Sachgebiet.«
»Dafür aber vermisste Personen«, gab Hackenholt ruhig zurück. Dann wurde seine Stimme schneidend: »Im Gegensatz zu dir würde ich nämlich schon gerne wissen, wer in dem Gartenhaus übernachtet hat.«
Nachdem Hackenholt das Gespräch grußlos beendet hatte, wählte er sofort die Handynummer des Laubeneigentümers. Geduldig erklärte er dem Mann sein Anliegen, wobei er ihm ausführlich die Möglichkeit schilderte, dass der ungebetene Gast vielleicht der Tote im Reichswald gewesen sei, dessen Aufenthaltsorte sie im Moment zu rekonstruieren versuchten. Schließlich erkundigte er sich, ob schon alle Spuren des unerwünschten Besuchers beseitigt worden wären.
»Oh, das tut mir wirklich leid«, entschuldigte sich der Mann, der seiner Stimme nach schon älter war. »Inzwischen hat meine Frau alles gründlich geputzt und gewaschen. Wissen Sie, um ehrlich zu sein, Ihre Kollegen haben keinen sonderlich interessierten Eindruck gemacht. Eigentlich haben sie nur immer wieder betont, wir wären selbst schuld und sie könnten da auch nichts machen.«
»Die Zigarettenkippen haben Sie auch schon entsorgt, oder?«
»Ja, die hat meine Frau als Allererstes aufgekehrt.«
»Und der Müll?«, fragte Hackenholt. »Haben Sie den schon fortgebracht, oder sammeln Sie ihn in einer Mülltonne im Garten?«
»Wir haben tatsächlich eine Tonne. Einen Moment, ich sehe rasch mal nach.« Hackenholt hörte Schritte, dann ein Rumpeln, dann, nach einiger Zeit, wieder Schritte. »Sie haben Glück. Meine Frau hat vergessen, die Tonne rauszustellen. Die Mülltüten sind noch alle hier.«
Hackenholt bedankte sich überschwänglich und versprach, sofort eine Kollegin vorbeizuschicken.
An diesem Nachmittag klingelte Hackenholts Telefon noch oft. Ganz so unbemerkt, wie man gemeinhin annahm, blieben Obdachlose also doch nicht. Drei Besucher des Tiergartens hatten Heinrich Gruber mit zwei »Kollegen« an der Endhaltestelle der Straßenbahn sitzen sehen, die Mitarbeiterin eines Discounters in der Laufamholzstraße erinnerte sich, dass er an ihrer Kasse bezahlt hatte. Einen besonders hilfreichen Anruf erhielt Hackenholt vom Kapitän der Heilsarmee, wo mittlerweile der Zeugenaufruf am Schwarzen Brett ausgehängt worden war. Der Heimleiter berichtete, zwei der Bewohner, von denen keiner selbst die Polizei anrufen mochte, hätten sich erinnert, mit dem Professor noch am Samstagabend am Mögeldorfer Plärrer etwas getrunken zu haben. Die Aussage war sogar von einer Sozialpädagogin des Hauses bestätigt worden, die den Männern auf dem Nachhauseweg begegnet war.
Hackenholt begann ein Zeitschema für die vergangenen Wochen zu erstellen und trug akribisch die Orte und die Zeiten ein, wo und wann Heinrich Gruber gesehen worden war. Auf diese Weise hoffte er nicht nur, den Zeitpunkt des Todes genauer eingrenzen, sondern auch analysieren zu können, wo sich das Opfer aufgehalten hatte – und mit wem.
Bei der nachmittäglichen Dienstbesprechung kam er denn auch genau darauf zu sprechen. »Wie es ausschaut, war Herr Gruber nicht immer alleine unterwegs. Wir müssen morgen unbedingt mit den zwei Obdachlosen sprechen, mit denen er am Samstagabend getrunken hat. Dank der Sozialarbeiterin wissen wir, dass es wirklich Samstagabend war.«
»Maansd gwieß, dass nern umbrochd hom?«, fragte Saskia Baumann skeptisch.
»Es wäre zumindest nicht das erste Mal, dass ein Streit unter Betrunkenen eskaliert und tödlich endet.« Wünnenberg schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein.
Stellfeldt schüttelte den Kopf. »Wenn Obdachlose sich prügeln, dann schaut das anders aus. Wenn da einer den anderen niederschlägt, würde er ihn einfach liegen lassen und weglaufen. Ganz bestimmt käme er nicht auf die Idee, ihn in den Wald zu bringen.« Seine Hand wanderte zu seiner Glatze und rieb diese, was er immer tat, wenn er intensiv nachdachte. »Viel eher könnte ich mir vorstellen, dass ihn ein Häuslebesitzer überrascht hat, als Gruber ein Nachtlager suchte. Der hat ihn dann niedergeschlagen und voller Panik in den Wald gebracht.«
Es entstand eine kurze Pause, in der alle Anwesenden über die Theorie des Kollegen nachdachten.
»Ich habe mir das Gebiet vorhin mal auf der Karte angeschaut«, fuhr Stellfeldt fort. »In Mögeldorf und Laufamholz gibt es mehrere Kleingartenkolonien. In Rehhof reichen die Schrebergärten sogar bis dicht an den Rand des Lorenzer Reichswalds. Vielleicht ist den Pächtern dort ja etwas aufgefallen? Wenn wir mit unserer Vermutung richtigliegen, hat Heinrich Gruber im Sommer immer mal wieder in einer leeren Gartenlaube oder einem einsamen Gärtchen übernachtet. Ich finde, es ist auf alle Fälle einen Versuch wert, die Gartenkolonien abzuklappern.«
»Und wie willst du die Leute erreichen? Die wenigsten sind Rentner, die halten sich nicht jeden Tag in ihrem Garten auf«, wandte Wünnenberg ein.
»Bei den Wedder scho. Däi mäin doch ihre Gärddla gäißn, sunsd verdroggna ina ihre Bflanzn. Iech kennd heid Åmd ermål hiifåhrn. Afm Heimwech nåch Herschbrugg kumm iech suuwäisuu fasd dro vorbei.«
»Ich begleite dich, auch wenn ich in genau der entgegengesetzten Richtung wohne«, bot Stellfeldt an. »Du kannst mich ja dann an der S-Bahn-Station in Rehhof absetzen. Außerdem sollten wir genaue Informationen vom Wetterdienst darüber einholen, wann es an dem Wochenende in Nürnberg geregnet hat. Am besten wären natürlich Daten speziell für das Gebiet um den Tiergarten herum. Nicht immer regnet es überall in der Stadt gleich stark. Bisher haben wir nur die groben Angaben von dieser Wetterwebsite«, erinnerte Stellfeldt die Kollegen. »Aber in diesem Fall spielt der Niederschlag eine entscheidende Rolle.«
»Wissmer eichendlich scho sicher, ob der Brofesser im Wald dersuffm is?«, fragte Baumann nach einer Weile. Seit Anbeginn der Ermittlungen nannte sie den Toten ausschließlich bei seinem Spitznamen, weil er ihr so gut gefiel.
»Nein, die Laborergebnisse liegen noch nicht vor.« Hackenholt schüttelte den Kopf. »Trotzdem hat Manfred recht, wenn er sagt, dass dies ein Punkt ist, den wir noch genauer recherchieren müssen, da er eine wichtige Rolle spielt.« Hackenholt blickte auf die Uhr. »Jetzt müsst ihr mich aber entschuldigen, ich werde erwartet. Sophie hat einen Termin mit einem Makler ausgemacht.«
»Allmächd naa, nocherdla vill Glügg! Der wäivillde isnern des scho? Ihr souchd doch scho seid Februår nocham Haisla.«
Hackenholt winkte ab. »Der zwanzigste? Fünfundzwanzigste? Ich habe schon aufgehört zu zählen. Es ist wirklich erschreckend, was die einem unterjubeln wollen. Entweder sind die Häuser so heruntergekommen, dass man sie nur noch abreißen kann, oder völlig überteuert.« Resigniert schüttelte er den Kopf.
»Und das trotz der Wirtschaftskrise?«, fragte Stellfeldt.
»Wahrscheinlich sollten wir mit dem ganzen Unterfangen sowieso noch ein, zwei Jahre warten, bis sich die Lage wieder entspannt hat. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob wir Sophies Wohnung im Moment überhaupt verkaufen könnten.« Hackenholt seufzte.
»Zäichd hald naus aafs Land. Bei uns in Herschbrugg gibds ern Haafn alde Haiser – un billich, souch iech dir.«
»Weißt du, Saskia, ich habe mir das auch schon überlegt. Mit der S-Bahn wäre ich ja auch schnell in der Stadt. Aber Sophie reizt diese Vorstellung leider überhaupt nicht.« Damit erhob sich der Hauptkommissar und verließ zügig das Büro.
Sophies Blick verdüsterte sich, kaum dass sie das Häuschen im Gefolge des Maklers betraten. »Das darf doch wohl nicht wahr sein«, murmelte sie leise. Nicht nur handelte es sich um einen Massentermin – außer ihnen waren noch zehn weitere Interessenten anwesend –, vielmehr hatte der Mann in seinem Exposé das Blaue vom Himmel heruntergelogen. Die modernisierte Zentralheizung war vielleicht 1970 modern gewesen, die angeblich erneuerten Stromleitungen mündeten in einem vorsintflutlichen Sicherungskasten, das sanierte Dach war vermoost, und an den Dachschrägen im ersten Stock legten Wasserflecken ein stummes, aber umso eindrucksvolleres Zeugnis davon ab, dass es undicht war. Mit hängenden Schultern blickte Sophie zu Hackenholt. Er fasste sie an der Hand und zog sie sanft Richtung Haustür. Ohne den Makler eines weiteren Blicks zu würdigen, verließen sie das Anwesen.
Draußen legte er den Arm um Sophie und drückte sie an sich, da ihr die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben stand.
»Tut mir leid«, murmelte sie zerknirscht. »Auf dem Bild sah es von außen wirklich schön aus.«
»Vielleicht sollten wir doch mal etwas weiter außerhalb schauen?«, schlug er vorsichtig vor.
»Nur über meine Leiche!« Wie Hackenholt erwartet hatte, wich sie entsetzt ein Stück von ihm zurück. »Was soll ich denn da draußen in der Pampa, wo man für jeden Schritt und Tritt ein Auto braucht und generell erst mal mindestens eine halbe Stunde fahren muss, bis man wieder den Rand der Zivilisation erreicht? Und im Winter musst du wahrscheinlich einen eigenen Schneepflug haben, wenn du das Haus verlassen willst.« Vehement schüttelte sie den Kopf. »Lohe, Almoshof, Höfles, von mir aus auch noch Neunhof oder Kraftshof, das lass ich mir ja noch eingehen, aber alles andere …«
Hackenholt musste lachen. Sanft zog er Sophie wieder zu sich und küsste sie auf die Augenbraue.
»Okay, das war zwar gerade ein klitzekleines bisschen übertrieben«, gab sie schließlich zu, »aber trotzdem: Wir finden schon noch etwas in der Stadt!«
»Die Frage ist nur, ob wir bis dahin so weitermachen wollen wie bisher.« Hackenholt war ernst geworden. »In meiner Wohnung war ich schon seit weiß Gott wie lange nicht mehr. Eigentlich gehe ich sowieso nur noch zum Lüften und Blumengießen hin, oder wenn ich mal einen Blick in eins meiner alten Bücher werfen will. Es rentiert sich nicht mehr wirklich, die Wohnung zu behalten.«
»Hm-mh«, stimmte Sophie ihm zu. »Aber wo sollen wir bei mir all deine Bücher und Möbel hinstellen? Da ist kein Platz, und der Keller ist einfach zu feucht, dort unten würde nur alles kaputtgehen.«
»Vieles würde ich sowieso nicht mitnehmen, wenn wir zusammenziehen. Schließlich brauchen wir nicht alles doppelt. Ich könnte schon mal anfangen auszusortieren, und die Sachen, die ich behalten möchte, müsste man dann eben einlagern. Das käme auf jeden Fall billiger, als weiterhin Miete zu zahlen. Und wenn ich sehe, was in einem Häuschen, das wir uns leisten können, so alles renoviert werden muss, dann fürchte ich, dass wir bald jeden Cent umdrehen müssen, den wir in die Finger kriegen.«
Sophie strahlte ihn an. »Heißt das, du würdest jetzt so richtig zu mir ziehen?«, fragte sie glücklich.
Hackenholt nickte. Sophie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Soll ich schon mal Umzugskartons besorgen?«, fragte sie voller Vorfreude.