Mittwoch

Hackenholt stand am geöffneten Fenster und blickte in den Garten hinaus. Eine leichte Brise wehte ihm sommerlich warme Luft ins Gesicht. Und das schon morgens, kurz nach Sonnenaufgang. Es würde wieder ein heißer Tag werden. Er war vom aufgeregten Gezwitscher einer Amsel geweckt worden, die sich über eine streunende Katze ereifert hatte, die ihrem Nest zu nahe gekommen war. Kaum war der Hauptkommissar ans Fenster getreten, hatte sich die Katze davongemacht. Natürlich. Er wandte sich ab, ging leise zum Bett zurück, schaltete den Wecker aus, der noch lange nicht geklingelt hätte, und schlich sich ins Bad. Sophie schlief tief und fest. Sie war noch immer ein Morgenmuffel, wenngleich sie nicht mehr ganz so ungnädig auf das morgendliche Läuten seines Weckers reagierte wie in den ersten Wochen, die er bei ihr übernachtet hatte.

Hackenholt setzte sich zum Frühstücken auf die Terrasse und blätterte in der Zeitung. Das Sommerloch begann allmählich. Halt! Nein! Sie waren schon mittendrin. Womit sonst konnten Zeitungsartikel wie diese gerechtfertigt werden? Einzig die Politiker schienen dieses Jahr nicht in die Sommerpause gehen zu wollen. Stattdessen zog jeder gegen jeden ins Feld. In einer Woche ging es um die Skandale der norddeutschen Atomkraftwerke, in der nächsten um eine etwaige Erhöhung der Lebensarbeitszeit auf neunundsechzig Jahre bis 2060. Was Hackenholt allerdings viel stärker bedrückte, war die Frage, wie sich die Wirtschaftskrise langfristig auf die Polizei auswirken würde. Auf den Freistaat kamen gewaltige Verluste in den Steuereinnahmen zu. Schon jetzt wurde bei der Polizei an allen Ecken und Enden gespart – und zwar zumeist mit schlafwandlerischer Treffsicherheit dort, wo seiner Meinung nach keinesfalls der Rotstift angesetzt werden durfte. Das Bestreben, den Polizeiapparat allein unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten zu begutachten und entsprechend zu modifizieren, war schlicht und ergreifend der falsche Ansatz. Sie waren kein produzierendes Gewerbe, und die Arbeit eines Streifendienstlers konnte man nicht an der Anzahl der geschriebenen Knöllchen messen.

Bevor seine gute Laune endgültig verflog, legte Hackenholt die Zeitung beiseite, brachte seine Kaffeetasse in die Küche zurück und schwang sich auf sein Fahrrad. Seit einigen Wochen war er dazu übergegangen, so oft wie möglich den Drahtesel zu nutzen. Nicht nur weil die Fahrerei ihn fit hielt – er ging schließlich nach wie vor einmal pro Woche mit Wünnenberg zum Squash und in unregelmäßigen Abständen joggen –, der Hauptgrund war, dass den Bediensteten des Polizeipräsidiums Mittelfranken so gut wie keine Parkplätze mehr zur Verfügung standen. Natürlich gab es unter dem Gebäude eine mehrgeschossige Tiefgarage, doch dort parkte ein Großteil der Einsatzfahrzeuge der verschiedenen Fachdezernate. Die Sparmaßnahmen hatten auch dazu geführt, dass das benachbarte Grundstück in der Schlotfegergasse seit der Polizeireform nicht mehr weiter angemietet und schließlich vom Eigentümer bebaut worden war.

Im Innenhof des Präsidiums stellte Hackenholt sein Rad in einem noch relativ leeren Fahrradständer ab. Er war ziemlich früh dran, doch in der kommenden Stunde würde sich der Drahteselparkplatz derart füllen, dass man bei Dienstschluss am Nachmittag oft erst einige Räder zur Seite zerren musste, um sein eigenes zu befreien.

Im Kommissariat war er der Erste und riss sämtliche Türen und Fenster auf, um die frische Morgenluft durchziehen zu lassen. Weil es in dem Gebäude keine richtigen Rollos, sondern nur jämmerliche Jalousien gab, heizten sich die Räume wie ein Backofen auf. Als eine Tür knallte, schreckte er auf. Er hatte vergessen, den Türstopper davorzulegen.

Nach und nach trudelten die Kollegen ein und nickten im Vorbeigehen einen Gruß ins Zimmer. Heutzutage kam es nur noch selten vor, dass man sich mit Handschlag und kurzem Geplauder begrüßte. Einzig Stellfeld war noch von der guten alten Schule. Er ging in jedes Büro und begrüßte jeden einzelnen Mitarbeiter persönlich. Früher war das gang und gäbe gewesen. Hackenholt seufzte tief. Was war heute Morgen eigentlich los mit ihm? Warum fühlte er sich mit einem Mal so alt? Hatten das die Spekulationen über die Verlängerung der Lebensarbeitszeit bewirkt?

»Und? Was ist gestern noch in der Kleingartensiedlung herausgekommen?«, fragte Hackenholt in die Morgenrunde, als sich die Kollegen im Besprechungszimmer versammelt hatten. Auch Christine Mur war dabei. Sie zerlegte gerade mit größter Sorgfalt den von Hackenholt geklauten Kugelschreiber.

»Der Gleingaddnverein Rehhof is ziemli grouß, dou gherd sogår nu er Geflüchlzuchdverein derzou. Des sin åbber masdns Daumgoogerer.« Saskia Baumann zog die Nase kraus.

»Wir konnten bisher noch nicht einmal einen Plan auftreiben, in dem alle Parzellen eingezeichnet sind. Und weiter hinten, in Richtung Mögeldorf, gibt es noch eine zweite Kolonie. In Rehhof haben wir gestern nicht alle Leute erreicht«, erklärte Stellfeldt, »dafür aber Flugblätter in die Briefkästen geworfen. Und auf dem Weg zurück zum Auto habe ich mit einem älteren Herrn gesprochen, der mir den Namen eines Rentnerehepaars genannt hat, das dort immer nach dem Rechten sieht. Heute Abend versuchen Saskia und ich, die beiden zu erwischen, und dann machen wir in der nächsten Kolonie weiter.«

Mur ergriff das Wort. »Die Untersuchungen der Kleider sind mittlerweile abgeschlossen. Wir haben haufenweise Fremdfasern gefunden. Gebt mir Vergleichsmaterial, und ich kann euch sagen, ob sie damit übereinstimmen. Unter den Fingernägeln haben wir nichts außer Erde gefunden, die vom Waldboden stammt. Im eingeatmeten Wasser waren ebensolche Erdpartikel enthalten, womit feststeht, dass der Mann im Wald gestorben ist und nicht etwa in Leitungswasser ertränkt wurde.« Während sie sprach, hatte sie den Kugelschreiber wieder zusammengebaut und malte nun Kreise auf Wünnenbergs Schmierblock. »Außerdem«, fuhr sie fort, »habe ich gestern in beiden Gartenlauben, also in der Langseestraße und im Leo-Beyer-Weg, Fingerabdrücke von Heinrich Gruber gefunden.« Sie schnippte den Stift über den Tisch in Richtung Hackenholt, der ihr gegenübersaß. »Das ist aber auch alles, was ich euch berichten kann.« Sie erhob sich und ging zur Tür.

Hackenholt dankte ihr. Ob für ihre Arbeit oder dafür, dass sie ihm seinen Kugelschreiber zurückgegeben hatte, war nicht klar ersichtlich. »Wie sieht es mit den Angaben vom Wetterdienst aus?«, fragte er dann in die Runde.

»Ich habe die Anfrage erst gestern Abend rausgeschickt«, erklärte Wünnenberg. »Das wird wohl noch ein bisschen dauern.«

»Okay. Dann machen wir folgendermaßen weiter: Ralph und ich –« Weiter kam er nicht, denn die Schreibkraft des Kommissariats erschien in der Tür und winkte ihn aufgeregt zu sich.

»Ich habe einen Kollegen von der PI Ost am Telefon. Er sagt, es ist dringend.«

Bei dem Stichwort PI Ost schoss Hackenholt sofort der Gedanke durch den Kopf, dass die Kollegen vielleicht einen Hinweis gefunden hatten, mit wem Heinrich Gruber im Wald gewesen war. Mit einem gemurmelten »Ich bin gleich zurück« lief er in sein Büro und wartete ungeduldig darauf, dass das Gespräch durchgestellt wurde.

Als er beim ersten Klingeln den Hörer hochriss, meldete sich Christian Berger. Hackenholt war wie elektrisiert. Es musste sich wirklich um etwas Wichtiges handeln, sonst würde Berger nicht sagen, es sei dringend. Da war sich Hackenholt ganz sicher.

»Was gibt es?«, fragte er nach einer freundlichen, aber knappen Begrüßung.

»Einen vermissten Jugendlichen«, antwortete Berger. »Seine Eltern sind gerade zu uns auf die Wache gekommen. Er ist seit gestern –«

»Stopp, stopp, stopp, Christian. Da bist du bei mir falsch.« Hackenholt war irritiert. Was war denn mit Berger los? Normalerweise unterliefen ihm keine solchen groben Fehler. »Für vermisste Personen ist Helga zuständig.« Doch in dem Moment, in dem er die Worte aussprach, erinnerte er sich, dass die Beamtin seit dieser Woche im Urlaub war. Bevor sein Kollege ihn auf ebendiese Tatsache aufmerksam machen konnte, murmelte er rasch: »Warte mal einen Augenblick, Christian.« Vor seinem inneren Auge ließ Hackenholt die heute anwesenden Kollegen Revue passieren. Früher hatten sich zwei Beamte und eine Angestellte um vermisste Personen gekümmert, und seit der Polizeireform war die Situation nicht besser geworden: Die Gebiete hatten sich vergrößert, die Mitarbeiteranzahl hingegen verringert. Herbert, der andere Kollege, der neben Helga für die Vermisstenfälle zuständig war, war seit einem halben Jahr krank. Wie Hackenholt die Situation einschätzte, würde er wohl kaum jemals wieder in den Dienst zurückkommen. Aus seiner Schreibtischschublade wühlte er den Urlaubs- und Vertretungsplan hervor. Nach einigem Blättern hatte er die Kopie von Helgas Urlaubsschein gefunden, auf dem ein Kollege aus einem anderen Kommissariat als Vertreter eingetragen war.

»Es dauert noch ein paar Minuten, Christian. Ich ruf dich gleich zurück, ja? Ich muss bei uns intern erst noch etwas abklären.« Flugs legte er auf und wählte die Nummer des Kollegen im benachbarten Kommissariat. Niemand meldete sich. Verärgert legte Hackenholt auf und versuchte das Geschäftszimmer zu erreichen. Die dortige Schreibkraft erklärte ihm, bei ihr herrsche Ausnahmezustand: Der eine Teil der Beamten sei im Urlaub, der andere an einer grassierenden Magen-Darm-Grippe erkrankt. Auch den Kollegen, der für drei Wochen beim K 11 aushelfen sollte, hatte es erwischt. Mindestens für diese Woche würde er ausfallen. Hackenholt dankte ihr und legte auf, bevor er Christian Berger zurückrief.

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Ich kann dir immer noch nicht sagen, wer bei uns den Fall bearbeiten wird, da uns gerade die Leute ausgehen. Aber jetzt erzähl mir erst mal, was anliegt, dann sehen wir schon irgendwie weiter.«

»Wie gesagt, wir haben hier gerade die Eltern eines Jugendlichen sitzen, der verschwunden ist. Jonas Petzold. Siebzehn Jahre, wird im Herbst achtzehn. Einzelkind. Geht gleich hier ums Eck aufs Tucher-Gymnasium im Thumenberger Weg. Elfte Klasse im letzten G-9-Jahrgang, fängt also nächstes Jahr mit der Kollegstufe an. Die Eltern haben gestern Abend schon seine Klassenkameraden angerufen, aber niemand weiß, wo er abgeblieben ist. Als er heute Morgen immer noch nicht zurück war, sind sie zur Schule gefahren und haben nachgefragt. Aber auch dort ist er nicht aufgetaucht. Das Blöde ist, dass wir eigentlich gar nicht zuständig sind. Die Familie wohnt in Röthenbach an der Pegnitz, aber weil der Junge der Meinung der Eltern nach direkt nach der Schule verschwunden und nicht erst heimgefahren ist, sind sie nicht in Lauf zur Polizei gegangen, sondern gleich zu uns gekommen. Ich habe schon bei der Kripo Schwabach angerufen, weil die Kollegen ja für vermisste Personen im Nürnberger Land zuständig sind, aber sie haben auch niemanden frei und meinten, nachdem der Fall ja doch mehr in Nürnberg liegt, sollt ihr die Sache übernehmen. Die Eltern sind jedenfalls davon überzeugt, dass etwas passiert ist. Bisher war ihr Sohn absolut zuverlässig, und es hat auch keinen Streit oder Ähnliches gegeben.«

Hackenholt seufzte. Die Kripo Schwabach machte es sich mal wieder leicht! Ein vermisster Jugendlicher, der hatte ihm gerade noch gefehlt. In dem Alter des Jungen war es mehr als wahrscheinlich, dass er nach ein paar Tagen wohlbehalten irgendwo wieder auftauchen würde und er sich nur eine Auszeit von zu Hause genommen hatte. Andererseits: Mit siebzehn war er nun mal noch minderjährig, wenn auch kein Kind mehr. Hackenholt durfte die Sache nicht auf sich beruhen lassen.

»Wie schätzt du die Lage ein?«, fragte er Berger schließlich.

Er konnte dessen Achselzucken fast durchs Telefon hören. »Ich weiß es beim besten Willen nicht. Auf den ersten Blick gibt es keine Anhaltspunkte für eine Gefährdung. Die Eltern machen einen soliden Eindruck. Beide sind bislang noch nie mit der Polizei in Kontakt gekommen. Genauso wie der Sohn. Er soll auch keine psychischen Probleme haben. Aber darüber hinaus ist es schwer zu sagen, was in ihm vorgeht. Mit siebzehn handelt man halt doch noch oftmals recht unüberlegt. Jedenfalls habe ich die Kollegen in Lauf angerufen und gebeten nachzusehen. Eine Streife ist zu der Adresse hingefahren, aber es hat tatsächlich niemand aufgemacht. War ja nicht wirklich anders zu erwarten. Die Beamten haben auch nichts Auffälliges bemerkt.«

»Gut. Behalte die Eltern erst einmal bei dir. Wir besprechen das hier, und dann schicke ich jemanden zu euch in die Dienststelle, der sich weiter darum kümmern wird.« Hackenholt legte auf und ging zurück ins Besprechungszimmer, wo ihn alle neugierig ansahen.

»Und? Was gibt es so Wichtiges? Muss ja ganz schön kompliziert sein, so lange, wie du gebraucht hast.« Wünnenberg sah ihn tadelnd an.

»Berger hat Eltern da, die ihren siebzehnjährigen Sohn vermisst melden wollen.«

Die eben noch interessierten Gesichter wandten sich enttäuscht ab. Nur Stellfeldt blickte konzentriert in die Runde.

»Und wer von uns ist derzeit für vermisste Personen zuständig?«, fragte er Hackenholt.

»Das ist ja gerade das Problem! Der Kollege, der die Aufgabe in Helgas Abwesenheit übernehmen sollte, ist krank. Also müssen wir das irgendwie zusätzlich zu unserer normalen Arbeit bewältigen. Hoffentlich kommt nicht noch mehr rein! Jetzt verteilen wir die Aufgaben aber erst einmal anders. Saskia und Manfred, bevor ihr mit den Schrebergärten weitermacht, versucht doch bitte, die Obdachlosen aufzuspüren, mit denen Heinrich Gruber am Samstagabend am Mögeldorfer Plärrer gesehen worden ist. Das ist bislang das letzte Lebenszeichen, das wir von ihm haben. Ralph und ich fahren zu Berger und reden mit den Eltern und ein paar Freunden. Dabei werden wir hoffentlich herausfinden, ob der Junge abgehauen ist oder wir uns wirklich Gedanken machen müssen.«

Stellfeldt nickte. »Keine Sorge, wir werden das Kind schon schaukeln.«

Hackenholt und Wünnenberg fuhren in die Erlenstegenstraße, wo die PI Ost in einer wunderschönen alten Villa untergebracht war. Auch wenn die Kollegen lieber in einem modernen, zweckmäßigen Gebäude arbeiten wollten, fand Hackenholt, dass das Haus rein optisch viel mehr hermachte als die neue PI West. Der größte Vorteil gegenüber dem Präsidium war allerdings, dass es auf dem vorgelagerten Parkplatz immer ausreichend Parkmöglichkeiten gab.

Die Eltern saßen mit Berger in einem der kleinen Büros. Vor ihnen standen große Becher und eine Tüte Zucker. Hackenholt grinste in sich hinein: Berger hatte die Eltern mit Hilfe von gesüßtem Tee zu beruhigen versucht. Frau Petzold war klein, schlank und äußerst feingliedrig. Ihren großen dunklen Mandelaugen sah man den asiatischen Einschlag an, den es in ihrer Familie gegeben haben musste. Ihre langen schwarzen Haare und der dunkle Teint ihrer Haut verstärkten den Eindruck. Sie war hübsch. Ihr Mann wirkte dagegen eher grobschlächtig. Groß, dick und unbeholfen. Er schwitzte.

Hackenholt stellte sich und Wünnenberg vor, dann bat er die Eltern, noch einmal genau zu schildern, was passiert war.

»Jonas ist seit gestern verschwunden«, erklärte Frau Petzold. »Er ist nach der Schule nicht heimgekommen. Das ist noch nie passiert, bisher war er immer sehr zuverlässig. Er hat immer Bescheid gegeben, wenn er sich spontan mit einem Klassenkameraden verabredet hat. Und er hat auch nie bei einem Freund übernachtet, ohne mich vorher anzurufen.«

»Hat Ihr Sohn eine Freundin?«, wollte Wünnenberg wissen.

Der Vater schüttelte vehement den Kopf. »Jonas interessiert sich nicht für Mädchen.«

Wünnenberg sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Herr Petzold wurde puterrot. »Es ist ihm einfach egal. Er hat ganz andere Sachen im Kopf. Mathematik, Chemie, Biologie.«

Wünnenberg warf Hackenholt einen verstohlenen Blick zu. Dass sich ein Jugendlicher in Jonas’ Alter mehr für Mathematik als für Mädchen interessieren sollte, kam ihm spanisch vor.

»Und was ist mit seinen Freunden?«

»Ich habe gestern bei all unseren Nachbarn und Freunden angerufen und gefragt, ob sie Jonas gesehen haben. Sogar bei meinem Schwiegervater im Altenheim habe ich es versucht. In der Schule konnte ich niemanden mehr erreichen, also habe ich die Liste von der Klassenfahrt vom letzten Schuljahr herausgesucht. Nachdem sein damaliger Lehrer nichts wusste, habe ich alle Namen auf der Liste abtelefoniert, einen nach dem anderen. Aber viele gehen gar nicht mehr mit Jonas in eine Klasse.«

»Ja, und was ist mit den Freunden von Ihrem Sohn?«

»Die kenne ich nicht«, schluchzte Frau Petzold. »Er hat immer nur gesagt, dass er zum Lernen noch zu Dennis oder Philipp geht. Aber er hat sie nie mit nach Hause gebracht. Er fand das unpassend. Weshalb, weiß ich nicht. Deswegen sind wir heute Morgen ja auch in die Schule gefahren und haben seine Mitschüler gefragt, ob er gestern mit einem von ihnen unterwegs war. Wir wollten natürlich auch mit seinen Freunden sprechen, aber es gibt weder einen Philipp noch einen Dennis in Jonas’ Klasse.«

Hackenholt war bestürzt. Da saßen nun die Eltern eines siebzehnjährigen vermissten Jungen vor ihm und behaupteten, keinen einzigen Freund ihres Sohnes zu kennen.

Auch Herrn Petzold schien die Situation peinlich zu sein. »Jonas war schon immer ein Einzelgänger«, verteidigte er sein Unwissen. »Er ist lieber mit meinem Vater raus in den Wald oder in den Schrebergarten gegangen, als sich mit Gleichaltrigen zu treffen oder vor dem Fernseher zu hocken. Sein Großvater und er haben sich prächtig verstanden. Auch seit mein Vater im Altersheim lebt, besucht Jonas ihn noch oft. Manchmal liest er ihm aus seinen Lateinbüchern vor.«

»Und wie ist es mit Jugendlichen in Ihrer Umgebung? Gibt es da Freunde oder Bekannte?«

»Zu seinen Klassenkameraden aus der Grundschule hat Jonas schon lange keinen Kontakt mehr. Nach der vierten Klasse hat sich mein Mann entschieden, Jonas auf ein humanistisches Gymnasium zu schicken. Die Auswahl ist nicht groß, es kamen nur drei Schulen in Frage. Das Tucher-Gymnasium schien uns am geeignetsten. Von da an hatte Jonas einen anderen Schulweg als seine Freunde. Außerdem hat er sich nie für die gleichen Sachen interessiert wie sie. Jonas gibt jüngeren Schülern Nachhilfe in Latein, Mathe und Chemie. Er ist absolut sozial und nicht so verschwenderisch, wie man es von anderen Jugendlichen immer wieder hört. Nehmen Sie zum Beispiel sein Handy. Wir würden ihm einen ganz normalen Vertrag bezahlen, aber das will er nicht. Ihm genügt eine Prepaidkarte.«

»Das ist ein gutes Stichwort. Wir brauchen unbedingt seine Handynummer.«

Der Mann sah seine Frau fragend an. Auch die wusste Jonas’ Nummer nicht auswendig, hatte sie aber zumindest in ihrem eigenen Mobiltelefon eingespeichert.

»Hat Jonas das Handy immer bei sich?«

Sie nickte. »Ich habe es aber schon tausendmal probiert. Es geht immer sofort die Mailbox an.«

»Hat sich Ihr Sohn in den letzten Tagen oder Wochen anders verhalten als sonst? War er verschlossener? Hatte er vor etwas Angst?«

Diesmal schüttelte Frau Petzold den Kopf. »Er hat bei den Coolridern mitgemacht. Das hat ihm enormes Selbstvertrauen gegeben.«

Hackenholt sah Wünnenberg hilfesuchend an, doch der zuckte nur leicht mit den Schultern.

Christian Berger, der die Ratlosigkeit seiner Kollegen bemerkte, sprang für sie in die Bresche: »Coolrider ist ein von der VAG angebotenes Programm, in dem Schüler zu Fahrzeugbegleitern für Bus und Bahn ausgebildet werden. Sie sollen potenzielle Streitsituationen frühzeitig erkennen und vermittelnd eingreifen, damit es erst gar nicht zu Geschubse oder Schlägereien kommt. Das Motto ist: »Hinschauen statt Wegschauen!« Die Schüler absolvieren ein zwanzigstündiges Training innerhalb von zwei Monaten und lernen dabei gezielt, wie man verbal Konflikte löst und Körpersprache bewusst einsetzt.«

Hackenholt war verblüfft. »Und woher weißt du das alles?«

»Die Ausbildung ist eine Gemeinschaftsaktion von VAG, Polizei, Lehrern, Eltern und Schülern. Ich habe bei einem Training in der Preißler-Schule mitgemacht.«

»Dann hatte Ihr Sohn doch in dieser Gruppe sicher Freunde, oder?«, wandte sich Hackenholt wieder Frau Petzold zu.

»Manchmal hat Jonas von einer Sara gesprochen. Aber die kenne ich auch nur vom Erzählen und nicht persönlich.«

Hackenholt sah auf seine Notizen. »Es gibt also keinen Ort, von dem Sie sich vorstellen können, dass sich Jonas dorthin zurückgezogen hat?«

Die Eltern schüttelten den Kopf.

»Und Sie haben auch keine Idee, warum sich Jonas vielleicht eine Auszeit gönnen könnte?«

Frau Petzold schluchzte von Neuem. »Jonas ist nicht weggelaufen. Es ist etwas passiert. Da bin ich mir ganz sicher.«

Unbeholfen legte ihr Mann den Arm um sie.

»Es kann auch nichts mit den bevorstehenden Zeugnissen zu tun haben?«, unternahm Hackenholt einen letzten Versuch, einen möglichen Grund für das Verschwinden zu liefern, doch auch dafür erntete er nur ein vehementes Kopfschütteln.

»Jonas ist Klassenbester«, stieß der Vater gepresst hervor. »Hören Sie doch endlich mit dieser sinnlosen Fragerei auf. Das sind wir alles schon mit Ihrem Kollegen durchgegangen. Tun Sie endlich etwas! Fangen Sie an zu suchen!«

Hackenholt seufzte. So sinnlos, wie der Vater glaubte, waren die Fragen natürlich nicht, doch wer um sein Kind bangte, der wollte Taten sehen und keine Worte hören. Die Reaktion war verständlich.

»Gleich, Herr Petzold. Sie fahren jetzt erst mal nach Hause, und heute Nachmittag kommen wir zu Ihnen nach Röthenbach, vielleicht haben wir dann sogar schon erste Ermittlungsergebnisse. Zunächst müssen wir aber noch ein paar Dinge regeln.« Hackenholt stand auf, um den Eheleuten deutlich zu machen, dass das Gespräch zu Ende war.

Kaum hatten die Petzolds die Dienststelle verlassen, wollte Hackenholt von Berger wissen, ob und was die Kollegen aus Lauf über die Familie wussten.

»Nichts«, sagte Berger ohne Umschweife. »Gar nichts. Sie sind noch nie zu ihnen gerufen worden. Auch der Sohn ist ein bislang unbeschriebenes Blatt. Er ist noch nie bei einem der Jugendtreffs aufgefallen, aber nach dem, was wir gerade über ihn gehört haben, ist das auch nicht weiter verwunderlich, oder? Wahrscheinlich geht er da überhaupt nicht hin.«

»Kannst du nachvollziehen, was das für ein Junge sein soll? Für mich klingen die Beschreibungen der Eltern absolut lebensfremd, ganz so, als wäre er noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen.«

Berger sah Hackenholt erstaunt an. »Aber solche normale Jugendliche gibt es noch, und es wird sie ganz bestimmt auch immer geben. Sie fallen uns in unserem Beruf halt üblicherweise nur nicht auf.«

Hackenholt sah unschlüssig drein. »Na ja, wie dem auch sei, wir fahren jetzt erst mal zurück zum Präsidium, geben eine Suchmeldung nach dem Jungen raus und schauen dann, ob uns der Provider von seinem Handy sagen kann, wo er steckt. Wenn er sein Telefon bei sich hat, haben wir Jonas Petzold bis heute Nachmittag gefunden.«

Wünnenberg grinste. »Wie hat man das eigentlich früher gemacht, als Jugendliche noch kein Mobiltelefon besaßen, mit dessen Hilfe man jeden ihrer Schritte verfolgen konnte?«

Im Auto war es kochend heiß. Die beiden Beamten ließen sämtliche Fenster des BMW herunter, um das bisschen Fahrtwind zu genießen, das ihnen auf dem Weg zurück zum Präsidium entgegenwehte.

»Was weißt du eigentlich über das Tucher-Gymnasium?«, fragte Hackenholt Wünnenberg, der ihn daraufhin fast schockiert ansah.

»Garantiert nicht mehr als du. Um genau zu sein, eigentlich gar nichts, außer dass es gleich hier ums Eck im Thumenberger Weg liegt.«

»Hm«, brummte Hackenholt, »das ist in der Tat nicht gerade viel.« Er griff nach seinem Aktenkoffer, der im Fußraum hinter seinem Sitz stand, zog sein Handy hervor und wählte Sophies Nummer, um ihr dieselbe Frage zu stellen.

»Das Tucher ist heute eins von drei humanistischen Gymnasien in Nürnberg«, antwortete Sophie nach einem Moment des Nachdenkens. »Das heißt, die Kinder lernen Latein, Englisch und als dritte Sprache Alt-Griechisch. Die Wurzeln der Schule lassen sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Sie ist einige Male umgezogen, sogar bis nach Altdorf, bevor sie Anfang des 20. Jahrhunderts endgültig in dem Gebäude im Thumenberger Weg untergekommen ist. Auf dem Dach des Jugendstilaltbaus gibt es noch immer ein kleines Observatorium. Das Gymnasium ist übrigens eine staatliche Schule.«

Hackenholt hörte, wie Sophie am anderen Ende der Leitung eine Seite umblätterte. Es beruhigte ihn, dass sie all das nicht einfach so aus dem Ärmel schüttelte, wie er zunächst angenommen hatte.

»2007 wurde dann ein Neubau errichtet, um den Anforderungen an eine Ganztagsschule gerecht zu werden. Im Schulhof steht ein alter Straßenbahnwagen der VAG, der als Schülercafé dient. Das ist alles, was mein schlaues Buch über das Tucher-Gymnasium hergibt. Von meiner Schwester weiß ich noch, dass es einen recht guten Ruf genießt. Die Ausstattung ist gut, und die Lehrmethoden sind zeitgemäß.«

Hackenholt und Wünnenberg hatten das gesamte Kommissariat für sich. Außer der Schreibkraft, die eifrig Protokolle tippte, waren alle Kollegen ausgeflogen. Hackenholt machte sich sofort daran, die Peilung von Jonas’ Handy in die Wege zu leiten. Jedes Mobiltelefon loggte sich automatisch in den Bereich des ihm am nächsten gelegenen Funkmasts ein. Im Stadtgebiet konnte man so normalerweise auf wenige hundert Meter genau bestimmen, wo sich das Handy befand. Galt eine Person als vermisst, durfte man das Telefon sogar orten, ohne vorher einen richterlichen Beschluss einzuholen.

Während Hackenholt zunächst den Antrag für den Handyprovider ausfüllte und dann die Suchmeldung nach Jonas Petzold ins interne System eingab, lief Wünnenberg wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Dienststelle.

»Sag mal, Ralph, was tust du da eigentlich?«

»Ich suche die Kaffeekanne!«, stieß sein Kollege zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Jemand hat meine Kaffeekanne geklaut. Ich kann keinen frischen Kaffee kochen!«

»Aber wer sollte dir denn hier die Kaffeekanne klauen? Das kann doch gar nicht sein!«

»Die Schreibkraft weiß auch nicht, wo sie ist. Sie sagt, sie hat zuletzt Saskia damit rumlaufen sehen. Wahrscheinlich hat sie meine Kanne mal wieder zum Blumengießen missbraucht! Wenn man hier nicht alles wegschließt, dann …«

»Nun mach aber mal halblang, Ralph! Saskia würde nie und nimmer deine Kaffeekanne verstecken, und für ihre Blumen hat sie sich inzwischen eine richtige Gießkanne gekauft. Es ist Monate her, dass sie deine Kaffeekanne benutzt hat. Außerdem ist das nur ein einziges Mal vorgekommen!« Weil du dich anschließend wie ein Irrer aufgeführt hast, ergänzte Hackenholt im Stillen. »Vielleicht wollte sie gerade frisches Wasser holen und hat die Kanne irgendwo stehen lassen, weil sie schnell wegmusste. Ruf sie doch einfach an und frag sie.«

»Das habe ich ja schon versucht, aber ihr Handy ist ausgeschaltet!«

»Hast du schon auf der Damentoilette nachgeschaut?«

Wünnenberg sah seinen Kollegen ungläubig an, dann machte er auf den Hacken kehrt. Kopfschüttelnd widmete sich der Hauptkommissar den Telefonnotizen, die während seiner Abwesenheit auf seinem Schreibtisch gelandet waren. Zum Glück war nichts Wichtiges darunter.

Dann passierten zwei Dinge gleichzeitig: Von der rechten Seite des Ganges, an dessen Ende sich die Toiletten befanden, ertönte Wünnenbergs wütendes Gebrüll, während Saskia Baumanns munteres Geplapper sich von der anderen Seite des Gangs her näherte. Hackenholt schloss die Augen, um der Szene zu entgehen, die unweigerlich folgen musste. Wie ein kleines Kind hielt er sich fest die Augen zu. Frei nach dem Motto: Wenn ich nichts sehe, bin ich auch nicht anwesend und bekomme nichts mit. Leider bewahrheitete sich in den folgenden Minuten lautstark, wie wenig dieses Prinzip realitätstauglich war.

Erst als es auf dem Flur wieder still geworden war, traute sich Stellfeldt zu Hackenholt ins Büro.

»Oh Mann! Ich glaube, wir sollten Ralph zum Geburtstag sechs Kaffeekannen schenken. Dann hat er für jeden Tag der Woche eine!« Er schüttelte den Kopf. »So ein Kindergarten!«

Hackenholt musste unwillkürlich lachen. »Was hat Saskia denn verbrochen?«

»Sie hat beschlossen, heute Nachmittag einen Eiskaffee zu machen. Und weil wir hier ja über keine Küche und damit auch über keinen Kühlschrank verfügen, hat sie die frisch gekochte Kanne Kaffee kurzerhand im Handwaschbecken ins kalte Wasser gestellt. Ralph sieht darin natürlich mal wieder deren Entweihung.«

»Kindergarten«, murmelte nun auch Hackenholt kopfschüttelnd. »Habt ihr die beiden Stadtstreicher gefunden?«

Stellfeldt nickte. »Ja, aber wie nicht anders zu erwarten war, konnten sie sich plötzlich an nichts mehr erinnern. Sie haben nur zugegeben, gemeinsam mit dem Professor bis kurz vor Mitternacht gebechert zu haben. Dann hat sich jeder seinen eigenen Schlafplatz gesucht. Streit hat es natürlich keinen gegeben, und wohin Heinrich Gruber wollte, hat er ihnen angeblich auch nicht verraten. Einerseits ist diese Aussage durchaus glaubwürdig, denn die Jungs hüten ihre Geheimnisse voreinander, andererseits scheinen sie spitzbekommen zu haben, dass sie bisher die Letzten sind, mit denen der Professor gesehen worden ist.«

»Na gut, dann warten wir eben ab, was das Wetteramt sagt. Vielleicht hat es in der Nacht ja gar nicht geregnet.«

Saskia Baumann steckte den Kopf zur Tür herein. »Wollder aa ern Eiskaffee?«

»Nur wenn ich damit nicht meine Neutralität aufgeben muss. Sonst bleibe ich lieber die Schweiz.« Hackenholt hob abwehrend die Hände.

»Nein, nein, wir vertragen uns schon wieder«, brummte Wünnenberg, der hinter seiner Kollegin im Türrahmen erschien. »Ich bin Saskia einfach nicht gewachsen. Im Fränkischen gibt es viel mehr Schimpfwörter als im Hochdeutschen.«

Hackenholt musste grinsen. Saskia war mindestens zweieinhalb Köpfe kleiner als Wünnenberg und noch dazu um einige Jahre jünger, aber sie würde ihren Weg bei der Polizei machen, da war er sich absolut sicher. Trotz ihres Sprachhandicaps. Gemeinsam setzten sie sich in den Besprechungsraum und hielten im Beisein einer Familienpackung Vanilleeis und der umstrittenen Kanne Kaffee eine späte Mittagspause ab, bis die Schreibkraft der gemütlichen Runde ein Ende setzte, indem sie verkündete, sie habe eine Anruferin in der Leitung, die einen Ermittlungsbeamten sprechen wollte.

Hackenholt stand auf und nahm das Gespräch in seinem Büro entgegen. Die Frau erklärte ihm, dass sie wegen des Obdachlosen aus der Zeitung anrief, und begann zu erzählen.

Sie wohnte in Laufamholz, Am Behlanger, und ging sonntagmorgens immer mit einer Freundin joggen. Letzten Sonntag waren sie gemeinsam die große Schleife im Wald gelaufen und auf dem Rückweg hinter den letzten Kleingärten der gesamten Anlage herausgekommen, an deren südlichem Rand sie dann zurückgegangen waren. Dort begegnete ihnen kurz vor der Einmündung in die geteerte Straße ein Stadtstreicher. Anfänglich war sich die Anruferin nicht ganz sicher gewesen, ob es auch wirklich der Mann aus der Zeitung war, denn er trug ein anderes Hemd als auf dem Bild und auch keine Kappe. Deswegen hatte sie gestern erst noch bei ihrer Freundin vorbeigeschaut, um ihr das Foto zu zeigen. Ihre Freundin war sich sicher gewesen, dass sie diesen Penner und keinen anderen gesehen hatten. Auf Hackenholts Nachfrage hin konnte sie die Kleidung, die Heinrich Gruber getragen hatte, genau beschreiben. Die Freundin hatte sich auch an die zwei Plastiktüten und einen großen, bundeswehrähnlichen Rucksack erinnert. Der Hauptkommissar notierte die Kontaktdaten der beiden Frauen und bedankte sich für den Anruf.

»Der Bericht vom Wetteramt ist gerade gekommen.« Stellfeldt stand im Büro. »Am Sonntag hat es nachmittags gegen halb fünf mal ein bisschen geregnet. Die nächsten kurzen Schauer gab es dann erst wieder ab einundzwanzig Uhr, und zwischen dreiundzwanzig Uhr und ein Uhr nachts hat es dann so richtig geschüttet. Montags war es bewölkt mit dem einen oder anderen kurzen Schauer, bis dann gegen neunzehn Uhr das richtige Unwetter losbrach, in dessen Verlauf es zu mehreren Blitzeinschlägen und den Überschwemmungen in der Südstadt kam.« Er legte eine ausgedruckte Tabelle auf Hackenholts Schreibtisch. »Die Angaben beziehen sich natürlich auf ganz Nürnberg und nicht speziell auf den Bereich um den Tiergarten. Eine nach Stadtteilen detaillierte Aufstellung gibt es leider nicht, aber bei der allgemeinen Wetterlage und der Regenmenge, die da runtergekommen ist, hat es sowieso ganz Nürnberg getroffen und nicht nur einzelne Gebiete.«

Hackenholt nickte. »Gut. Vom Wetter her kämen also Sonntag und Montag für die Tat in Frage, Dr. Puellen vermutete Samstag oder Sonntag. Den Samstag können wir jetzt immerhin mangels Regen ausschließen. Außerdem war gerade eine Frau am Telefon, die mit ihrer Freundin Heinrich Gruber am Sonntagmorgen in Laufamholz gesehen hat. Übrigens mal wieder ganz in der Nähe der Kleingartensiedlungen.« Hackenholt stand auf und zeigte Stellfeld auf der Wandkarte, wo genau die Frauen dem Stadtstreicher begegnet waren.

»Es ist schon sehr auffällig«, meinte Stellfeldt. »Der Mann taucht meistens im Bereich Laufamholz in der Nähe einer dieser Gartenkolonien auf. Wir sollten zusehen, dass wir auch noch die letzten Parzellen abklappern. In dem Bereich, den du mir gerade auf der Karte gezeigt hast, waren wir noch gar nicht. Gestern sind wir nur bis hierhin gekommen.« Stellfeldt deutete auf einen weiter östlich gelegenen Punkt.

Hackenholt nickte zustimmend. »Es wäre wirklich gut, wenn ihr euch heute um den Rest kümmern könntet. Es wird immer wahrscheinlicher, dass Heinrich Gruber in einer der Lauben dort übernachtet hat. Und auch die Tatzeit können wir mittlerweile ganz gut eingrenzen: Der Mord kann nicht vor Sonntagnachmittag passiert sein.«

Stellfeldt nickte.

Wünnenberg kam zur Tür herein. »Das Fax vom Provider ist da. Jonas’ Handy konnte nicht geortet werden. Das letzte Signal wurde vorgestern von einem Funkmast in Röthenbach empfangen. Es gibt also nur zwei Möglichkeiten: Entweder liegt das Telefon mit leerem Akku oder ausgeschaltet in seinem Zimmer, dann hätte Jonas es gestern gar nicht mit in die Schule genommen, oder aber er hat sein Telefon bei sich, lässt es aber die ganze Zeit ausgeschaltet. In beiden Fällen stellt sich die Frage nach dem Warum. Weil er weiß, dass wir ihm durch eine Ortung ganz schnell auf die Spur kommen können?«

Hackenholt drehte sich zu Wünnenberg um. »Ach, Mist! Das war dann wohl nichts mit einer schnellen Klärung des Falls!«

Wünnenberg nickte. »Was machen wir jetzt? Sollen wir zu den Eltern nach Röthenbach rausfahren und uns Jonas’ Zimmer mal ein bisschen genauer anschauen? Die Krankenhäuser und sozialen Einrichtungen habe ich schon durchtelefoniert. Dort ist er nicht aufgekreuzt.«

Hackenholt sah auf die Uhr. Es war schon nach vier. »Ja, ich habe den Eltern unseren Besuch heute Vormittag schon angekündigt. Und um diese Uhrzeit würde es keinen Sinn machen, erst noch bei der Schule vorbeizufahren. Jetzt erreichen wir wahrscheinlich nicht einmal mehr die Sekretärin.«

Stellfeldt sah die anderen beiden mit besorgtem Blick an. »Das mit dem Handy klingt gar nicht gut. Hoffentlich wird das nichts Größeres!«

»Wissen Sie schon etwas?« Frau Petzold öffnete den Beamten mit rot geweinten Augen die Tür.

Noch bevor Hackenholt antworten konnte, hörte er ihren Mann aus dem Inneren des Hauses rufen: »Wer ist das schon wieder? Wenn es eine deiner Freundinnen ist, schick sie weg! Wir wollen jetzt keinen Besuch!«

»Die Polizei!«, rief sie mit brüchiger Stimme zurück. Dann flüsterte sie den Beamten kaum hörbar zu: »Er sagt, ich bin schuld, wenn Jonas etwas passiert ist.«

»Das tut er nur, weil er sich große Sorgen macht«, versuchte Hackenholt die völlig aufgelöste Frau zu beruhigen. »Jeder reagiert in so einer Stresssituation anders. Ihr Mann fühlt sich im Moment einfach absolut hilflos, weil er nichts tun kann.« Beschwichtigend schob er seine Hand unter Frau Petzolds Ellbogen und dirigierte sie sanft ins Haus. »Kommen Sie, wir setzen uns jetzt erst mal.«

Marionettenhaft ging die Frau ihnen voran ins Wohnzimmer, wo Herr Petzold, die Hände in den Hosentaschen, vor dem Fenster stand und hinausblickte. Erst als alle im Zimmer standen, fuhr er herum.

»Und? Was haben Sie nun herausgefunden?«, blaffte er die Beamten an, als wären sie seine Leibeigenen.

Hackenholt sah ihm in die Augen und zählte innerlich langsam bis zehn, bevor er eine Antwort gab. »Herr Petzold, wir wissen, dass Sie sich gerade in einer äußerst belastenden Situation befinden, aber es ist niemandem damit gedient, wenn Sie die Angst um Ihren Sohn in Form von Wut an Ihrer Frau oder uns auslassen. Wir haben bereits alle nötigen Schritte unternommen, um die Fahndung nach Jonas in die Wege zu leiten. Wir sind hergekommen, weil wir uns sein Zimmer ansehen und nochmals ein paar Dinge mit Ihnen durchsprechen möchten. Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie versuchen würden, sich zu erinnern, ob in letzter Zeit etwas anders war als sonst.«

Noch während Hackenholt sprach, veränderten sich Herrn Petzolds Gesichtszüge: Sie erschlafften. Die hochgezogenen, angespannten Schultern fielen nach unten. Mit einem Mal war von der Angriffslust des Mannes nichts mehr übrig.

»Sie … Sie haben ja recht. Es ist nur … Ich fühle mich so hilflos.« Er räusperte sich. »Möchten Sie, dass ich Ihnen Jonas’ Zimmer zeige?«

Hackenholt nickte. Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf. Der gesamte zweite Stock, das Dachgeschoss des Reihenhauses, war zu einem einzigen großen Raum ausgebaut, von dem lediglich ein kleines Badezimmer abgetrennt war. Durch die Dachfenster flutete Licht herein. Sämtliche Möbel waren aus hellem Holz. Auf der einen Seite stand ein großes Bett frei im Raum, auf der anderen ein Schreibtisch samt dazugehörigem Bürostuhl, unter der Dachschräge ein Sofa. Das Zimmer war zweifelsohne geschmackvoll eingerichtet, ordentlich, sauber, aber gerade deshalb wirkte es nicht wie das von einem Jugendlichen. Weder hingen Poster von Popgruppen an den Wänden, noch lagen auf dem Boden zusammengeknüllte Klamotten herum. Auch der Schreibtisch war nicht mit Stapeln von Schulbüchern übersät.

»Wir werden das Zimmer jetzt untersuchen. Vielleicht finden wir ja einen versteckten Hinweis darauf, wo Jonas sich aufhält. Das Ganze wird einige Zeit dauern. Am besten wäre es, wenn Sie und Ihre Frau in der Zwischenzeit eine Liste machen würden, wo Jonas sich gerne aufhält.«

Herr Petzold nickte und ließ die Beamten allein. Hackenholt und Wünnenberg durchsuchten das Zimmer aufs Gründlichste, ohne jedoch den geringsten Anhaltspunkt zu finden. Es gab keinen Hinweis, wo sich Jonas versteckt haben könnte, und auch keinen darauf, warum er überhaupt weggelaufen sein sollte. Andererseits entdeckten sie auch keinen Abschiedsbrief oder ein anderes Zeichen dafür, dass der Junge sich mit Selbstmordgedanken herumgeschlagen hatte. Aber auch das Handy lag nirgendwo im Zimmer.

Wieder im Wohnzimmer fragte Hackenhold die Eltern wie schon am Vormittag noch einmal explizit nach dem Mobiltelefon.

»Jonas hat sein Handy meistens dabei«, sagte die Mutter erstaunt, »auch wenn er es nicht oft nutzt.«

Hackenholt wiegte den Kopf. »Wir müssen zweifelsfrei wissen, dass es sich nicht hier befindet. Deshalb würden wir uns gerne im restlichen Haus umsehen, wenn Sie einverstanden sind. Vielleicht hat er es doch irgendwo hier liegen lassen.«

Frau Petzold erhob sich zögerlich vom Sofa. »Die Wäsche. Vielleicht ist es ja im Korb mit der Schmutzwäsche.« Dann rannte sie plötzlich den Beamten voran die Treppe hinab ins Untergeschoss, wo sich die Waschküche befand. Vor einem Korb ging sie in die Hocke und zerrte ein Kleidungsstück nach dem anderen heraus, während ihre Hand in jede Tasche glitt. Hackenholt sah sich derweil um. Auf einer Leine im hinteren Teil des Raums hing schief und unordentlich eine Jeansjacke.

»Was ist mit der Jacke dort drüben? Ist das Ihre, oder gehört sie Jonas?«, fragte er Frau Petzold, ging aber, ohne auf eine Antwort zu warten, hinüber und nahm das Kleidungsstück herunter. Die Mutter sah ihn verwirrt an.

»Die ist von Jonas. Er muss sie selbst hier aufgehängt haben. Ich benutze immer einen Bügel.« Sie hielt inne. Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie angestrengt nachdachte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich kann mich nicht erinnern, wann er das getan haben sollte.«

Hackenholt nahm die Jacke von der Leine, ging zur Waschmaschine und leerte dort eine Tasche nach der anderen aus. Ein Kugelschreiber kam zum Vorschein, eine Packung Kaugummis, ein benutztes Taschentuch, ein Zehncentstück, jede Menge Dreck, Minikopfhörer für einen MP3-Player und zu guter Letzt, in der Innentasche, ein ausgeschaltetes Klapphandy. Nachdem Hackenholt es eingeschaltet hatte, wofür zum Glück keine PIN nötig war, erschien auf dem Display die Anzeige: »35 Anrufe in Abwesenheit«. Sie stammten alle von derselben Rufnummer und legten ein stummes Zeugnis davon ab, wie verzweifelt Frau Petzold versucht hatte, ihren Sohn zu erreichen. Hackenholt gab das Telefon an Wünnenberg weiter, der es in einen mitgebrachten Asservatenbeutel fallen ließ. Zusammen gingen sie zurück ins Wohnzimmer, wo der Vater noch immer unverändert auf dem Sofa saß.

Erneut sprachen sie alle Möglichkeiten durch, was passiert und wohin Jonas gegangen sein könnte. Die Eltern blieben dabei: Es hatte keinen Streit gegeben, alles war wie immer gewesen. Während die Beamten mit der Durchsuchung des Zimmers beschäftigt gewesen waren, hatten die Petzolds tatsächlich eine Liste mit allen Orten erstellt, an denen Jonas sich in der Vergangenheit gerne aufgehalten hatte. Auch wo die Familie die letzten Urlaube verbracht hatte, war vermerkt worden.

Hackenholt überflog den Zettel. »Jonas besucht also keine Jugendgruppe und ist auch in keinem Sportverein Mitglied?«

Die Mutter schüttelte den Kopf.

»Sie haben doch heute Morgen etwas von einem Garten erzählt, in den Ihr Sohn immer mit Ihrem Vater gegangen ist?«, fragte Hackenholt an Herrn Petzold gewandt nach, da weder die Adresse des Großvaters noch ein Garten aufgelistet war.

Der Vater winkte ab. »Ach was, das war nur ein kleiner Schrebergarten. Den haben wir längst gekündigt. Mein Vater hatte im Frühjahr einen Schlaganfall. Seither ist er halbseitig gelähmt und lebt im Heim.«

»Okay«, sagte Hackenholt abschließend, »wir haben mittlerweile sämtliche Krankenhäuser und Jugendeinrichtungen abgefragt. Nichts. Eine Entführung ist, wie Sie selbst sagen, unwahrscheinlich bis ausgeschlossen. Derzeit gibt es keinerlei Anhaltspunkte, dass Jonas etwas zugestoßen sein könnte, versuchen Sie also ruhig zu bleiben, auch wenn es schwerfällt. Wir werden morgen in die Schule gehen, mit den Lehrern reden und uns ein bisschen umschauen. Dann sehen wir weiter.«

Zurück im Präsidium parkten sie den Dienstwagen in der Tiefgarage, verzichteten jedoch auf den Aufzug, sondern stiegen stattdessen die Treppen in den zweiten Stock hinauf, zu ihrem Kommissariat. In ihrem Büro klickte sich Wünnenberg durch den Speicher des Mobiltelefons.

»Sämtliche eingegangenen Anrufe, die gespeichert sind, stammen von der Mutter. Mal hat sie ihn von ihrem Handy aus angerufen, mal vom Festnetz. Kein einziger ist von einem Freund! Aber zumindest bei den SMS scheint das anders zu sein.« Wünnenberg sah sich die Kurznachrichten genauer an. Immer wieder notierte er den einen oder anderen Namen. Als er fertig war, schüttelte er ungläubig den Kopf. »Auch da sind keine Freunde dabei. Fast alle Nachrichten drehen sich um Nachhilfestunden. ›Ich kann heute nicht. Kannst du morgen?‹ Oder: ›Bin heut krank. Nächste Woche wieder.‹ In zweien geht es um ein Treffen der Coolrider, zu dem er anscheinend nicht hingegangen ist. Das war erst kürzlich.« Wünnenberg blickte zu Hackenholt auf. »Verstehst du das? Keine einzige private Verabredung? Kein ›Kommst du heute Abend mit ins Kino?‹, oder was man sonst so schreibt.«

»Na ja, eigentlich heißt das doch nur, dass er tatsächlich anders ist als die meisten heutigen Jugendlichen in seinem Alter. Vielleicht hat er sich bisher wirklich nichts aus Mädchen gemacht. Oder er verabredet sich lieber persönlich oder ruft vom Festnetz aus an. Wenn wir morgen mit ein paar Lehrern und seinen Mitschülern sprechen, werden wir sicher recht schnell herausfinden, was Sache ist.«

Es war nach neun Uhr abends, als Hackenholt endlich nach Hause kam. Sophie war nicht da, stattdessen lag auf dem Tisch in der Diele, den sie als Schlüsselbundablage nutzten, eine Nachricht: »Bin mit meiner Schwester unterwegs. Im Kühlschrank sind noch kalte Bratwürste von vorgestern. Lass sie dir schmecken. Kuss, S.«

Hackenholt war enttäuscht. Er hatte sich auf Sophie und ihre Schwester gefreut. Darauf, dass sie ihn mit ihrem munteren Geplapper von seinen Fällen ablenkten. Eigentlich hatte er auch vorgehabt, Sophies Schwester zu fragen, wie sich normale Jugendliche heutzutage verhielten. Soweit er wusste, engagierte sie sich immer noch im Jugendkeller der Kirchengemeinde. Wenn er selbst mit Teenagern zu tun hatte, dann stammten sie so gut wie immer aus irgendwelchen völlig aus den Fugen geratenen Familien und waren zumeist schon öfter straffällig geworden.

Allein gelassen aß er in der Küche ein Brot mit Bratwürsten und setzte sich dann mit einem Buch in den Garten. Gegen elf fielen ihm fast die Augen zu, sodass er ins Bett ging. Von Sophie war noch nichts zu sehen oder zu hören. Als sie endlich heimkam, schlief Hackenholt schon tief und fest und merkte nicht mehr, dass sie sich an ihn kuschelte.