Freitag
Am Morgen rief Christine Mur an und bat, die Besprechung auf mittags zu verschieben, da sie hoffte, bis dahin schon erste Ergebnisse präsentieren zu können. Also machten sich Hackenholt, Wünnenberg, Stellfeldt und Saskia Baumann schon in der Früh auf den Weg in die Tucher-Schule. In einer Woche begannen die Sommerferien, und die Zeit bis dahin zerrann ihnen allmählich zwischen den Fingern. Sie mussten unbedingt mit Jonas’ Klassenkameraden und seinen Nachhilfeschülern sprechen. Hackenholt hatte vom Präsidium aus angerufen und ihr Kommen angekündigt.
Da niemand genau wusste, wem Jonas Nachhilfe erteilte, und das Handy des Jungen bei der Lösung der Frage auch nicht weiterhalf, entschied sich der Schulleiter für eine kurze Durchsage. Er forderte jeden Schüler auf, der bei Jonas Nachhilfestunden nahm, ins Sekretariat zu kommen. Binnen zehn Minuten trafen dort ebenso viele Schüler ein. Die Beamten verteilten sich mit den Jugendlichen auf ein paar leere Klassenzimmer und sprachen dort mit jedem einzelnen. Dabei fanden sie heraus, dass Jonas ein sehr geduldiger Lehrer war, der den Jüngeren in Latein, Mathematik und Chemie half. Er kam immer pünktlich zu den Stunden, meckerte aber auch nicht herum, wenn mal eine ausfiel. Er konnte den Stoff gut und in einfachen Worten erklären und hatte immer verständliche Beispiele parat. Nur wenn er merkte, dass jemand einfach zu faul war, seine Vokabeln zu lernen, wurde er böse.
Danach besuchten die Ermittler Jonas’ Klasse. Der Unterricht wurde unterbrochen, die Schüler aufgeteilt. Jeder der Beamten befragte nacheinander sechs oder sieben Jugendliche. Hackenholt sprach mit Lisa, die im Unterricht neben Jonas saß, aber sie wusste nicht mehr zu sagen, als dass Jonas schrecklich ordentlich war und man sich von ihm immer einen gespitzten Bleistift ausborgen konnte. Nur seine Bücher, die verlieh er nicht. Über Privates hatte sie noch nie mit ihm gesprochen, dafür war er ihr zu langweilig. Von einer anderen Mitschülerin erfuhr Hackenholt, eine gewisse Jennifer aus der Zehnten sei heimlich in Jonas verliebt und könne ihm sicher alles über ihren Schwarm erzählen. Dabei kicherte sie und machte Andeutungen, dass das meiste davon aber wohl Wunschdenken und frei erfunden sei. Ein anderes Mädchen hatte Jonas öfter mit Sara gesehen, die auch bei den Coolridern war.
Während sich Hackenholts drei Kollegen mit den anderen Jugendlichen der Coolrider-Gruppe nicht nur über Jonas, sondern auch ganz allgemein über ihre Ausbildung und die bisherigen Erlebnisse unterhielten, sprach der Hauptkommissar mit Sara. Sie war ein auffallend hübsches Mädchen mit einer blond gelockten Mähne und unzähligen Sommersprossen und sah der Biologielehrerin Anke Schilling sehr ähnlich. Vom ersten Moment an merkte Hackenholt, dass Sara sich Jonas gegenüber extrem loyal verhielt. Seine Fragen beantwortete sie sehr einsilbig, als habe sie Angst, sich zu verplappern. Erst allmählich gelang es dem Beamten, sie aus der Reserve zu locken.
»Sara, wir haben schon ein paar Dinge über Jonas herausgefunden. Zum Beispiel, dass er noch immer gerne in den Garten seines Großvaters geht. Ich persönlich finde das gut. Er kann sich dorthin zurückziehen, wenn er ein bisschen Abstand von seiner Familie braucht. Aber inzwischen ist er seit drei Tagen verschwunden und seine Eltern machen sich furchtbare Sorgen«, versuchte er sie zu überzeugen, gesprächiger zu werden.
Sie warf ihm einen schneidenden Blick zu. »Was wissen Sie denn schon über Jonas’ Eltern! Für sie ist er doch nur ein Vorzeigeobjekt, mit dem sie im Bekanntenkreis angeben können. Die interessieren sich für nichts als für sich selbst. Glauben Sie, die würden mal mit Jonas den Großvater besuchen gehen? Nee! Stattdessen versuchen sie den Schrebergarten so schnell wie möglich loszuwerden, damit nur ja nicht ein Euro mehr als nötig gezahlt werden muss. Könnte ja alles von ihrem Erbe abgehen. Der Opa ist bloß deswegen in so einem tollen Heim gelandet, weil nur dort ein Zimmer frei war und die Eltern so kurzfristig nichts anderes bekommen haben. Ständig sind sie am Jammern über die Kosten, obwohl der Großvater alles von seinem eigenen Ersparten bezahlt. Jonas findet das zum Kotzen.« Sara hatte sich so in Rage geredet, dass Hackenholt sich in Schweigen hüllte und hoffte, sie würde in ihrer Wut noch ein paar weitere Details preisgeben. »Deswegen gibt Jonas auch so viel Nachhilfe. Er will sein eigenes Geld verdienen und nicht von seinem Vater abhängig sein. Jonas spart und spart. Und im Herbst, wenn er achtzehn ist, will er den Schrebergarten unter seinem Namen pachten und mit dem Opa hinfahren, sobald er den Führerschein hat.« Abrupt brach sie ab. Ihr Ärger darüber, so viel ausgeplaudert zu haben, war ihr anzusehen. »Aber eigentlich geht Sie das alles gar nichts an«, fügte sie trotzig hinzu.
»Sara, wir wollen Jonas helfen. Aber das können wir nur, wenn wir wissen, wo er sich aufhält.«
»Ach wo! Das ist doch nur so eine blöde Gesprächsstrategie von Ihnen, damit ich erzähle, was ich weiß. Das haben die uns bei der Coolrider-Ausbildung auch versucht beizubringen. Allerdings hat man Sie bestimmt ein bisschen besser geschult. Hat ja auch funktioniert: Ich habe Ihnen schon total viel erzählt, was ich gar nicht sagen wollte.« Energisch reckte sie ihr Kinn vor und blitzte Hackenholt mit ihren braunen Augen an. »Das ist nämlich auch wieder so ein Quatsch, wissen Sie? Die ganze Zeit halten die Coolrider-Leute ihre blöden Treffen ab und sagen uns, wenn was ist, können wir jederzeit unseren Betreuer anrufen. Aber wenn man dann wirklich mal einen braucht, dann ist er garantiert nicht zu erreichen! Und nur, weil wir noch nicht volljährig sind, nimmt uns keiner für voll.« Sie lachte bitter über ihr Wortspiel, dann stand sie auf. »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe keine Ahnung, wo Jonas steckt, aber er wird schon wissen, was er tut.«
»Und wenn du es wüsstest, würdest du es mir auch nicht sagen, nicht wahr?«, fragte Hackenholt mit einem resignierten Seufzen.
Noch einmal funkelte ihn Sara an, dann nickte sie und ging zurück in ihren Unterricht. Hackenholt beließ es dabei. Im Moment würde er sowieso nicht mehr aus ihr herausbekommen. Im Gegenteil, sie würde sich nur noch weiter verschließen. Er musste zu einem späteren Zeitpunkt erneut mit ihr sprechen, jetzt machte er sich erst einmal auf die Suche nach Jennifer, dem Mädchen, das angeblich in Jonas verliebt sein sollte.
Im Vergleich zu Sara, die eine natürliche Ausstrahlung besaß, wirkte Jennifer wie ein aufgedonnertes Playboy-Bunny. Ein Häschen zierte ihr T-Shirt, eins trug sie als Anhänger an einer billigen goldenen Halskette, eins als Ohrstecker und noch eins an einem Lederarmband. Hackenholt merkte schnell, dass er eine kleine Wichtigtuerin vor sich hatte, die immer im Mittelpunkt stehen wollte und dabei auch nicht davor zurückschreckte, hysterisch zu werden.
Unter Tränen beichtete sie, was offenbar schon die halbe Schule wusste und noch nie ein Geheimnis war: Sie hatte sich in Jonas verliebt! So wie sie die Situation beschrieb, konnte einem der Junge leidtun. Sie verzehrte sich nach ihm, doch er hatte nur Augen und Ohren für Sara. Immer hing er mit ihr herum, wenn er nicht gerade in der Bibliothek saß und las. Allerdings war Jennifer auch schon die kleine Irina aus der neunten Klasse aufgefallen, die sich auffällig oft in seiner Nähe herumtrieb. Vor allem, seit sie bei Jonas Nachhilfestunden nahm. Am Anfang war Irina in Mathematik grottenschlecht gewesen, aber inzwischen stand sie auf einer Zwei. Das zeigte doch schon, wie gut Jonas war, oder? Aber dass er sich so häufig mit der Jüngeren abgab, fand Jennifer einfach nur ungerecht. Sie hatte sich schon überlegt, ob sie nicht auch bei ihm Nachhilfe nehmen sollte, aber eigentlich wollte sie ihn lieber damit beeindrucken, dass sie gut war und er mit ihr durchaus über ein schwerwiegendes mathematisches Problem diskutieren konnte. So ging es in einem fort, ohne Punkt und Komma. Jennifer war eine Selbstdarstellerin, die von Jonas als Menschen rein gar nichts wusste.
Nach den Einzelgesprächen trafen sich die Beamten in Stellfeldts Klassenzimmer und verglichen ihre Aufzeichnungen miteinander. Hackenholts Unterhaltungen waren mit Abstand die interessantesten und ergiebigsten gewesen.
»Hat einer von euch mit einem Mädchen namens Irina gesprochen? Sie soll von Jonas Nachhilfe in Mathematik bekommen haben.«
Baumann nickte. »Iech hob mid anneer Irina Blinow blauderd. Wår erweng engsdlich. Vill hods mer ned gsachd. Blous dass midn Jonas seid Weihnachdn übd, dassersi allerweil am Middwoch in der Bibliodeech dreffm un dassi ihre Noodn gscheid verbesserd ham. Wos der Bou in seinera Freizeid doud, hods obber ned gwissd.«
»Hm«, brummte Hackenholt, »vielleicht reden wir in den nächsten Tagen noch einmal mit ihr. Für heute lassen wir es gut sein und fahren zurück zum Präsidium. Mal schauen, ob uns Christine inzwischen etwas Neues sagen kann.« Er warf einen Blick auf die Uhr. Viertel nach zwölf. »Wir müssen uns auch noch mit Jonas’ Bank in Verbindung setzen und in Erfahrung bringen, ob er in den letzten Tagen Geld abgehoben hat. Und wenn ja, dann wo.«
Zurück in der Dienststelle machte sich Hackenholt sofort daran, die erforderlichen Anträge auszufüllen und die benötigte richterliche Genehmigung einzuholen. Nachdem alles erledigt war, faxte er die Unterlagen an die Zentralstelle der Banken in Frankfurt.
Die Antwort kam überraschend schnell. Als sich die Kollegen nach der Mittagspause versammelt hatten, brachte die Schreibkraft ein Fax in den Besprechungsraum. Hackenholt überflog es.
»Jonas hat kein Geld abgehoben«, fasste er den Inhalt der übermittelten Kontoauszüge zusammen. »Dafür hat er zum letzten Mal vor zwei Wochen einhundertfünfzig Euro eingezahlt. Sein aktueller Kontostand beläuft sich auf viertausenddreihundertsiebenundzwanzig Euro.«
»Eine stattliche Summe«, stellte Stellfeldt fest. »Hat er das alles mit der Nachhilfe verdient?«
»Nou mäißerder ja er Gwerbe oomeldn!«, protestierte Baumann.
»Ich weiß nicht«, murmelte Hackenholt. »Die Einzahlungen unterscheiden sich erheblich in ihrer Höhe und erstrecken sich auch über mehrere Jahre. Aber das sehe ich mir später genauer an.« Er legte die Papiere zur Seite. »Jetzt lass mal hören, was du herausgefunden hast, Christine.«
Alle wandten sich der Leiterin der Spurensicherung zu, die ausnahmsweise mal ihren Kugelschreiber zweckbestimmt nutzte: Sie machte sich Notizen auf den Unterlagen, die vor ihr auf dem Tisch lagen.
»Also«, sie holte tief Luft, »wir haben in dem Schrebergarten eine Fülle von Spuren gefunden. Zum einen haben wir im Gras diese überdimensional lange Brechstange hier entdeckt.« Sie legte ein Bild in die Mitte des Tisches. »Das ist unser wichtigstes Fundstück. Die Stange hat genau den Durchmesser, den Dr. Puellen für die Tatwaffe angegeben hat. An ihrem einen Ende konnte ich Blutanhaftungen nachweisen, die mit Heinrich Grubers Blutgruppe übereinstimmen. Ob das Blut tatsächlich von ihm stammt und er mit dieser Stange niedergeschlagen wurde, kann nur die DNA-Analyse zeigen. Ich persönlich halte es allerdings für sehr wahrscheinlich. Vor allem wegen der Rostpartikel, die Dr. Puellen in der Wunde gefunden hat. Aber auch die müssen wir erst noch mit Proben der Stange vergleichen.« Sie blickte in die Runde und fuhr dann fort. »Am anderen Ende der Stange haben wir Hautpartikel und ebenfalls minimale Blutanhaftungen entdeckt, die wir für eine Analyse verwenden können. Hierbei handelt es sich aber um eine andere Blutgruppe als die von Heinrich Gruber. Es ist durchaus vorstellbar, dass sich der Täter an dem Rost verletzt hat. Die Stange ist sehr schwer, und wenn man sie mit bloßen Händen hochhebt und damit zum Schlag ausholt, muss der Schwung sehr heftig sein. Dadurch wird sie einem ein paar Millimeter aus der Hand gerissen, sodass der Rost die Haut leicht aufreißt.« Wieder schaute sie auffordernd in die Runde. »Hat jemand so weit noch Fragen?«
»Ja«, meldete sich Stellfeldt. »Wie ist es möglich, dass an der Stange noch Spuren anhaften? Es hat doch stark geregnet.«
»Ich glaube, da haben wir schlicht und einfach großes Glück gehabt. Sie lag zwischen der Gartenlaube und dem Geräteschuppen, der übrigens ganz gegen deine Prophezeiungen nicht über mir zusammengebrochen ist.« Sie warf Wünnenberg einen bösen Blick zu. »Die Stange haben wir halbwegs geschützt unter einem hervorstehenden Dach gefunden. Da sie so stark verrostet ist, haften ihr Hautpartikel und Blutströpfchen besonders gut an.«
Stellfeldt nickte. Er hatte keine weiteren Fragen.
»Im Inneren des Häuschens haben wir an Wand und Boden ein aussagekräftiges Blutspurenmuster vorgefunden. Anhand der Spritz- und Abrinnspuren können wir eindeutig nachweisen, dass das Opfer im hinteren Drittel der Laube ziemlich nahe der Wand stand, als der Schlag seinen Kopf traf. Ich denke, wir sollten einstweilen von dem Obdachlosen als dem Opfer ausgehen.«
»Was mir bislang nicht so recht einleuchten will: Warum hat man ihn nicht an Ort und Stelle gelassen, wenn der Schrebergarten doch sowieso brachliegt. In der Laube hätte ihn so schnell sicher niemand gefunden«, wunderte sich Stellfeldt.
»Der Jonas häddnern doddn gfundn.«
»Außerdem konnte niemand wissen, dass der Garten nicht genutzt wird«, wandte Wünnenberg ein.
»Edz gäih fei zou! Schau derner des verwilderde Grundschdigg oo! Des siehd er Blinder mid ern Griggschdogg, dassi dou kanner drum kümmerd.«
»Meiner Meinung nach gibt es noch einen anderen Punkt, den wir bedenken müssen«, schaltete sich Hackenholt in die Diskussion ein. »Heinrich Gruber war nach dem Schlag auf den Kopf nicht tot, sondern nur bewusstlos. Wir wissen das, aber wusste es auch der Täter? Oder hat der den Stadtstreicher irrtümlich für tot gehalten? Und dann stellt sich noch die Frage: Wie hat er den Bewusstlosen aus dem Gartenhaus in den Wald gebracht?«
»Mit einer Schubkarre«, erklärte Mur. »Im Geräteschuppen haben wir eine gefunden, die völlig verdreckt ist. Das habe ich dir doch sogar schon erzählt, oder? Auch an ihr konnte ich Blut nachweisen.«
Hackenholt nickte. »Okay. Und wie hat der Täter den Bewusstlosen dann samt Schubkarre vom Grundstück bekommen, wenn das Tor doch abgesperrt war?«
»Allmächd! Hassd des, du maansd, des wår der Jonas, wou in Brofessor ane am Kuubf naufghaud hod?«, fragte Baumann skeptisch.
Hackenholt nickte erneut. »Ich weiß, dass das kein schöner Gedanke ist, aber alles, was wir bisher wissen, würde zu diesem Szenario passen. Jonas ist der Einzige, der den Garten im Moment aktiv nutzt. Außerdem wäre er sicher absolut panisch gewesen, nachdem er einen Mann niedergeschlagen hat. Daher hätte er wahrscheinlich nicht bemerkt, dass Gruber nur bewusstlos war. Alles würde passen: Er glaubt, dass er den Mann umgebracht hat. Aber im Gartenhaus kann er ihn nicht lassen, weil er selbst dort wieder hingehen will, oder weil er weiß, dass seine Eltern oder gar der Großvater Ärger bekämen, wenn man dort einen Toten entdecken würde. Also bringt er den Mann in den Wald.« Hackenholt nickte mehrfach. »Das würde auch erklären, wie der Täter und das Opfer das Grundstück verlassen haben. Höchstwahrscheinlich hat Jonas einen Schlüssel und kann damit das Tor aufsperren. Heinrich Gruber war nicht gerade ein Fliegengewicht, und einen bewusstlosen Menschen kann niemand durch das Loch im Zaun bugsieren, ohne Schleifspuren zu hinterlassen. Auch die Schubkarre hätte da nicht hindurchgepasst. Der Täter muss also jemand gewesen sein, der einen Schlüssel hatte!«
»Die Spuren an der Schubkarre könnten deine Annahme stützen.« Stellfeldt strich sich ganz vorsichtig mit den Fingerspitzen über seine Glatze, auf der der Sonnenbrand wieder stärker geworden war. »Außerdem hat Jonas keinen Führerschein. Er konnte ihn also nicht mit einem Auto wegbringen.«
Mur sah ihren Kollegen zweifelnd an. »Dr. Puellen hat bei der Obduktion viele oberflächliche Kratzwunden an den Extremitäten des Toten gefunden. Ich bin mir sicher, dass er mit der Schubkarre in den Wald gebracht worden ist. So weit stimme ich euch zu, aber erinnerst du dich noch an das Waldstück, in dem wir den Stadtstreicher geborgen haben?« Sie sah Hackenholt an. »Dorthin kann ihn unmöglich eine einzelne Person gebracht haben, wenn es sich bei ihr nicht gerade um Superman handelt. Es müssen mindestens zwei gewesen sein, sonst hätten wir irgendwo Schleifspuren gefunden.«
»Wisst ihr, mir ist gerade noch ein weiterer Aspekt eingefallen, der die Theorie von Jonas’ Beteiligung stützt«, sagte Wünnenberg nachdenklich. »Der Junge ist genau an dem Tag verschwunden, an dem das Foto des toten Obdachlosen groß in den Zeitungen prangte.«
»Obber wårum häddnern der Jonas des ieberhabbs dou solln?«, ergriff Baumann Partei für den Jungen. »Der hod doch bei dener Kuulreider glernd, wäi er Ausernandersedzunger mid Woddn endschärfm koo. Wårumnern hiihauer? Wos wårnern Schlimms derbei, wenn der Sandler in dera Hiddn gschlåfm häd?«
»Das ist eine sehr gute Frage, Saskia«, stimmte Mur der Kollegin zu. »Ich habe mich schon gewundert, wann einer von euch endlich mal auf das Motiv zu sprechen kommt. Die Antwort untermauert übrigens auch meine These, dass mehrere Personen an der ganzen Sache beteiligt waren, nicht nur Jonas: Ich bin absolut überzeugt davon, dass in der Gartenlaube etwas Illegales abgelaufen ist.«
»Warum? Wie kommst du denn darauf?«, fragte Hackenholt.
»Erinnerst du dich an die blauen Mülltüten, die unter dem Tapeziertisch lagen?«
Er nickte.
»In den Säcken waren drei große leere Kanister BLITZ-BLANK-SAUBER.«
»Ein Reinigungsmittel?«, fragte Wünnenberg verwirrt.
»Ein Reinigungsmittel«, bestätigte Mur. »Und zwar eins, das zu 99,9 Prozent aus Gamma-Butyrolacton besteht.«
»Ja und? Da wollte halt jemand ordentlich sauber machen.« Wünnenberg verstand noch immer nicht.
»GBL, Ralph. Gamma-Butyrolacton ist GBL, der Grundstoff, aus dem Liquid Ecstasy hergestellt wird.«
Im Raum herrschte atemlose Stille. Alle mussten die Tragweite von Murs Behauptung erst einmal verarbeiten.
»Bist du dir sicher?«, fragte Hackenholt, der sich als Erster von dem Schock erholte, ungläubig.
»Natürlich bin ich mir sicher, dass Gamma-Butyrolacton GBL ist«, fauchte Mur.
Hackenholt schüttelte müde den Kopf. »Danke, das weiß ich auch. Ich meine, bist du dir sicher, dass in der Laube wirklich aus einem Industriereiniger Liquid Ecstasy hergestellt worden ist? Dafür braucht man doch sicher ein richtiges Labor mit verschiedenen Geräten und noch einige andere Substanzen, oder?«
Mur schüttelte den Kopf. »Ich maile dir nachher eine Anleitung aus dem Internet. Die ist dort übrigens für jedermann frei zugänglich. Dann siehst du, wie leicht das geht. Außerdem habe ich in den Abfallsäcken auch die Verpackungen von allen anderen benötigten Stoffen gefunden. Tut mir leid, dass ich euch den Fall verkomplizieren muss, aber ich bin mir absolut sicher, dass die Gartenlaube eine geheime Waschküche war.«
»Wie schaut es mit Fingerspuren aus?«, wollte Stellfeldt wissen.
Mur winkte ab. »Davon gibt es jede Menge. Auf den Mülltüten, auf den Kanistern, auf der Holzplatte, die als Tisch diente. Wir sind noch am Auswerten. Bisher waren jedenfalls keine darunter, die bereits im Computer gespeichert sind. Ich kann euch noch nicht einmal sagen, von wie vielen Personen wir eigentlich reden.«
»Und was heißt das jetzt konkret in Bezug auf Jonas? Waren seine Fingerspuren auf den Verpackungen der Chemikalien?«, hakte Stellfeldt nach.
Mur nickte. »Er hat auf jeden Fall bei der Herstellung der Drogen mitgemacht. So viel steht unweigerlich fest. Ob er es aber auch war, der den Obdachlosen niedergeschlagen hat, weiß ich noch nicht. Das werden wir erst erfahren, wenn die molekulargenetischen Spuren ausgewertet sind.«
»Kennd mer des mid den Ligwid Egsdersi ermål anner erweng genauer erglärn?«, fragte Saskia Baumann. »Des is bis edz irchndwäi an mir vorbeiganger.«
Stellfeldt wandte sich der jungen Kollegin zu. »Liquid Ecstasy wird in der Szene auch Liquid X, Gamma oder Fantasy genannt. Vielleicht sind dir die Namen geläufiger?«
Baumann schüttelte den Kopf.
»Du darfst dich vor allem nicht von der Bezeichnung irreführen lassen, Saskia«, erklärte nun Christine Mur. »Liquid Ecstasy hat mit der Synthetikdroge Ecstasy überhaupt nichts zu tun. Und es ist auch nicht immer ›liquid‹, wie man denken könnte. Zwar wird es am häufigsten als Flüssigkeit angeboten, aber eben nicht immer. Bei der chemischen Reaktion entsteht als Erstes eine seifenähnliche Substanz, die dann wieder aufgelöst werden muss. Heutzutage wird es aber auch als Pulver vertrieben. Von den Inhaltsstoffen her unterscheidet es sich jedoch deutlich von Ecstasy oder Amphetaminen.«
»Liquid Ecstasy ist Gamma-Hydroxybuttersäure, kurz GHB, das schon im 19. Jahrhundert entdeckt wurde, aber erst seit den sechziger Jahren pharmakologisch verwendet wird«, fuhr nun wieder Stellfeldt fort. »In der Medizin fand es früher als Narkosemittel und auch als Antidepressivum Verwendung, heute wird es aufgrund seiner unerwünschten starken Nebenwirkungen kaum noch zu medizinischen Zwecken eingesetzt. Bei Bodybuildern und Leistungssportlern wurde es wegen seiner leistungsfördernden Wirkung als Wachstumshormon zu Dopingzwecken verwendet, aber gegenwärtig besteht in Deutschland nur noch eine einzige pharmazeutische Zulassung als verschreibungspflichtiges Narkosemittel. Seit 2002 fällt GHB unter das Betäubungsmittelgesetz. Es ist zumeist eine geruch- und farblose Flüssigkeit, die oral eingenommen wird. Sie schmeckt salzig und, wenn sie schlecht hergestellt ist, seifig, aber das kann man leicht übertünchen, indem man GHB in ein Getränk mischt, das einen starken Eigengeschmack hat. Meistens wird es in kleinen Fläschchen gehandelt.«
Baumann machte große Augen. »Un wäi wirgd des?«
»Die Wirkung tritt in der Regel nach zehn bis dreißig Minuten ein und kann eine bis drei Stunden anhalten. In Ausnahmefällen deutlich länger. Das Problem ist, dass man nie genau weiß, welche Dosis von GHB in der Flüssigkeit enthalten ist, da es immer sehr stark verdünnt werden muss. Es kann also sehr leicht zu einer Überdosierung kommen. Geringe bis mittlere Dosen können entspannend, beruhigend, aber auch euphorisierend und sexuell anregend wirken, ähnlich wie ein Alkoholrausch. In höheren Dosen verstärkt sich die einschläfernde Wirkung bis hin zur Bewusstlosigkeit. Außerdem leiden die Konsumenten dann unter Gedächtnislücken. Sie wissen nicht, was passiert ist. In Bayern ist in diesem Zusammenhang vor allem der Donisl-Fall aus München bekannt geworden. Damals wurde dort so manchem ausländischen Wirtshausbesucher eine hochkonzentrierte Dosis der K.-o.-Tropfen in sein Weißbier gegeben. Anschließend wurden die Opfer ausgeraubt und vor dem Lokal auf einer Parkbank abgelegt. Die Kunden konnten sich an nichts mehr erinnern und glaubten, ihr Portemonnaie im Suff verloren zu haben. Die Kollegen haben fast ein Jahr gebraucht, bis sie den Machenschaften auf die Schliche kamen. Bis 2002 wurde GHB, obwohl es auch da schon verboten war, vorwiegend in Sexshops zum Beispiel als Lederpflegemittel verkauft. Zielgruppe waren wegen der muskelentspannenden Wirkung homosexuelle Männer, weshalb GHB auch gerne als Schwulentinktur bezeichnet wurde.«
Alle hatten interessiert Stellfeldts fachkundigen Ausführungen gelauscht.
»Da ist noch etwas anderes«, sagte Mur, als Hackenholt sich gerade erheben und damit die Besprechung beenden wollte. »Ich weiß nicht, ob es dir schon zu Ohren gekommen ist, aber es hat hier in der Metropolregion in den letzten Wochen mehrere Fälle gegeben, bei denen die Opfer erst betäubt und dann ausgeraubt wurden, ganz so wie im Donisl-Fall.«
Hackenholt nickte. »Sven Leichtle vom Drogenkommissariat hat mir neulich davon erzählt, als wir in der Kantine anstanden.«
»Wenn Jonas den gesamten Inhalt der Kanister, die ich in den Müllsäcken gefunden habe, verarbeitet hat, dann ist das, was wir bislang wissen, nur die Spitze des Eisbergs. Da kommt noch eine Riesenwelle von Straftaten auf uns zu! Ihr müsst den Jungen schleunigst finden. Nachdem seine Ausrüstung nicht mehr in der Laube ist, ist es durchaus möglich, dass er das Zeug weiterproduziert, während wir hier reden.«
Im Anschluss an die Besprechung besuchte Hackenholt sofort seinen Kollegen Sven Leichtle im K 44 und erkundigte sich, ob die Kollegen in einem der Fälle, in dem die Opfer mittels K.-o.-Tropfen bewusstlos gemacht worden waren, schon Hinweise auf den oder die Täter hatten.
Leichtle sah überarbeitet aus und schüttelte resigniert den Kopf. »Ausländer. Vermutlich Osteuropäer, aber das ist alles, was wir wissen. Sie hinterlassen selten Spuren, und wenn, dann haben wir nichts, womit wir sie vergleichen können.«
»Habt ihr zumindest bei einem der Opfer analysieren können, um welche Art von K.-o.-Tropfen es sich handelt?«
Leichtle sah Hackenholt prüfend an. »Ja, aber warum fragst du?«
»Sag mir erst den Wirkstoff«, beharrte Hackenholt.
»Gamma-Hydroxybuttersäure, GHB.«
Hackenholt stöhnte auf, dann erzählte er seinem Kollegen von den Ermittlungen rund um Jonas Petzold und die Gartenlaube sowie von Christine Murs Vermutung, die sich auf die bisherigen Fundstücke stützte. Nachdem der Hauptkommissar geendet hatte, sah ihn Leichtle fassungslos an.
»Und du hast nicht die leiseste Ahnung, wo der Junge steckt?«
Hackenholt schüttelte den Kopf. »Aber wenn er in der Laube wirklich das Zeug hergestellt hat – und seien wir mal realistisch, was sollte er mit genau den dafür benötigten Zutaten sonst getan haben –, dann ist davon wahrscheinlich verdammt viel schon im Umlauf.«
Leichtle nickte. »Aber genau darin liegt unsere Chance!«, rief er und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Mit dem Wissen haben wir einen Grund, in nächster Zeit groß angelegte Razzien durchzuführen. Ich halte dich auf dem Laufenden, was sich bei uns tut, und im Gegenzug gibst du mir sofort Bescheid, wenn ihr etwas Neues herausfindet.«