Samstag

Der Samstag wurde schlimmer, als Hackenholt es sich in seinen abartigsten Alpträumen hätte zusammenspinnen können. Ein Tag, den er am liebsten sofort aus seinem Gedächtnis gestrichen hätte, doch die grausamen Szenen hatten sich ihm unauslöschlich ins Gehirn eingebrannt. Schon als er den Autopsieraum betrat und auf den Sektionstisch schaute, wurde ihm flau im Magen. Schnell wandte er sich ab.

»Sie haben jedes Körperteil einzeln in Plastikfolie eingewickelt«, erklang Christine Murs Stimme hinter ihm. Sie hörte sich rauer an als sonst. Hackenholt drehte sich um. Die Leiterin der Spurensicherung war bleich und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Offensichtlich hatte sie in der Nacht kaum geschlafen.

Der Hauptkommissar wappnete sich und stand den Anfang der Obduktion stoisch durch, doch dann nahmen seine Kopfschmerzen proportional mit dem Geräuschpegel der Säge zu. Vor seinem inneren Auge flackerte das Bild der Wohnung in der Kollwitzstraße auf. Der Zementstaub, die Betonbrocken, das Werkzeug, die Teile der zersägten Mülltonne. Jedes Wort, mit dem Dr. Puellen bewusst monoton die Verletzungen beschrieb, ließ seinen Magen stärker zusammenkrampfen. In dem Augenblick, in dem er anhand des Zahnschemas zweifelsfrei feststellte, dass es sich bei den vor ihm liegenden sterblichen Überresten um Jonas Petzold handelte, war es um Hackenholt geschehen. Er wandte sich um und wankte aus dem Raum. Draußen lehnte er sich an die Wand und versuchte gleichmäßig zu atmen. Ein plötzlicher Schwindel erfasste ihn, und er schloss die Augen. War es das erlittene Schädel-Hirn-Trauma, oder wurde er für so etwas zu alt? Übelkeit stieg in ihm hoch. Er schaffte es gerade noch bis zur Herrentoilette, dann erbrach er sich.

Als die Tür hinter ihm aufging, trat Christine Mur in den kleinen Raum. »Es tut mir leid. Ich habe nur an mich gedacht. Ich wollte dich unbedingt dabeihaben, aber ich hätte dich nicht anrufen sollen. Du bist doch noch krank …« Sie war den Tränen nahe.

Hackenholt drängte sich an ihr vorbei zum Waschbecken, spülte zuerst seinen Mund aus, wusch sich dann die Hände und das Gesicht. Immer wieder fing er das kühle Wasser in seinen zu einer Schale geformten Händen auf und tauchte sein Gesicht hinein. Als er etwas ruhiger geworden war, richtete er sich wieder auf und sah Mur im Spiegel an.

»Ich glaube, ich werde langsam zu alt für diesen Job. So viel Gewalt, ausgelassen an einem einzigen Menschen, ist mir bisher noch nie untergekommen. Wo soll das bloß hinführen? Das ist eine ganz neue Kaltschnäuzigkeit. Vielleicht machen es die Amis doch richtig, wenn sie ihren Polizisten nach zwanzig Dienstjahren die Möglichkeit geben, sich in den Ruhestand versetzen zu lassen.«

»Jetzt hör aber auf. Was da passiert ist, lässt niemanden kalt. Außerdem hast du dir die Fähigkeit bewahrt, den Menschen hinter dem Toten zu sehen, und bist nicht abgestumpft. Gerade das macht dich doch aus. Wir hatten noch nie ein so gutes Team im K 11 wie jetzt, und für das ruhige Arbeitsklima bist alleine du verantwortlich. Wenn ich da an deinen Vorgänger denke …« Sie winkte ab. Dann sah sie ihm im Spiegel fest in die Augen. »Frank, wir brauchen dich. In den letzten drei Tagen ist uns das allen mehr als schmerzlich bewusst geworden. Nichts ist mehr rund gelaufen seit deinem Unfall. Jeder hat jeden angemeckert, die Stimmung war im Keller.« Sie wurde rot. Offenbar dachte sie daran, wie wenig sie selbst zum reibungslosen Ablauf beigetragen hatte. Schließlich räusperte sie sich. »Ich muss wieder rein. Puellen sagt, du sollst dich in sein Büro setzen und die Beine hochlegen. In der Thermoskanne ist Pfefferminztee.« Sie verzog das Gesicht. »Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob einem davon nicht eher noch schlechter wird.«

Eine Dreiviertelstunde später war die Obduktion abgeschlossen. Dr. Puellen und Christine Mur betraten gemeinsam das kleine Kabuff, das als Büro diente. Hackenholt hatte die düsteren Gedanken mittlerweile weitgehend beiseitegeschoben und eine Liste der nun folgenden Schritte zusammengestellt.

Der Mediziner ging zu einem Bord mit Tassen, drehte sich um und sah Mur fragend an. Entschieden schüttelte sie den Kopf, also schenkte er nur sich einen Becher Tee ein, den er in einem Zug austrank. Dann fasste er das Ergebnis der Autopsie zusammen: »Der Junge wurde totgeprügelt. Ein oder zwei Tage später haben die Täter ihn zerstückelt, jedes Teil in Folie gewickelt und einzementiert. Die Art und Weise, wie die Gliedmaßen und der Kopf abgetrennt wurden, lässt darauf schließen, dass es sich bei den Tätern nicht um Profis handelt. Sie haben immer mehrmals mit den Werkzeugen angesetzt. Es gibt nicht einen einzigen glatten Schnitt. Offenbar hat es sie überrascht, wie schwer es ist, einen Menschen zu zerstückeln. Oder sie hatten nicht genügend Kraft, wobei dafür zugegebenermaßen eine ordentliche Portion vonnöten ist. Und Entschlossenheit; die braucht man auch.«

Mit der Autopsie waren die Schrecken des Tages aber noch nicht vorüber. Im Präsidium bat Hackenholt den diensttuenden Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams zu sich in die Dienststelle und informierte während der Wartezeit den am Wochenende zuständigen Jour-Staatsanwalt und den Kollegen von der Pressestelle über die Ergebnisse der Obduktion. Ein solcher Fall schaffte es im Sommerloch spielend in die überregionalen Nachrichten. Hackenholt graute es schon vor dem unter Garantie bald einsetzenden Medienrummel, den er auch dieses Mal gerne in die routinierten Hände eines Pressesprechers legen würde.

Sobald der Notfallseelsorger instruiert war, machten sie sich auf den Weg nach Röthenbach an der Pegnitz, um den Eltern die schockierende Nachricht vom Tod ihres Sohns zu überbringen. Jonas’ Mutter brach zusammen. Sie musste notärztlich versorgt und vom Rettungsdienst in die Klinik gebracht werden. Auch dies waren Szenen, die Hackenholt so schnell nicht mehr aus seinem Gedächtnis bekam.

Nachdem all das erledigt war, fühlte auch er sich wieder krankenhausreif. Sein Kopf drohte zu zerspringen, ihm war schlecht, und immer wieder suchten ihn Schwindelanfälle heim. Er rief kurz im Büro an, um Stellfeldt zu sagen, dass er beim besten Willen nicht mehr ins Präsidium kommen könne, dann fuhr er nach Hause, legte sich wie er war aufs Bett und war innerhalb von Minuten eingeschlafen.

Sophie, die am Abend gut gelaunt von verschiedenen Konzerten des Bardentreffens heimkam, fand ihn in voller Montur auf dem Bett liegend. So tief und fest, wie er schlief, brachte sie es nicht übers Herz, ihn zu wecken, damit er zumindest Hemd und Hose auszog.