Sonntag

Der Sonntagvormittag dümpelte mit Routinearbeiten vor sich hin, die zwar die Mitarbeiter des Kommissariats beschäftigten, jedoch keine unmittelbaren Erfolge hervorbrachten. Erst am Nachmittag kam völlig unvermittelt wieder Schwung in die Ermittlungen. Hackenholt und Stellfeldt waren gerade dabei, die aus der Bevölkerung eingegangenen Hinweise auszuwerten, als Hackenholts Mobiltelefon klingelte. Es war Sara. Sie brüllte gegen den Lärm an, der um sie herum herrschte, und trotzdem musste sie jeden Satz zweimal wiederholen, damit Hackenholt sie auch nur halbwegs verstand.

Sie war im Rahmen des Bardentreffens in der Katharinenruine gewesen, um Emily Smith, eine umjubelte Newcomerin der schottischen Folkszene, zu sehen. Nach dem Konzert war sie mit ihrer Freundin zum Lorenzer Platz gebummelt, um zu hören, was dort los war. In der Menge dicht an dicht gedrängt stehender Menschen glaubte sie plötzlich, die beiden Jugendlichen wiedererkannt zu haben, die Jonas in der Gartenlaube bedroht hatten.

Hackenholt war wie elektrisiert. Sofort machte er sich mit Wünnenberg auf den Weg, während Stellfeldt über die Einsatzzentrale die Kollegen vor Ort zu erreichen versuchte – vor allem die Beamten vom USK, die an diesem Tag teils in Zivil, teils in Uniform Zusatzdienste in der Innenstadt versahen. Unter normalen Umständen brauchte Hackenholt vom Jakobsplatz bis zur Lorenzkirche im Spazierschritt rund fünf Minuten, doch heute war die Innenstadt gerammelt voll. Außerdem war sein rechter Fuß noch immer nicht in Ordnung, sodass ihm die Entscheidung für den Dienstwagen leichtfiel. So schnell wie irgend möglich fuhr er mit Wünnenberg über die Vordere Ledergasse, den Josephsplatz und die Adlerstraße bis zum Anfang der Fußgängerzone. Dort ließen sie das Auto einfach neben dem Wareneingang vom Karstadt stehen und durchquerten zu Fuß im Zickzackkurs die gut zehn Meter breite Flaniermeile der Königsstraße. Links am Admiral-Kino vorbei ging es in die Bankgasse. In dem erheblich schmaleren Sträßchen herrschte so großes Gedränge und Geschiebe, dass die beiden Beamten nur noch im Schneckentempo vorankamen.

Mein Gott, wie sollen wir Sara hier nur finden?, fragte sich Hackenholt. Mit derart vielen Menschen hatte er nicht gerechnet. Das Mädchen hatte gesagt, dass sie mit ihrer Freundin mitten im Gedränge vor der Bühne stand, die beiden Jugendlichen gleich daneben. Hackenholt fühlte, wie sein Handy in der Hosentasche zu vibrieren begann. Der Klingelton ging in der Geräuschkulisse völlig unter. Hoffentlich war es Sara, die sich noch einmal meldete. Doch es war kein Anruf, sondern eine MMS. Ein unscharfes Foto von einem jungen blonden Mann, der ein weißes T-Shirt trug.

Während Hackenholt und Wünnenberg sich noch das Bild einzuprägen versuchten, erhielt der Hauptkommissar drei weitere Bildnachrichten. Alle zeigten zwei männliche Jugendliche. Mal zusammen, mal allein, mal von hinten. Erneut vibrierte das Handy, und diesmal war es Sara. Hackenholt hörte bei dem Lärm der Musik und der vielen Menschen jedoch kein Wort. Es war unmöglich, sich zu verständigen, also legte er auf. Nach einigen Sekunden bekam er eine SMS: »Gehen Richtung Nassauer Haus. Wir hinterher.« Die Beamten kämpften sich nach rechts durch die Menschenmassen in Richtung Kirche durch. Meter für Meter kamen sie voran. Eine neue SMS: »Gehen in Karstadt.«

Endlich erreichten Wünnenberg und Hackenholt das nördliche Seitenschiff der Lorenzkirche. Ab hier konnten sie wieder etwas schneller laufen. Schon tauchte vor ihnen die bronzene, dreigeschossige, mit den Sinnbildern der Tugenden verzierte Säule über dem achteckigen Becken des 1589 erbauten Tugendbrunnens auf. Hackenholt schwitzte. Sollten sie sich jetzt rechts halten und das Warenhaus über den Eingang Königstraße betreten oder geradeaus in die Karolinenstraße gehen und dort den Eingang neben der U-Bahn nehmen?

Hackenholt versuchte Sara anzurufen. Es klingelte, dann schaltete sich die Mailbox ein. Er versuchte es erneut. Diesmal knackte es in der Leitung, und er wartete. Plötzlich ertönte eine Frauenstimme: »Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.« Verdammt!

Die beiden Beamten entschieden sich für den Eingang Karolinenstraße gegenüber vom ehemaligen Buchhaus Campe. Gleich hinter den Glastüren des Karstadt-Kaufhauses erstreckte sich die Parfümerieabteilung, rechter Hand schloss sich erst die Strumpf- und dann die Herrenabteilung an. Hier war es nicht ganz so voll. Die Blicke der Ermittler wanderten umher, vorbei an den Regalen und Ständern mit Hemden, Jacken und anderer Kleidung. Sie konnten niemanden entdecken, der so aussah wie die zwei jungen Männer auf den Handybildern. Auch von Sara und ihrer Freundin keine Spur. Hackenholt drückte auf die Wahlwiederholung. Immer noch die gleiche Ansage. Einer Eingebung folgend schaute er auf sein Handy. Der Empfang war schlecht.

»Lass es uns in den unteren Etagen probieren, vielleicht kann ich Sara nicht erreichen, weil ihr Telefon dort kein Netz hat.«

Am Ende der Rolltreppe, die ins Untergeschoss führte, sahen sie eine Menschentraube. Eilig liefen sie die angehaltene Treppe hinab. An deren Ende lag, von Menschen umringt, eine alte Frau. Neben ihr kniete Sara. Erst auf den zweiten Blick sah Hackenholt neben Sara noch ein anderes Mädchen. Zwei Mitarbeiter kümmerten sich um sie und die Frau, während ein weiterer die umstehenden Menschen zum Weitergehen zu bewegen versuchte.

Hackenholt ging neben Sara in die Hocke. »Was ist passiert? Wo sind die Jungs hin?«

Sara schaute auf. Sie war bleich, und ihre Hände zitterten. »Ich glaube, sie haben gemerkt, dass wir ihnen gefolgt sind. Zuerst sind sie rauf zur Sportabteilung gefahren, aber dann haben sie es sich plötzlich anders überlegt und sind in der nächsten Etage wieder runter. Dabei sind sie uns entgegengekommen und haben mich so komisch angeschaut. Als wir ihnen dann hinterher sind, sind sie losgerannt und haben die Frau, die vor ihnen stand, einfach weggeschubst, sodass sie am Ende der Rolltreppe gestürzt ist. Die Leute dahinter konnten so schnell nicht ausweichen und sind über die arme Frau gefallen. Genauso wie Marina, meine Freundin. Sie hat sich was am Fuß getan. Verstaucht oder so. Jedenfalls kann sie nicht mehr auftreten. Da konnte ich sie doch nicht alleine lassen.«

Hackenholt nickte. »Nein, nein. Das hast du genau richtig gemacht. Weißt du, in welche Richtung die beiden gelaufen sind? Zum Ausgang?«

Sara hob die Schultern. »Keine Ahnung. Wirklich. Es ging alles so schnell. Ich habe nur gesehen, dass der kleinere von beiden die Frau gestoßen hat. Sie ist gefallen, hat geschrien, und die anderen Leute wussten nicht, wie sie ausweichen sollten. Die Rolltreppe ist einfach nicht stehen geblieben. Ich habe überhaupt nicht mehr auf die zwei Jungs geachtet. Wir sind über die Leute gestolpert, und als ich wieder hinsah, waren sie weg.«

»Sara, wir müssen den beiden hinterher. Vielleicht erwischen wir sie noch. Fahr mit deiner Freundin ins Krankenhaus, aber lass dein Handy eingeschaltet, damit ich dich erreichen kann, okay? Ich muss später unbedingt noch ausführlicher mit dir reden.«

Hackenholt warf Wünnenberg einen Blick zu. Der nickte, und beide rannten los. Hackenholts kaputter Fuß und lädierter Kopf waren für den Moment vergessen. Durch die Glastüren gelangten sie vom Kaufhaus direkt in die U-Bahn-Passage Lorenzkirche. Zu ihrer Rechten ging es zu der Rolltreppe, die hinauf in die Karolinenstraße führte, außerdem lagen in dieser Richtung die öffentlichen Toiletten. Geradeaus vor ihnen ging es zur U-Bahn, linker Hand erstreckte sich die Passage mit ihren Geschäften, die sich auf Höhe des Nordsee-Restaurants wiederum in zwei Gänge gabelte. Ein wahrer Kaninchenbau. Realistisch gesehen war eine Verfolgung aussichtslos, dennoch mussten sie es wenigstens versuchen. Die Ermittler entschieden sich für die U-Bahn. Mit der Rolltreppe fuhren sie in den tiefer liegenden Tunnel hinab und hörten noch, wie eine U-Bahn ihre Türen schloss und sich in Bewegung setzte. Verdammt! Aber das war zu erwarten gewesen, schließlich fuhren hier mehrere Linien. Vielleicht hielten sich die Jugendlichen ja trotzdem noch auf dem Bahnsteig auf, falls sie überhaupt die Richtung eingeschlagen hatten. Wünnenberg und Hackenholt gingen weiter und teilten sich auf. Jeder lief eine Seite des Bahnsteigs entlang. Unablässig schweifte Hackenholts Blick über die wartenden Menschen. Ein paar hatten sich auf den an der Wand angebrachten Sitzen niedergelassen, andere wanderten langsam den Bahnsteig auf und ab, doch die Mehrzahl stand einfach herum. Hackenholt ging langsamer und musterte die Leute. Es war niemand darunter, der auch nur die entfernteste Ähnlichkeit mit den gesuchten Jugendlichen hatte. Am Ende des Bahnsteigs traf er wieder auf Wünnenberg.

Hackenholt schüttelte den Kopf. »Nichts.«

»Bei mir auch nicht«, brummte Wünnenberg verdrossen.

»Ich denke, es macht keinen Sinn, hier weiter auf gut Glück zu suchen. Sie können inzwischen überall sein. Schauen wir lieber, dass wir zurück ins Präsidium kommen und die Bilder in die Fahndung geben. Danach können wir uns bei der VAG die Aufzeichnungen der Überwachungskameras von den Bahnhöfen holen. Wenn sie hier heruntergekommen und in eine U-Bahn eingestiegen sind, sehen wir es auf den Videos und können dann Stück für Stück die anderen Bahnhöfe durchgehen und verfolgen, wo sie ausgestiegen sind.«

Wünnenberg nickte. Gemeinsam schlugen sie den Weg zurück zum Auto ein, von dem sie hofften, dass es nicht schon abgeschleppt worden war.

Im Präsidium übertrug Hackenholt die Bilder von seinem Mobiltelefon auf den PC, bevor er sich um die Fahndung nach den beiden Jugendlichen kümmerte, während Wünnenberg zur VAG fuhr.

Die Bilder, die Sara mit dem Handy gemacht hatte, waren zugegebenermaßen sehr schlecht. Das Gesicht des einen Jugendlichen konnte man kaum erkennen, den anderen hatte sie dagegen viel besser erwischt, wenn auch dieses Foto unscharf war. Hackenholt druckte dennoch alle Bilder aus und rief dann Sara an. Sie war mittlerweile mit ihrer Freundin in die Erler-Klinik gebracht worden. Wegen des regen Betriebs, der dort herrschte, waren sie jedoch noch lange nicht an der Reihe, also stieg Hackenholt notgedrungen wieder ins Auto und fuhr zur Notaufnahme. Dort befragte er die beiden Mädchen und ließ sich die Geschehnisse des Nachmittags noch einmal genau erzählen. Wie sich die Jugendlichen verhalten hatten, ob sie allein unterwegs oder noch andere Freunde dabei gewesen waren, ob sie sich unterhalten und die Mädchen ihre Sprache verstanden hatten.

Am Ende schüttelte Sara nur noch den Kopf. »Ich weiß nichts mehr. Echt nicht. Ich komme mir schon vor, als hätte ich nur noch Watte im Kopf.«

Hackenholt beließ es dabei. Er kannte das Gefühl nur zu gut.

Wünnenberg war in der Zwischenzeit nicht untätig gewesen. Er sah sich die VAG-Videos sämtlicher Überwachungskameras für die Haltestelle Lorenzkirche an. Zum Glück konnte er den Zeitraum auf eine Viertelstunde eingrenzen, denn in der Station gab es viele verschiedene Kameras. Dennoch dauerte es lange, bis er auf einem Band die beiden Gesuchten entdeckte. Seelenruhig fuhren sie mit der Rolltreppe von der Passage in den U-Bahnhof hinunter, lachten, schubsten sich gegenseitig, gingen den Bahnsteig entlang und stiegen schließlich in die nächste U-Bahn ein. Es war die U 1, Richtung Langwasser Süd. Wünnenberg zückte sein Handy, um Hackenholt anzurufen. Er erreichte ihn im Auto auf dem Rückweg von der Erler-Klinik.

»Ich habe gerade die Jugendlichen entdeckt. Sie sind tatsächlich runter zur U-Bahn und in die U 1 gestiegen.«

»Großartig! Weißt du auch schon, wo sie hingefahren sind?«

»Nein, deswegen rufe ich ja an. Kannst du herkommen? Wir müssen sämtliche Videos der zwölf Haltestellen durchgehen, um zu sehen, wo sie ausgestiegen sind. Das sind zig Videos, weil es auf jedem Bahnsteig und an den meisten Ausgängen mehrere Kameras gibt.«

»Okay, bin gleich da«, versprach Hackenholt.

Gemeinsam sahen sie sich als Erstes die Sequenzen der Videos an, die die jungen Männer an der Haltestelle Lorenzkirche zeigten.

Hackenholt nickte befriedigt. »Das sind sie. Ganz eindeutig. Welche Haltestelle kommt danach? Hauptbahnhof? Ich fahre nicht so oft mit den Öffentlichen.«

»Ja, Hauptbahnhof. Dann hoffen wir mal, dass sie da nicht ausgestiegen sind. Wenn wir sämtliche Bänder vom U-Bahnverteiler nach ihnen durchsuchen müssen, um herauszufinden, wohin sie sich von dort weiterbewegt haben, dann sitzen wir heute Abend um zehn noch hier.«

Jeder der beiden Beamten sah sich andere Kameramitschnitte an. Der Bahnsteig war sehr voll, und man konnte die Aussteigenden nur schwer erkennen. Fünfzehn Minuten später waren sie sich jedoch sicher, die Jugendlichen in keiner der Aufnahmen entdeckt zu haben.

»Also weiter, auf zum Aufsessplatz, das ist der nächste Bahnhof. Der ist wieder überschaubarer. Du kannst dich ja gleich der übernächsten Haltestelle widmen, dem Maffeiplatz«, schlug Wünnenberg vor.

So arbeiteten sie sich Haltestelle für Haltestelle Richtung Langwasser vor, bis Hackenholt schließlich auf einem Video der Haltestelle Messe einen der beiden Jugendlichen erspähte. Die Bahnsteige wurden, je weiter sich die U-Bahn vom Zentrum entfernte, immer leerer, sodass Hackenholt auf einem Mitschnitt sehen konnte, wie der Größere der gesuchten Jugendlichen den Kopf aus der U-Bahn steckte und den Bahnsteig entlangschaute. Allerdings verließ er den Zug nicht, sondern schien sich vielmehr über den langen Aufenthalt im Bahnhof zu ärgern.

Das nächste Mal war es Wünnenberg, der die Jugendlichen entdeckte. Sie stiegen an der Haltestelle Langwasser Mitte aus.

»In welcher Straße kommt man raus, wenn man in diese Richtung geht?«, fragte Hackenholt den Mitarbeiter der VAG, den sie zur Auswertung der Bänder hinzugezogen hatten. Ein netter, kurz vor der Pensionierung stehender Mann mit einem enormen Schnauzbart. Leider fielen seine Antworten zumeist etwas umfangreicher aus, was sicher sehr interessant und unterhaltsam gewesen wäre, hätten sie sich für einen historischen Rundgang bei ihm angemeldet, nicht jedoch jetzt, wo es ihnen pressierte.

»Die Haltestelle Langwasser Mitte wurde am 1. März 1972 eröffnet und war damit der dritte U-Bahnhof in ganz Nürnberg. Also nur, falls es Sie interessieren sollte. Der Nordaufgang führt zur Breslauer Straße, der im Süden zum Busbahnhof. Die beiden Jungen hier gehen eindeutig zum Südausgang. Wenn Sie mich fragen, wollen die ins Frankenzentrum.«

Hackenholt nickte. Langwasser war eine Gegend, in der er sich noch immer viel zu wenig auskannte, doch er wusste immerhin, dass das Einkaufszentrum heute Franken-Center hieß. Frankenzentrum war eine schon seit mehreren Jahren überholte Bezeichnung. Vielleicht mochte der VAG-Mitarbeiter einfach keine Anglizismen. Leider war Hackenholts eigener Wissensfundus der Gegend damit auch schon erschöpft. Er war sich nicht einmal sicher, ob es in dem Center eine lückenlose Videoüberwachung gab.

»Sie könnten aber auch in einen der Busse umgestiegen sein«, gab Wünnenberg zu bedenken.

Da es auch oberirdische Kameras gab, konnten sie den Weg der Jugendlichen noch ein kleines Stück weiterverfolgen. Der VAG-Mitarbeiter hatte recht gehabt. Die beiden gingen tatsächlich direkt ins Einkaufszentrum.

»Gut, dann müssen wir uns morgen die Bänder der Überwachungskameras vom Franken-Center ansehen. Heute erreichen wir dort jedenfalls niemanden mehr.«

Als Hackenholt wieder im Auto saß, blickte er auf die Uhr. Halb acht. Sein Magen signalisierte ihm überdeutlich, wie lange er schon nichts mehr gegessen hatte. Außerdem hatte er Sophie hoch und heilig versprochen, sie spätestens um neun auf der Insel Schütt zu treffen, um sich gemeinsam zumindest das Abschlusskonzert des Bardentreffens anzuhören, nachdem es für ihn auch dieses Jahr nicht zu mehr gereicht hatte.

Er rief Sophie auf dem Handy an, um ihr vorzuschlagen, vorher noch gemeinsam etwas zu essen. Als sie sich endlich meldete, erging es ihm jedoch wie zuvor bei dem Gespräch mit Sara: Sophie konnte ihn nicht verstehen und er sie genauso wenig. Nach einigem sinnlosen Gebrüll legte er auf und schrieb ihr eine SMS. Dumm, dass er nicht gleich daran gedacht hatte.

»Musstest du den ganzen Tag arbeiten?«, fragte Sophie ihn zur Begrüßung. Sie trafen sich, wie per SMS verabredet, vor dem Schuldturm.

Hackenholts Blick genügte als Antwort. Er legte den Arm um ihre Schulter. »Und wen hast du dir alles angehört?«, fragte er, um sich vor weiteren inquisitorischen Fragen zu drücken.

»Ich glaube, von den meisten Gruppen habe ich die Namen schon wieder vergessen, aber die Stimmung bei den Konzerten war einfach großartig. Die ganze Stadt ist auf den Beinen! Wollen wir uns da vorn etwas zum Essen holen und uns dann noch ein bisschen auf eine Bank setzen? Ich habe vom vielen Stehen schon ganz platte Füße.«

Vom Schuldturm aus konnte man in Richtung der Bühne sehen, auf der gerade noch die Gruppe vor Anne Clark spielte. Der Weg dorthin war gepflastert mit Essensständen. Gleich neben ihnen gab es eine gigantische Open-Air-Bar, die verschiedene Cocktails verkaufte, dahinter reihte sich eine Bratwurstbude an die nächste. »Drei im Weggla« und Steakbrötchen konnte man alle paar Meter erwerben, was Hackenholt auch tat. Schließlich hatte er seit dem Frühstück nichts mehr in den Magen bekommen. Darüber hinaus gab es einen Crêpes-Stand, einen Chinesen, und an einer Bude wurde sogar indisches Essen verkauft – Sophie kam also auch auf ihre Kosten.

Nachdem sie sich gestärkt und etwas ausgeruht hatten, gingen sie frühzeitig zur Bühne vor. Unterwegs entdeckte Hackenholt noch einen Stand, an dem verschiedene Bowlen ausgeschenkt wurden. Sogar zwei alkoholfreie waren darunter. Sie fanden regen Zuspruch, und nachdem er einen Becher gekauft und probiert hatte, wusste er auch warum. Sie schmeckte erfrischend lecker. Nicht zu süß, nicht zu sauer, doch Sophie wollte trotzdem keine. Ihr stand der Sinn eher danach, zur Bühne zu gehen und sich möglichst weit nach vorn zu wühlen. Sie wollte Anne Clark nicht nur hören, sondern auch sehen.

Obwohl der Bühnenbereich auf der Insel Schütt schon gerammelt voll war, schafften sie es, sich ziemlich weit vorzudrängen. Plötzlich standen sie inmitten eines Pulks schwarz gekleideter Menschen mit schwarz gefärbten Haaren und geschminkten Gesichtern.

»Huch, guck mal«, sagte Sophie fröhlich grinsend. »Mir scheint, da sind ein paar Grufties wieder aus ihren Gräbern geklettert.«

»Das sind Goths«, korrigierte Hackenholt.

»Nein, sind es nicht«, beharrte Sophie stur. »Schau dir die Leute mal genauer an. Die sind mindestens so alt wie wir, manche sogar ein bisschen älter. Bestimmt haben die Anne Clarks Musik schon in ihrer Jugend gehört. Und damals, Mitte der Achtziger, als die Bewegung aufkam, hießen sie noch Grufties. Die Goths kamen erst ein Jahrzehnt später.«

Die ausgelassene Stimmung war ansteckend. Hackenholt fand das Konzert alles in allem sehr gelungen – trotz der technischen Probleme, die es gab. Die britische Musikerin spielte einen Mix aus Bekanntem und Liedern ihrer neuen CD, wobei die alten Songs überwogen. Nach anderthalb Stunden, um dreiundzwanzig Uhr, strömten die Zuhörer zufrieden auseinander. Auch Hackenholt und Sophie machten sich auf den Heimweg.