Montag
»Allmächd! Irchendwou hob iech den Boum scho ermål gsehng!« Baumann tippte mit dem Finger auf das verschwommenste der vier Bilder. »Wenn iech blous wisserd wou. Obber iech kumm scho nu draff.« Sie saß mit den anderen in der morgendlichen Besprechung und starrte auf einen Ausdruck der Handybilder. Den Sonntag hatte sie sich wegen des Geburtstages ihres Vaters freigenommen gehabt und erfuhr jetzt erst von den gestrigen Geschehnissen.
»Bist du dir sicher?« Hackenholt sah sie aufmerksam an. »Denk nach. In welchem Zusammenhang ist er dir schon mal begegnet?«
»Gråd des wass iech ja ned«, schimpfte Baumann.
Christine Mur kam herein. »Ich habe inzwischen die Plastikfolien, in denen die Leichenteile eingewickelt waren, untersucht und die gesicherten Fingerspuren mit den Abdrücken im Computer verglichen«, sagte sie statt einer Begrüßung. »Es sind die gleichen, die wir auch schon in der Wohnung der Russin gefunden haben. Damit ist zweifelsfrei bewiesen, dass sie …«, sie zögerte, suchte nach den richtigen Worten, »dass sie es in der Wohnung gemacht haben.« Die Formulierung war die beste, die ihr in den Sinn kam, um die Tat emotionslos zu beschreiben. »Was es mit der in Stücke geschnittenen Mülltonne auf sich hat, kann ich leider nicht sagen.«
Hackenholt seufzte. »Wenn nur jemand die Jungs auf den Bildern wiedererkennen würde, wären wir schon einen ganzen Schritt weiter.« Er schob der Leiterin der Spurensicherung die Ausdrucke hin. »Jonas wurde wegen dem GHB umgebracht, davon bin ich überzeugt. Vielleicht wollte er keins mehr herstellen, sondern die ganze Sache auffliegen lassen. Sara hat ausgesagt, er sei von Woche zu Woche nervöser geworden. Und an dem Tag, an dem er verschwunden ist, wollte er sogar zur Polizei gehen.«
»Ist das eigentlich derselbe Tag wie der, an dem er umgebracht wurde?«, fragte Wünnenberg.
Mur nickte. »Ja. Da ist sich Dr. Puellen sicher. Frag mich jetzt bitte nicht, wie er das festgestellt hat, aber wenn er es sagt, dann wird er es vor Gericht auch nachweisen können.«
»Ich habe noch mal eine Frage, nur damit ich es auch wirklich richtig verstehe: Die Fingerabdrücke von Aleksandr Kusnezow, waren die auch auf diesen Plastikfolien oder nur in der Wohnung?«, hakte Stellfeldt nach.
»Auch auf den Folien«, bestätigte Mur. »Hat die Fahndung nach ihm eigentlich schon etwas ergeben?«
»Nein, und genau deshalb sollten wir mal wieder bei seiner Familie vorbeischauen«, drängte Stellfeldt. »Mittlerweile haben wir genug für eine Durchsuchung in der Hand. Und vielleicht lassen sich die Eltern ja auch mit den richtigen Argumenten dazu bringen, uns einen Hinweis zu geben, wo sich ihr Sohn versteckt hält. Meistens macht es einen ganz schönen Unterschied, wenn man den Eltern sagt, dass ihr Sprössling an einem Mord beteiligt war.«
»Das ist so nicht ganz richtig«, warf Mur schnell ein. »Der Leichnam wurde in der Wohnung zerstückelt und in die Blumenkübel einzementiert. Das kann ich nachweisen. Aber der Tatort ist woanders. Dafür ist die Spurenlage in der Wohnung viel zu dürftig. Jonas wurde dort nicht umgebracht.«
Hackenholt fuhr sich unwillkürlich über die Stelle am Kopf, die genäht worden war. »Trotzdem müssen wir uns die Wohnung der Kusnezows vornehmen. Aber wir sollten nicht nur zu zweit hingehen.«
Stellfeldt nickte.
Schlussendlich waren sie zu viert, als sie sich wenig später auf den Weg in die Imbuschstraße machten. Herr Kusnezow, der den Beamten die Wohnungstür öffnete, bekam große Augen. Sein Blick schweifte von Wünnenberg zu Hackenholt, dann rötete sich sein Gesicht.
»Es, äh, es mir tun sehr leid, was ist passiert«, entschuldigte er sich. Wieder bemerkte Hackenholt den starken Akzent. »Ich nicht wollen, dass Sie werden verletzt.«
Hackenholt nickte. »Herr Kusnezow, würden Sie uns bitte hineinlassen? Wir haben Neuigkeiten.«
Wortlos trat der Mann von der Wohnungstür zurück und öffnete sie weit. Baumann und Hackenholt folgten Aleksandrs Vater ins Wohnzimmer, Stellfeldt und Wünnenberg blieben in der Diele stehen.
»Herr Kusnezow, wir sind heute gekommen, weil wir die Wohnung durchsuchen müssen. Die bisherigen Verdachtsmomente gegen Ihren Sohn haben sich zwischenzeitlich erhärtet«, erklärte Hackenholt.
Der Mann schlug die Hände vors Gesicht. »Was Aleksandr getan diese Mal?«, fragte er nach einer Weile leise.
»Er hat einen toten Jugendlichen zerstückelt und die Leichenteile in Blumenkübel einzementiert. Wahrscheinlich war er auch an dessen Ermordung beteiligt, der Junge wurde totgeprügelt. Zudem sind wahrscheinlich wieder Drogen im Spiel gewesen.« So schwer es Hackenholt auch fiel, die bestialische Tat in derart nüchterne Worte zu fassen, so war er sich doch bewusst, dass er den Vorteil nutzen musste, den genau diese Emotionslosigkeit ihm beim Vater verschaffte.
Herr Kusnezow stieß einen animalischen Klagelaut aus, der an das Heulen eines Wolfes erinnerte.
»Wir müssen Aleksandr finden«, sagte Hackenholt leise, aber sehr bestimmt. »Und ich bin mir sehr sicher, dass Sie uns dabei helfen können.«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Wo ist Ihr Sohn, Herr Kusnezow? Hat er sich bei Freunden versteckt? Hier in Langwasser?« Hackenholts Stimme wurde mit jedem Wort lauter.
»Ich nicht wissen. Ich wirklich nicht wissen.«
»Herr Kusnezow, Sie dürfen es nicht zulassen, dass Ihr Sohn noch weitere Verbrechen begeht. Sie müssen mit uns reden.«
»Ich …«, er schluckte, »ich aber doch nichts wissen. Aleksandr haben eigene Freunde. Ich nicht kennen. Zu Hause in Russland, er gewesen eine liebe Junge. Aber in Kindergarten, er immer beschimpft von andere Kinder und Aufpasser. Sie nicht mögen ihn. Als er noch ganz klein, er kommen nach Hause mit blaues Auge und eine andere Mal mit gebrochenes Arm. Russische Jungen ihn haben verprügelt auf Spielplatz. Sie wissen, zu Hause man uns schlecht behandelt, weil wir Deutsche. Da ich gesagt, ist genug. Wir gestellt Antrag und nach viele Probleme, wir dürfen nach Deutschland in 1990. Aber hier auch nicht besser, hier wir beschimpft, weil wir Russen. Und Aleksandr in Schule, ihm gehen wieder nicht gut. Plötzlich er angefangen zurückzuschlagen. Vielleicht es war falsch, aus Heimat wegzugehen. Sie mir fehlen. Und Aleksandr auch. Er sich nicht mehr erinnern an Probleme dort. Für ihn, alles gut. Aber er damals ja auch noch kleines Kind. Und jetzt, er machen uns Vorwürfe, weil wir hierhergekommen. Er haben wenige Freunde. Die auch kommen aus Russland. Meine Frau, sie alles versucht. Sie mit Aleksandr zu Sportverein gegangen, immer zu anderes Jugendliche. Bei Boris, unsere andere Sohn, alles hat geklappt gut, aber nicht bei Aleksandr.« Er schaute Hackenholt traurig an. »Ich nicht mehr kennen meine Sohn.«
Hackenholt nickte verständnisvoll. Es war nicht das erste Mal, dass er mit den Integrationsproblemen von Spätaussiedlern konfrontiert wurde. Die Eltern wollten nach Deutschland. Mit ihnen gab es zumeist keine Probleme, sie zeichneten sich durch ihren Fleiß und Gesellschaftssinn aus. Aber ihre Kinder, die steckten häufig bald in einer Identitätskrise, geschaffen aus der Ablehnung, die sie erfuhren. Wenn dann auch noch das Streben der Eltern fehlschlug, ihnen die eigenen Werte zu vermitteln, dann gerieten die jungen Menschen zusätzlich noch in einen Generationenkonflikt. Und dann war oft alles zu spät. Die Jugendlichen fanden sich in isolierten Cliquen mit ihresgleichen zusammen. Ohne Arbeit, ohne Perspektive war eine kriminelle Laufbahn fast schon vorprogrammiert.
»Wer issnern des dou af den Foddo, Herr Kusnezow?«, fragte Saskia Baumann plötzlich in die Stille hinein. Sie deutete auf ein Bild, das an die Pinnwand geheftet war.
Der Mann schaute auf. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Für einen Moment schien er seine Sorgen vergessen zu haben. »Das unsere Sohn Boris und seine Freund Sergej. Mit Familie wir waren bei Zelten letztes Sommer.«
Baumann nickte und schaute weiter die Bilder an. »Un des Maadla dou? Is des Ihr Dochder? Däi is fei ådli.«
»Nein, nein, ich nicht haben eine Tochter«, wehrte Kusnezow lachend ab. Er stand auf, trat neben die Beamtin und deutete auf die Personen auf dem Bild. »Das meine Frau, und das Sergejs Schwester Irina und Mutter.«
Neugierig geworden, warum Baumann so auf den Bildern herumritt, stand nun auch Hackenholt auf und ging zu ihr hinüber. Die Kollegin wandte sich zu ihm um und deutete auf die zwei Fotos, nach denen sie gefragt hatte. Das Mädchen erkannte Hackenholt nicht, doch ein kurzer Blick auf das Bild der beiden Jungen machte ihm klar, wen Baumann da gerade entdeckt hatte.
»Herr Kusnezow, wir müssen jetzt die Wohnung durchsuchen und auch Sachen mitnehmen, die Ihrem Sohn Aleksandr gehören. Seinen Computer zum Beispiel.«
Der Vater senkte den Blick zum Boden und nickte. »Wir mitmachen schon eine Mal. Aber Aleksandr uns versprechen, es vorkommen nie wieder.«
»Wir müssen uns auch mit Ihrem Sohn Boris unterhalten. Wie können wir ihn erreichen?«, fragte Hakenholt, ohne auf Kusnezows Bemerkung einzugehen.
Der Vater blickte mit vor Schreck geweiteten Augen auf. »Mit Boris? Warum? Er nichts haben zu tun damit.«
»Reine Routine«, log Hackenholt.
»Er drüben bei Sergej. Seit heute er haben Ferien.«
Hackenholt sah ihn fragend an.
»Sergej Blinow. Familie wohnen nur eine kleines Stück von uns. In Giesbertsstraße. Ich anrufen, damit er kommen nach Hause?«
Hackenholt schüttelte den Kopf und notierte sich stattdessen die Adresse. »Meine zwei Kollegen schauen sich jetzt die Wohnung an, und ich fahre unterdessen selbst in die Giesbertsstraße.« Er ging aus dem Zimmer und machte Wünnenberg ein Zeichen, ihn zu begleiten.
Sie waren noch keine drei Schritte auf dem Hausflur, als Baumann ihren Kopf aus der Tür streckte.
»Des Maadla af den Bild, also dei Irina Blinow, des is des Maadla, den der Jonas Nåchhilfn in Madde geem hod«, flüsterte sie ihnen zu.
»Warte noch einen Augenblick«, bat Hackenholt, als Wünnenberg den Motor anlassen wollte. »Die Giesbertsstraße ist doch gleich gegenüber. Ich möchte vorher noch bei der PI Süd nachfragen, ob sie uns eine Streife zur Unterstützung schicken können.«
Hackenholt holte sein Telefon aus der Tasche und wählte die Nummer des Wachhabenden. In der Ferne war ein Martinshorn zu hören. Schon beim ersten Klingeln wurde der Hörer abgenommen. Hackenholt meldete sich und fragte, ob in Langwasser Süd eine Streife frei sei. Sie benötigten Unterstützung in der Giesbertsstraße.
»Pegnitz 12/15 und 12/17 sind schon unterwegs«, sagte der Kollege. Er klang gestresst. »Es geht um den Brand, oder?«
Die Sirenen kamen allmählich näher.
»Nein«, sagte Hackenholt verwirrt. »Wo genau brennt es denn?«
Der Wachhabende gab ihm die Hausnummer durch. Es war dasselbe Haus, in dem Familie Blinow wohnte. In dieser Sekunde bog der Geländewagen mit dem Einsatzleiter Feuerwehr als erstes Fahrzeug einer kleinen Kolonne um die Ecke. Mit etwas Abstand folgten weitere Feuerwehrautos, eine halbe Ampelschaltung später der Rettungswagen und schließlich die erste Polizeistreife. Wünnenberg folgte dem Trupp als Letzter.
Vor der Wohnanlage herrschte Chaos. Aus der Eingangstür des Wohnhauses quoll dichter Rauch, aus zwei Kellerfenstern schlugen Flammen. Die verbogenen Kellergitter lagen samt Fensterrahmen auf dem Gehweg vor dem Gebäude. Menschen liefen wild gestikulierend hin und her, Kleinkinder weinten. Während die Streifenbeamten ihr Möglichstes taten, die Leute aus der Gefahrenzone vor dem Haus hinter eine pro forma errichtete Absperrung zu drängen, rollten die Feuerwehrmänner Schläuche aus, und der erste Stoßtrupp machte sich fertig, um ins Haus vorzudringen. Hackenholt erkannte Irina Blinow und ihre Mutter in dem Getümmel. Von dem Bruder des Mädchens war nichts zu sehen.
Erneut ertönten Sirenen. Ein Notarzteinsatzfahrzeug, gefolgt von der zweiten Polizeistreife und einem weiteren Rettungswagen, bog in die Straße ein. Der erste Stoßtrupp drang ins Haus, um das Feuer im Keller im Innenangriff zu bekämpfen, während eine andere Gruppe mit dem Außenangriff durch die Fenster begann. Kurz danach verschwand ein zweiter Stoßtrupp im Rauch, der in dicken Schwaden aus der offenen Haustür quoll.
Inmitten des Menschenauflaufs sah Hackenholt Irinas Mutter wild gestikulierend mit einer Polizistin sprechen. Immer wieder deutete sie auf das Haus. Hackenholt wollte gerade zu ihnen hinübergehen, als plötzlich Bewegung in die Helfer kam. Einer winkte die Sanitäter zu sich.
In der Haustür zeichneten sich die Silhouetten zweier Feuerwehrmänner gegen den Rauch ab, die zwischen sich eine große, hagere Person stützten. Frau Blinow schrie auf und rannte in Richtung Haustür, wurde jedoch von der Streifenbeamtin eingeholt und festgehalten. Mit einigem Gepolter luden die Sanis die Trage aus dem Fahrzeug aus und übernahmen den Verletzten. Aus dem Augenwinkel sah Hackenholt, wie auch die Beamtin mit Frau Blinow zum Rettungswagen hinüberging. Immer mehr Fahrzeuge trafen ein. Ein weiterer Rettungswagen mit einem Arzt vom Südklinikum, ein Gelenkbus von der VAG, dann noch zwei Feuerwehrfahrzeuge. Die Polizisten drängten die Hausbewohner, sich in den Bus zu setzen. Hackenholt ging zu Irina, die allein in der Menge stand, und wurde auf halbem Weg von Wünnenberg eingeholt.
»Die Feuerwehr vermutet, dass im Keller noch Menschen sind. Frau Blinow behauptet, ihr Mann sei runtergerannt, weil Sergej und Boris dort waren.«
Wieder kamen Feuerwehrleute aus dem Haus. Zwischen sich hielten sie ein Tragetuch aufgespannt, in dem jemand lag. Sofort wurden sie von dem Arzt und den Sanitätern umringt, und auch Irina drängte sich jetzt durch die Menge zu ihnen. Ihr Gesicht war verweint. Hackenholt passte sie ab und führte sie zu seinem Auto.
»Irina, ich bin von der Polizei, warte bitte hier. Ich hole deine Mutter, und dann bringen wir euch ins Krankenhaus.«
Er drängte sich durch die Menschen hinüber zum Rettungswagen, wo sich noch immer die Streifenbeamtin um Frau Blinow kümmerte. Gemeinsam mit der Kollegin brachte er sie zu seinem Wagen.
Wünnenberg nahm Hackenholt beiseite. »Sie haben beide Jungen und den Vater im Keller gefunden. Sergej hat Verbrennungen und eine Rauchgasintoxikation, er ist in dem ersten Rettungswagen. Keine Ahnung, wie schwer die Verletzungen sind.« Er wies auf ein Fahrzeug des Roten Kreuzes, in dem zielgerichtete Betriebsamkeit herrschte. »Der Vater wollte offenbar im Keller löschen, war aber schon bewusstlos, als sie ihn fanden.«
»Und Boris?«
Wünnenberg schnitt eine Grimasse. »Boris ist tot. Der Einsatzleiter Feuerwehr hat mir gesagt, dass es im Keller wahrscheinlich eine Explosion gegeben hat. Mehrere Leute wollen einen Knall gehört haben, bevor das Feuer ausbrach.«
Neben ihnen fuhr in diesem Moment der Rettungswagen los, in dem Herr Blinow behandelt wurde. Auch der Sanker mit Sergej schaltete nun sein Blaulicht ein.
Eilig rannte Hackenholt hinüber zum Fahrer des Notarztfahrzeuges, um zu erfahren, wohin die beiden gebracht wurden. Natürlich ins Südklinikum, lautete die knappe Antwort.
»Und jetzt?«, fragte Wünnenberg. »Soll ich Mutter und Tochter hinterherfahren und mit ihnen im Krankenhaus bleiben?«
Hackenholt nickte. »Das wäre gut. Ich gehe zurück zu Manfred und Saskia in die Imbuschstraße und …« Statt den Satz zu beenden, machte er eine Geste in Richtung des schneeweißen Bettlakens, unter dem Boris’ regloser Körper vor den Blicken der Umstehenden verborgen lag.
Nachdem Wünnenberg weggefahren war, holte Hackenholt sein Handy heraus und rief Stellfeldt an. Ohne ihn über die Geschehnisse zu unterrichten, bat er ihn, mit Baumann an Ort und Stelle zu bleiben und auf seine Rückkehr zu warten. Außerdem sollte Herr Kusnezow seine Frau in der Arbeit anrufen. Sie musste sofort nach Hause kommen. Danach gesellte sich Hackenholt zum Einsatzleiter Feuerwehr. Das Feuer war inzwischen gelöscht. Die Ermittlung der Brandursache blieb natürlich der Kripo vorbehalten, aber der Einsatzleiter konnte Hackenholt immerhin schon sagen, dass die darüberliegenden Stockwerke nicht übermäßig schlimm in Mitleidenschaft gezogen worden waren und die Bewohner in ihre Wohnungen zurückkehren konnten, sobald sich der Rauch verzogen hatte. Als Nächstes ging der Hauptkommissar schweren Schrittes zu dem Kollegen, der neben Boris’ Leiche stand und sich Notizen machte. Hackenholt klärte ihn über den Toten auf und teilte ihm mit, dass er es übernehmen würde, die Eltern zu benachrichtigen, da seine Ermittlungen bereits die beiden Jungen mit einbezogen.
Während Hackenholt das kurze Stück zur Wohnung der Kusnezows zurückging, rief er Christine Mur im Präsidium an. So knapp wie möglich schilderte er ihr, was sich zugetragen hatte, und bat sie, zum Südfriedhof zu fahren, wohin der tote Junge gebracht werden würde, und Proben für eine DNA-Analyse zu nehmen. Danach sollte sie Hackenholt in der Imbuschstraße treffen.
Ein paar Sekunden lang blieb Hackenholt am Gangfenster im zwölften Stock des Hochhauses stehen, atmete tief durch und sah auf das Grün des sich vor ihm erstreckenden nahen Reichswaldes hinab, bevor er sich abwandte und auf die Türglocke drückte. Stellfeldt öffnete und sah sofort, dass etwas Schwerwiegendes passiert sein musste, hielt sich jedoch mit Fragen zurück.
»Frau Kusnezow muss gleich hier sein. Sie wollte sich ein Taxi nehmen«, informierte er Hackenholt.
»Gut. Habt ihr bei der Durchsuchung etwas gefunden?«
Stellfeldt nickte. »Ich wollte eigentlich Christine bitten herzukommen, aber dann hast du angerufen, und ich dachte, ich warte lieber noch ab.«
»Ich habe sie schon informiert. Sie fährt erst zum Südfriedhof und kommt anschließend her.« Stellfeldt blickte ihn fragend an. »Im anderen Haus ist im Keller ein Feuer ausgebrochen. Sergej und sein Vater sind schwer verletzt ins Klinikum gebracht worden, aber Boris ist tot«, sagte er leise. »Was habt ihr hier gefunden?«
»Einen Kanister Gebäudereiniger. Von derselben Firma wie der, den wir in der Laube entdeckt haben. BLITZ-BLANK-SAUBER. Und dann noch das hier.« Er hielt Hackenholt ein kleines Tütchen hin, in dem rund fünfzig kleine Kügelchen waren. Sie trugen dieselben Einstanzungen wie die GHB-Pillen, die bei der russischen Prostituierten sichergestellt worden waren.
In dem Moment wurde die Wohnungstür aufgesperrt und Frau Kusnezow kam herein.
»Was ist passiert?«, fragte sie schon auf der Türschwelle. Atemlos. Die Augen angstvoll aufgerissen.
Einige Zeit später fuhr Stellfeldt Hackenholt ins Südklinikum, wo Wünnenberg vor dem Eingang zur Notaufnahme wartete.
»Und? Hat Christine schon etwas herausgefunden?«, fragte er sofort.
»Ja«, seufzte Hackenholt. »Du erinnerst dich doch, dass ihr ein Fingerabdruck so gut in Erinnerung geblieben ist, weil er diese auffällige Narbe hat?« Ohne Wünnenbergs Antwort abzuwarten, fuhr er fort. »An der Leiche konnte sie keine Spuren mehr sichern, aber in Boris’ Zimmer waren die Abdrücke überall. Frau Kusnezow zufolge hat sich ihr Sohn vor nicht allzu langer Zeit den Daumen an einer Glasscherbe so schlimm aufgeschnitten, dass er genäht werden musste.«
»Also war Boris auch in der Gartenlaube und der Wohnung, in der die Leiche zerstückelt wurde?«
»Genau«, bestätigte Hackenholt. »Wie geht es Sergej und seinem Vater?«
»Der Junge liegt im Zentrum für Schwerbrandverletzte. Eine Krankenschwester hat mir erklärt, dass er zunächst jede Menge Infusionen bekommt, da die Blutgefäße bei Verbrennungen undicht werden und das Gewebe mit Körperflüssigkeit überschwemmt wird. Das muss man ausgleichen, damit der Kreislauf nicht zusammenbricht. Außerdem wird er wahrscheinlich wegen der enormen Schmerzen für eine gewisse Zeit in ein künstliches Koma versetzt, wenn er nicht sowieso sofort in den OP muss. Das heißt, dass wir erst mal nicht mit ihm sprechen können.«
»Der Krankenschwester muss aber ziemlich langweilig gewesen sein, wenn sie dir so viel erzählt hat«, stellte Hackenholt trocken fest.
»Sie war recht hübsch und hat gerade eine Zigarettenpause gemacht.« Wünnenberg grinste verlegen, dann wurde er wieder ernst. »Der Vater hat sehr viel Rauchgas eingeatmet, daher bräuchte er eigentlich eine HBO-Therapie. Das ist eine Art Sauerstofftherapie in einer Überdruckkammer. Bisher kannte ich das nur in Zusammenhang mit Tauchern, aber die Therapie wird auch bei Rauchgasvergiftungen angewandt. Doch solange der Vater sowieso künstlich beatmet wird, ist das nicht nötig. Er liegt auf der Intensivstation. Auch bei ihm sind die nächsten Stunden entscheidend. Frau Blinow und ihre Tochter sitzen in einem kleinen Zimmer, das für Angehörige reserviert ist. Im Moment kann man nichts anderes tun als abzuwarten.«
Einerseits war es Hackenholt zuwider, die Familienangehörigen in der jetzigen Situation zu befragen, andererseits musste er sich so schnell wie möglich Klarheit verschaffen. Also legte er Frau Blinow die richterliche Durchsuchungsanordnung vor, die er zwischenzeitlich vom Ermittlungsrichter eingeholt hatte, und erklärte ihr, dass er sich in ihren Wohnräumen umsehen musste.
Sie nickte abwesend, hatte keine Einwände. Hackenholt war sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt verstanden hatte.
»Frau Blinow –«, setzte er nochmals an.
»Ja, ja«, unterbrach sie ihn. »Ich habe verstanden. Gehen Sie schon in die Wohnung.« Sie klang müde. »Ich bleibe hier, aber Irina kann Sie begleiten.«
Hackenholt schüttelte den Kopf. »Das können Sie Ihrer Tochter nicht antun. Sie ist noch zu jung, um jetzt alleine in die Wohnung zurückzugehen. Ich hätte lieber Sie dabei. Die Klinik wird Sie umgehend informieren, wenn sich der Gesundheitszustand Ihres Mannes oder Sohnes verändert, und wir bringen Sie anschließend sofort wieder her.«
Entschieden schüttelte sie den Kopf: »Ich gehe hier nicht weg. Irina begleitet Sie, oder Sie nehmen den Wohnungsschlüssel mit. Wenn Sie reden wollen, dann können Sie das auch hier tun, aber ich habe Ihnen nichts zu sagen. Ich weiß nicht, was im Keller passiert ist.«
Irina drückte sich an ihre Mutter. »Ich geh nicht mit. Ich geh nicht mit, Mamutschka. Ich bleib bei dir.« Ihre Stimme klang panisch.
»Du musst nicht mitgehen«, beruhigte Hackenholt sie leise. »Dann nehme ich eben den Schlüssel.«
Dem Haus in der Giesbertsstraße war der Brand deutlich anzusehen: Die herausgerissenen Kellerfenster hatten dunkle, klaffende Löcher in der vom Rauch geschwärzten Fassade hinterlassen. Auch das Treppenhaus war voller Ruß.
Vor dem Gebäude stand eine Gruppe Männer. Hackenholt erkannte seinen Kollegen Matthias Heerweger vom K 12, das für Brandermittlungen zuständig war, und gesellte sich zu ihm.
»Hallo, Matthias. Weißt du schon, was passiert ist?«
»Auf dich habe ich schon die ganze Zeit gewartet. Im Präsidium hat man mir gesagt, du wärst bereits vor Ort, aber hier wusste niemand, wo du steckst.«
»Wir haben gerade mit den Angehörigen gesprochen. Was hast du herausgefunden?«
»Der Brand im Keller geht auf die Explosion einer Propangasflasche zurück. So eine, wie man sie zum Campen verwendet. Natürlich ist nicht die Flasche als solche explodiert, aber durch unsachgemäßes Hantieren muss Gas ausgetreten sein, das sich dann mit der Luft zu einem hochexplosiven Gemisch verbunden hat. Zum Glück war nicht mehr viel in der Flasche, sonst wäre die Explosion viel heftiger ausgefallen und hätte die Mauern beschädigt – aber sie hat ja auch so schon genug Schaden angerichtet«, schob er schnell hinterher.
»Warum, um alles in der Welt, haben die beiden Jugendlichen im Keller mit Gas rumhantiert?«
»Frag mich nicht, was in deren Köpfen vorgegangen ist«, seufzte Heerweger. »Letztendliche Gewissheit kann dir nur die Aussage des überlebenden Jugendlichen geben, aber ich glaube, sie wollten etwas kochen. Ich habe einen zerbeulten Topf gefunden und jede Menge zusammengeschmortes Plastik.«
»Oh mein Gott«, murmelte Hackenholt. Die Jungen hatten doch wohl nicht die Aktivitäten aus der Laube im Keller fortgesetzt?