Samstag, 20:32 Uhr / Coburg
Abendsonne tauchte die Türme und Giebel Coburgs in tiefes Orangerot. Erwartungsfroh schoben sich Menschenmassen über das Kopfsteinpflaster der Altstadt, magisch angezogen vom dumpfen Hämmern der Samba-Trommeln auf dem Schlossplatz und dem Markt. In den Engstellen der Theatergasse, der Herrngasse und der Großen Johannisgasse kam es immer wieder zum Stillstand. Zentimeterweise drückte man sich aneinander vorbei.
Was für ein Paradies für Frotteure und andere Kranke, dachte Charly. Direkt hinter dem Zeughaus wurde er heftig gegen den fülligen Po einer dauergewellten, blondierten Endvierzigerin, Typ Avon-Beraterin, gepresst. Als sie den Kopf drehte, hob er bedauernd die Brauen und mimte routiniert den leicht Verlegenen. Sie lachte aus einem unglaublich breiten, tiefrot angemalten Mund und setzte zu einer Erwiderung an, die sofort vom furiosen Intro der »Grupo Samba Total« verschluckt wurde, die wenige Schritte weiter eine spontane Session am Salzmarkt eröffnete.
Mit einem schnellen Sidestep nutzte Charly eine winzige Lücke und huschte über die Schwelle der »KostBar«. Er atmete tief durch, als er in das spärlich besetzte Lokal trat. Statt lauter, harter Samba-Rhythmen plötzlich Weichspülersound von Santana:
»Oye como va, mi vida, oye como va …«
Drei gelangweilte Muttis rund um einen Stehtisch; brave C&A-Blusen, eng gewordene Jeanshosen. Betont achtlos blickten sie sofort wieder an ihm vorbei, bliesen hingebungsvoll ihren Zigarettenrauch Richtung Zimmerdecke.
Am Tresen, direkt unter dem lautlos rotierenden Deckenventilator, ein südländischer Jungmacho, das pechschwarze Haar mit Gel gebändigt und zum Zopf gebunden. Leise, aber sichtlich erregt diskutierte er mit einem kleinen, untersetzten Bodybuildertyp: Ungesunde Blässe, breite Boxernase und hellgraues Muskelshirt mit schwarzem Puma-Aufdruck. Hohe Wangenknochen und auffallend schmale Augen, registrierte Charly. Typisch russisch.
»Hey, Charly, altes Haus!«
Bernhard Winter stand vor ihm, grinste übers ganze Gesicht.
»Servus, Bernie! Ewig nicht mehr gesehen!« Erfreut boxte ihn Charly auf den Oberarm.
Winter, ehemaliger Kriminaloberkommissar, war jahrelang im K 1 auf demselben Flur wie Charly tätig gewesen. Vor vier Jahren hatte er dann, mit einundvierzig, überraschend den Dienst quittiert. Im Kollegenkreis war damals gemunkelt worden, Winter, dessen gute Kontakte ins Coburger Rotlichtmilieu schon sprichwörtlich waren, sei damit nur einem drohenden Disziplinarverfahren zuvorgekommen. Bei seinem »Ausstand«, einer legendären Party im »Hotel Festungshof« an der Veste Coburg mit einhundertfünfzig Gästen, Go-go-Girls und der Saragossa Band, hatte er sich öffentlich über »eine größere Erbschaft« seiner Frau gefreut: Sie ermögliche es ihm, künftig auf eigenen Füßen zu stehen. In den letzten vier Jahren hatte Winter dann den größten privaten Sicherheitsdienst der Region Coburg, »SeCOrity«, aufgebaut.
»Wie geht’s, Alter? Laufen die Geschäfte?«
»Bestens, Junge, bestens!«, strahlte Winter. »Je mehr Polizisten München bei uns streicht, umso besser für uns Private!« Schneeweiße Jacketkronen, zerknitterte Turbobräune, frisch blondierte Strähnen.
»Du siehst langsam wirklich wie der Vater von Dieter Bohlen aus«, frotzelte Charly.
»Pass auf, wenn ich dich hier vorsingen lasse!«, konterte Winter in gespielter Entrüstung.
»Oye como va«, stimmte Charly ungeniert an, »mi ritmo, oye como va!«, fiel Winter sofort lauthals ein.
Indignierte Blicke aus der Damenecke.
»He, ihr Spaßbremsen da drüben! Kommt doch mal rüber!«
»Lass mal lieber«, beschwichtigte ihn Charly, »die sehen aus wie Elternbeiräte an der Grundschule, die brauchen noch zwei, drei Jahre, bis sie wieder richtig locker sind! Komm, wir gehen lieber mal rauf zum Schlossplatz!«
»Aye, aye, Sir!« Winter fingerte ein paar Münzen aus der Tasche und knallte sie auf den Tresen. »Hasta la vista, señoritas!«
Sie traten hinaus auf die abendschwüle Theatergasse, drängten sich an dem kleinen Caipirinha-Ausschank vorbei und ließen sich über den Salzmarkt treiben, wo die spontane Samba-Session ihrem atemlosen Höhepunkt entgegenjagte.
»Ey, nicht so hüftsteif, Alter!«
Ein gertenschlankes Girl mit endlos langen schwarzen Haaren, im orangefarbenen »Coburg SambaCity!«-Shirt und knallbunter Hippiehose, versperrte Charly tänzelnd den Weg. Ihre Pupillen waren merkwürdig groß und starr, in der Linken schwenkte sie eine halb leere Alcopopflasche.
»Wahnsinn, Lady!« Winter zwinkerte ihr verschmitzt von der Seite zu. »Du siehst ja aus wie Cher 1965!«
»Und sie ist voll wie Janis Joplin 1967«, unterbrach ihn Charly und zog ihn weiter. »Das war doch noch nie unsere Kragenweite, oder?«
Winter schüttelte amüsiert den Kopf und wandte sich bereitwillig neuen Zielen zu. »Mensch, schau dir das da drüben vor der Bühne an! Ausgelassene Lebensfreude, in unserem ehrbar-seriösen Coburg, bei steifen Residenzlern! Ich werd’s nie begreifen!« Er zeigte auf einen grauhaarigen Brillenträger mit sorgfältig gestutztem Bart, der, wie etliche andere Festivalbesucher, stolz ein gelbes Brasilientrikot trug und, mit Gürteltäschchen, Zip-Hose und Trekkingsandalen, inmitten anderer tanzender Fans verzückt dem Samba-Takt zu folgen versuchte.
»Der sieht doch aus wie der alte Kripo-Geyer! Gibt’s den eigentlich noch?«
»Längst pensioniert«, winkte Charly ab. »Den hat doch vor zwei Jahren der Löhlein beerbt.«
»Ausgerechnet Löhlein?«, feixte Winter ungläubig. »Unser Arschkriecher Heinz-Uwe ist jetzt Abteilungsleiter?«
Charly zuckte gelangweilt mit den Achseln. »Was hast du denn erwartet? Loyalität vor Qualität, du kennst doch den alten Führungsgrundsatz.«
»Hättest halt doch öfter mal deinen Mund halten sollen!« Winter klopfte ihm süffisant auf die Schulter. »Dann wärst du jetzt mit fünfundvierzig nicht bloß Kommissar! Wie hat der Alte immer gesagt? ›Kritik ist wichtig und erwünscht, aber bitte nicht jetzt und hier!‹«
»Hör bloß auf, die Zeiten sind Gott sei Dank vorbei! Und die große Reform der bayerischen Polizei hat man ja auch wieder zurückgenommen. – Da! Schau!«
Mit einer winzigen Handbewegung zeigte Charly in den atemberaubenden Ausschnitt einer Brasilianerin, die sich gerade gebückt hatte, um Steinchen aus ihren Schuhen zu schütteln. »Und das ist übrigens der wahre Grund, warum der Schlossplatz nie geteert wird und hier immer nur der Splittbelag erneuert wird!«
Winter ließ ein leises, anerkennendes Pfeifen hören.
»Du sagst, die alten Zeiten sind vorbei … wie macht sich denn der neue Polizeichef?«
»Ritter? Passt schon«, nickte Charly. »Ein paar moderne Führungsmätzchen natürlich, schließlich ist er ja ein Studienfreund von Staatssekretär Vöhringer, unserem nächsten bayerischen Innenminister. Ritter will vor allem Ergebnisse sehen, schnelle und gute Ergebnisse.« Er grinste. »Aber damit komme ich besser klar als ein Reichsbedenkenträger wie unser Heinz-Uwe Löhlein.«
Sie hatten den schwarz-rot-goldenen »Leikeim«-Bierausschank vor der Ehrenburg erreicht und schlossen sich, in wortloser Übereinstimmung, der Warteschlange an. In der sanft herannahenden Abenddämmerung hatten alle Gastro-Zelte, Verkaufsstände und VIP-Pavillons mittlerweile ihre blauen, roten und gelben Lichterketten eingeschaltet. Am anderen Ende des Schlossplatzes, auf der taghell ausgeleuchteten Hauptbühne vor dem Landestheater, war der Moderator, ein kleinwüchsiger Berufsjugendlicher des Lokalradios, in seinem Element: In weißer Jeans, weißem Shirt und mit weißem Headset fegte er wie ein Irrwisch über die Bühne, um, mit heiser überkippender Stimme, den dreitausend Fans den Top-Act des Abends zu präsentieren: »Und hier sind sie; begrüßt mit mir, aus Pernambuco in Brasilien, welcome to Coburg-Samba-City, welcome the one and only Ba-te-ria do Sam-ba Bra-sil!«
23:03 Uhr
Letzte Zugabe der »Bateria do Samba Brasil«: Aufpeitschend hämmerten die Samba-Rhythmen durch die schwülwarme Vollmondnacht. Trommeln und Tamburine rasten wie entfesselt, trieben Tänzerinnen und Zuschauer in einen infernalischen Wirbel purer Leidenschaft und Lebenslust; wie elektrisiert zuckten schweißnasse Leiber zum stampfenden Stakkato des Samba-Grooves – Ekstase …!
… Ekstase! dachte Jasmin Keller fasziniert, Samba ist die absolute Ekstase! Der pure Sex. Unfassbar, was in Coburg heute Nacht wieder abgeht – wir sind der Nabel der Welt!
Die dunkelblonde Studentin saß zwei Steinwürfe weiter im Hofgarten, dem Landschaftspark, der sich über den Schlossplatz-Arkaden an die Hänge des Festungsbergs schmiegt. Hingerissen lauschte sie zum Schlossplatz hinunter, der unter den brasilianischen Perkussionskaskaden förmlich zu vibrieren schien … oder war es nur der Caipirinha, der durch ihre Adern rauschte?
Entspannt ließ sie sich wieder ins warme Gras zurücksinken. Ihre Lippen schmeckten immer noch leicht salzig. Was für ein geiler Tag: von Alex im »Carrera« abgeholt, den ganzen Abend Samba-Party und jetzt den coolen Porschefahrer endlich mal ganz privat ins Schwitzen gebracht …
This … could be the first … day of my life …!
Wo Alex bloß so lang blieb?
»Muss mal kurz austreten«, hatte er ihr vorhin ins Ohr gewispert und war ein Stück weiter hinter den großen, dunklen Büschen verschwunden.
Jasmin blickte sich suchend um.
Das Wiesenstück, das sie von ihrem Platz aus überblicken konnte, hatte sich geleert. Auch das Hippiepärchen, das dort drüben unter der Douglasie gelegen und sich unter seiner Decke stundenlang wie in Zeitlupe bewegt hatte, war nicht mehr da. Weiter oben, wo die Milchgesichter in ihren Skatershorts und Basecaps zusammengesessen hatten, steckten jetzt nur noch leere Flaschen – auf Stöcken, die in den Rasen gespießt waren. Sogar Bocksbeutel waren dabei. Im blassen Mondlicht erinnerten sie Jasmin plötzlich an ein längst vergessen und verdrängt geglaubtes Bild: »Aufgespießte Schrumpfköpfe bei Indianern im Amazonasgebiet«.
Vor keinem anderen Bild im Lexikon ihres Großvaters hatte sie sich als kleines Mädchen so gefürchtet. Sie sah sich wieder auf seinen Knien sitzen, mit ihm das Lexikon durchblättern, hörte sein tiefes, gespielt überraschtes Lachen, wenn die Seite mit den Schrumpfköpfen kam und sie sich die Händchen vor die Augen schlug und trotzdem immer wieder wie gebannt durch ihre Finger linsen musste …
Aufgespießte Schrumpfköpfe – und aus dem Hintergrund der dumpfe Sound der Sambatrommeln … sie schauderte kurz und ärgerte sich gleich darauf über ihre absurden Assoziationen.
Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Auch ihre Blase machte sich jetzt bemerkbar.
Sie schlüpfte in ihre nagelneuen, strassbesetzten Pantoletten – »Dolle Schläbble, Marke ›Boxenluder‹?«, hatte Alex gefeixt – und erhob sich. Vom Festungsberg zog eine kühle Brise herab. Jasmin warf die lange blonde Mähne in perfekt einstudierter Pose nach hinten. Mit verschränkten Armen, die gläsernen Schrumpfköpfe keines Blickes würdigend, stakste sie vorsichtig über den Rasen, lugte um die große Buschreihe herum.
Nichts.
Kein Alex.
Weit und breit keine Menschenseele.
Irritiert und leicht verärgert blickte sie sich um.
Hatte sich Alex allen Ernstes aus dem Staub gemacht? Unten, auf dem Schlossplatz, tobte das Leben. Hier oben, hinter diesen großen, dunklen Büschen, schien alles düster, still und seltsam fremd.
Müsste dort hinten nicht eigentlich ein Spielplatz sein? Ich kenne mich hier einfach zu wenig aus, dachte Jasmin. Seit ihrem Studienbeginn in Coburg im letzten Wintersemester war sie nur ein einziges Mal im Hofgarten gewesen. Egal! Ihre Blase meldete sich immer heftiger. Sie kehrte dem Buschwerk den Rücken zu, knöpfte ihre Jeans auf, zog mit geübtem Griff Hose und Tanga unter die Knie herab und ging in die Hocke.
Urplötzlich ein scharfes, krachendes Knacken – direkt hinter ihr.
Zu Tode erschrocken fuhr Jasmin in die Höhe, stolperte fast, fing sich wieder, drehte sich entsetzt herum, versuchte, Slip und Hose nach oben zu reißen.
»Alex?? Bist du des? … Mach kan Blödsinn!«
Sie starrte angstvoll in das dunkle Gebüsch.
War ihnen doch der merkwürdige Russe vorhin gefolgt, hatte sich hier versteckt – und sie die ganze Zeit beobachtet?
Mit zitternden Fingern zerrte sie an ihren Jeans, den Blick atemlos auf das unheildrohend schwarze Buschwerk gerichtet.
Scheiß auf die Knöpfe, scheiß auf die Schläppchen, nichts wie rüber, dort drüben muss doch der Fußweg …
Zu spät!
Der ganze Busch krachte und zersplitterte.
Wie ein riesenhafter Panther sprang der Schatten sie an, warf sie wuchtig zu Boden. Brutal presste sich eine Hand auf ihren Mund, erstickte erbarmungslos ihren entsetzten Schrei. Voll wilder Todesangst bäumte Jasmin sich auf – und hatte doch nicht den Hauch einer Chance. Blitzartig, siedend heiß bohrte sich wahnsinniger Schmerz tief in ihren Brustkorb, immer wieder, immer heftiger; raubte jäh die Kraft zum Luftholen, die Kraft zum Schreien. Nur noch ein ängstliches Röcheln, ein schwaches, reflexartiges Zucken von Händen und Füßen. Blutige Schaumbläschen gurgelten hervor, als ein grauenhafter Schmerz ihr Kehle und Luftröhre spaltete. Sie spürte nicht mehr, was mit ihrem Unterleib geschah.
Zwei Steinwürfe weiter verabschiedete eine tobende, alkoholbefeuerte Menge die »Bateria do Samba Brasil« frenetisch von der Schlossplatzbühne.
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