6. Nutze den Tag
Der Knacks im Ego
Schauen wir uns mal Heidemarie an. Heidemarie ist eine wirklich attraktive Frau mit glänzenden, braunen Haaren, kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag. Früher hieß sie bei allen Heidi, aber in letzter Zeit will sie nur noch mit ihrem ganzen Namen angeredet werden. Na, wenn es Heidemarie glücklich macht …
Heidemarie ist Chefsekretärin. Die anderen halten sie für einen Drachen und an diesem Image hat sie zwanzig Jahre gebastelt. Ihr Chef hat sie dafür mit einem Gehalt belohnt, das nur allerhöchste Wertschätzung bedeuten kann.
Früher sprang Heidemarie morgens gut gelaunt aus den Federn, versorgte Mann und Kinder und fuhr dann vergnügt zur Arbeit, wo sie als Erstes lüftete, Kaffee kochte und ein fröhlich Liedchen trällerte. Jetzt sind ihre Kinder aus dem Haus und das mit dem gut gelaunt aus den Federn springen will nicht mehr so richtig funktionieren. Ihr Mann macht jetzt das Frühstück. Morgens steht Heidemarie vor ihrem Kleiderschrank und weiß nicht mehr, was sie anziehen soll. Das graue Business-Kostüm mit der gelben Seidenbluse ist ihr eigentlich zu anstrengend. Also zieht sie eine lockere Hose an und eine Strickjacke, weil das doch so bequem ist. Im Hinterkopf weiß Heidemarie, dass diese Strickjacke ein untrügliches Zeichen von Depression ist.
Sie quält sich hinunter zu ihrem alten Ford Fiesta und begibt sich lustlos zur Arbeit. Es ist sogar schon vorgekommen, dass sie sich verfahren hat, obwohl sie die Strecke seit zwanzig Jahren täglich fährt. Früher hat sie immer das Autoradio auf full power gedreht, jetzt ist ihr die Stille lieber, da kann sie besser ihren Gedanken nachhängen.
Heute Morgen ist Heidemarie der Kaffeefilter umgekippt und die ganze braune Körnerbrühe hat sich über den Eisschrank in ihrem kleinen Büro ergossen. Heidemarie hat sich hingesetzt und geweint. Jetzt bin ich schon zu blöd zum Kaffeekochen, hat sie sich gesagt. Als ihr Chef kommt, wischt sie schnell die Tränen weg und serviert ihm mit zitternden Händen den Kaffee.
Als er ihr anschließend ein paar Briefe diktieren will, kriegt sie eine Hitzewallung.
Immer wieder schweifen ihre Gedanken ab und sie muss fragen: „Wie bitte, Entschuldigung, das habe ich eben nicht mitgekriegt.“ Ihr Chef guckt seinen von Herzen geliebten Hausdrachen an und wundert sich.
„Nicht ganz bei der Sache, was, Mädchen?“, fragt er sie.
„Ich bin kein Mädchen“, murmelt sie und muss mühsam die Tränen zurückhalten.
„Irgendwelche Termine heute?“, fragt der Chef.
„Ich weiß es nicht“, muss sie gestehen.
„Na, dann gucken Sie doch mal nach.“ Der Chef wird langsam sauer.
Heidemarie stolpert hinaus und reißt die Kaffeetasse um.
„Passen Sie doch auf!“
Draußen stellt sie fest, dass der erste Termin bereits vor zehn Minuten begonnen hat. Und das muss sie jetzt ihrem Chef beichten. Der macht sich Sorgen um seinen Hausdrachen und schiebt es auf „mit dem linken Fuß aufgestanden“.
Das stimmt vermutlich sogar. Was der Chef sich allerdings nicht vorstellen kann, ist, was dieser Tagesanfang mit unserer Heidemarie macht. Sie fragt sich nämlich ernstlich, ob sie ihrem Job überhaupt gewachsen ist. Wenn das Telefon klingelt, zuckt sie zusammen, als ob die zwölf Geschworenen sie jetzt schuldig sprechen würden. Während sie früher unnahbar mit erhobenem Haupt durch die Kantine ging und sich, ungefragt, aber gern gesehen, zu den Abteilungsleitern an den Tisch setzte, meidet sie die Kantine jetzt, als ob von dieser ein fauliger Geruch ausgehe. Heidemarie läuft ziellos in ihrer Mittagspause durch die öden Straßen des Industrievorortes und setzt sich auf eine wacklige Holzbank neben einem unbepflanzten Eternitkübel. Und dann rast es ihr durch den Kopf: Wann ist endlich Wochenende? Oh je, schon wieder bei den Schneiders eingeladen. Ich habe nichts zum Anziehen. Zum Friseur muss ich auch noch. Obwohl das auch nichts mehr hilft. Und Britta sieht immer so entsetzlich gut aus. Ich fühle mich so hässlich. Was mache ich heute nur zum Abendessen? Mir fällt überhaupt nichts mehr ein.
Kaum ist sie wieder im Büro, hat mühsam ihre professionelle Miene aufgesetzt, geht der Horror weiter. Der Chef sucht einen Brief, von dem sie weiß, dass sie den ganz bestimmt in der Akte Personal abgelegt hat. Aber dieser Brief ist nicht da. Einfach nicht zu finden. Heidemarie ist einem hysterischen Anfall nahe. Sie fragt sich, ob sie jetzt allen Ernstes die ersten Anzeichen von Alzheimer bei sich bemerkt. Wie oft hat sie in den letzten Wochen ihre Brille verlegt, die Autoschlüssel gesucht, ist statt ins Bad ins Wohnzimmer gegangen oder konnte sich bei Gott nicht an ihre eigene Telefonnummer erinnern?
Heidemaries Selbstwertgefühl ist nicht nur im Keller, sondern schon im dritten Untergeschoss der Tiefgarage. Jeder normale Mensch hat mal einen Tag, an dem alles schiefgeht. Aber alles, was jetzt schiefgeht, geht Heidemarie nahe. So nahe, dass sie auf dem besten Weg ist, sich mit ihrem Mann ernsthaft zu zerstreiten, ihrem Chef über den Mund zu fahren und Freunde zu brüskieren. Dabei kann sie sich nicht mal erinnern, was diesen Zustand ausgelöst hat. Sie ist komplett fertig, abgefahrenes Profil wie bei ihrem alten Ford Fiesta.
Würde es Heidemarie helfen, wenn man zu ihr sagen würde: Heidi, du bist nicht allein. Das geht vielen anderen in deinem Alter genauso. Es gibt keinen Grund, alles und jedes auf dich zu beziehen. Geh mal zum Arzt und lass dir Hormone verschreiben.
Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht würde es ihr helfen, wenn man sich neben sie stellt, liebevoll über ihren alten Ford Fiesta streicht und sagt: „Mensch Heidi, du hast ein tolles Auto. Früher konnten die noch Autos bauen, die was ausgehalten haben. Zuverlässig bis zum Sankt Nimmerleinstag. Ein paar Lackschäden, aber der Motor summt wie eine Biene. So, wie bei uns.“
Wetten, dass Heidis Tag gerettet wäre? Und nicht nur dieser Tag. Wahrscheinlich würde sie sich jeden Morgen in ihr Auto setzen und ihm zuflüstern: „Komm, Kleiner, jetzt zeigen wir mal, was noch in uns steckt.“
Weshalb haben so viele Frauen in unserem Alter ein angeknackstes Ego? Sind es wirklich nur die fehlenden Hormone und die damit einhergehenden Depressionen oder sind es die Erwartungen der Gesellschaft, denen wir uns nicht mehr gewachsen fühlen? Ausgemustert, zum alten Eisen gehörend, reif für den Biomüll?