Stress pur

Es ist noch gar nicht so lange her, da bist du von der Arbeit nach Hause gerast, hast die schweren Einkaufstüten die Treppe hochgeastet, dir noch beim Schuheausziehen die Schürze umgeschmissen, denn deine hungrige Familie wollte bald etwas zu essen haben. Deine Kinder kamen natürlich weder pünktlich noch gut gelaunt zum Essen oder brachten unangemeldet Freunde mit. Beim Abendessen wurden dann die großen und kleinen Kümmernisse besprochen, Probleme gelöst, gestritten und gelacht. Und jetzt? Wenn du nach Hause kommst, empfängt dich gähnende Leere. Dein Mann freut sich, dass es endlich mal etwas ruhiger ist, aber du hast das Gefühl, dass du nicht mehr gebraucht wirst. Das ist eine große Änderung und – die erzeugt Stress.

Im Job warst du immer topfit. In letzter Zeit stellst du fest, dass deine Kunden und Vorgesetzten ständig jünger zu werden scheinen, manche sind gerade mal in dem Alter deiner Kinder. Denen natürlich die gesammelte Lebenserfahrung unseres halben Jahrhunderts einfach fehlt. Sie machen die gleichen Fehler, die du in ihrem Alter auch gemacht hast. Am liebsten würdest du dich hinsetzen und denen erzählen, wo der Hase wirklich lang hoppelt. Das wäre aber weder jobförderlich, noch würde es überhaupt etwas bringen, da jeder Mensch seine Erfahrungen selbst machen muss. Natürlich fragst du dich, nachdem du all diese wichtigen und richtigen Erfahrungen gemacht hast, warum zum Teufel sie keiner haben will.

Die meisten Frauen unserer Generation arbeiten, zumindest halbtags. Wer in unserem Alter arbeitslos ist und versucht, wieder in den Job einzusteigen, der braucht schon die Kräfte eines Herkules und die Nerven eines James Bond, um bei der wirtschaftlichen Situation damit erfolgreich zu sein.

Wie nennst du das? Ich nenne das Stress pur! Fast gleichzeitig mit dem Verlust der Kinder wirst du noch dazu wieder zur Mutter, sozusagen zu deiner eigenen Großmutter. Vater und Mutter sind an die Stolpergrenze im Leben geraten und benötigen jetzt deine Hilfe, die sich langsam zur Rundumbetreuung auswächst. Sie quengeln wie Vierjährige, sind allerdings nicht mit einem Bounty oder ein paar M&M’s zufrieden zu stellen. Sie sind unvernünftig wie Krabbelkinder, jedoch mit einer so ausgeprägten Sturheit, wie sie nur in jahrzehntelanger Übung erworben werden kann. Schlimm wird’s, wenn sie dann in die anale Phase kommen und dich über ihre Ausscheidungen tyrannisieren.

Meine Mutter pflegte sich grundsätzlich an genau den drei Tagen im Jahr auf die Intensivstation zu begeben, in denen ich zwanzig Stunden nicht abkömmlich war. Und das zehn Jahre lang. Mein Vater pflegte grundsätzlich dann einen Darmdurchbruch zu bekommen, wenn ich auf dem Weg in den Urlaub war. In meiner Firma gab es eine Wettliste, wann einer meiner Elternteile mal wieder plötzlich und unerwartet ins Krankenhaus eingeliefert wird. Also habe ich es mit einem Trick versucht: Nicht mehr erzählen, dass ich am soundsovielten durcharbeiten muss oder in den Urlaub fliegen will. Das hat allerdings nichts geholfen, sie wurden trotzdem ins Krankenhaus eingewiesen und ich habe eben einen Tag später davon erfahren bzw. den Rückflug antreten müssen. Dass ich damit nicht etwa zu den Ausnahmefällen gehöre, wird mir immer klar, wenn ich mit Freundinnen rede. Auch deren Eltern scheinen seit zehn Jahren zu sterben. Und wenn sie es dann tatsächlich tun, ist man erst einmal erstaunt. Was aber am schwersten wiegt, ist, dass du dich permanent mit dem Tod auseinandersetzen musst. Plötzlich ist er real geworden, anfassbar, vorstellbar und unausweichlich. Die Nähe des Todes, und nicht nur des Todes der Eltern, sondern auch des frühen Todes von Freunden, denn seien wir ehrlich, die Einschläge kommen immer näher, fördert nicht unbedingt die Lebensfreude. Aber vielleicht ist das Leben auch hier gnädig. Der Tod klopft an. Wenn er dann wirklich eintritt, hat er viel von seinem Schrecken verloren. Du bist nur noch erschöpft. Das ist dann der Zeitpunkt, an dem sich die meisten ihre erste Kreuzfahrt gönnen.

Wechseljahressymptome? Nee, Mega-Stress.

Dein Süßer hat ein Auge auf die neue Sekretärin oder die Imbissverkäuferin geworfen? Na, das kommt in den besten Familien vor, warum solltest du davon verschont bleiben? Dabei hast du gar nicht mit böser Absicht in seinen Taschen gewühlt, als du neulich diese blöden Kinokarten gefunden hast, du wolltest nur mal wieder alle seine Taschentücher waschen, die er immer vergisst in den Wäschepuff zu legen. Die Kinokarten haben dich ja noch nicht so richtig beunruhigt, aber der Ehering, der an einer Baumwollschnur im Knopfloch seines dunklen Anzuges festgemacht war, als du ihn aus der Reinigung geholt hast, hat dir doch ernstlich zu denken gegeben.

Und auch das ist bestimmt kein Problem, bei dem dir der Gynäkologe helfen kann. Also sei lieb und vertraue Onkel oder Tante Doc wieder, ja?

Wir haben also festgestellt, dass du in den vergangenen und sicher auch noch in den vor dir liegenden Jahren voll im Stress bist. Und zwar leidest du unter Belastungen, die sozusagen unumkehrbar sind. Denn deine Kinder werden nicht mehr klein und deine Eltern nicht mehr gesund und dein Mann wird im Gegensatz zu Kollegen und Vorgesetzten auch nicht jünger. Und du? Du fühlst dich erschöpft, ausgelaugt, reif für die Insel, bist wütend, deprimiert und lustlos. Das typische Burn-out-Syndrom.

Das Einzige, was gegen Burn-out wirklich hilft, sind neue Ideale, neue Werte, neue Ziele. Aber leichter gesagt als getan. Denn dein ganzes Leben lang hast du nach vorn geschaut. Mit zwanzig hast du dir gesagt, das wird alles besser, wenn ich erst meine Ausbildung abgeschlossen oder bei meinen Eltern ausgezogen bin. Mit dreißig hast du dir gesagt, es wird alles ganz anders, wenn die Kids erst aus dem Gröbsten raus oder du Karriere gemacht hast. Sogar mit vierzig hast du noch gedacht, es wird alles besser, wenn du erst mal wieder Urlaub gemacht hast oder die Steuererklärung oder sonst was. Und jetzt glaubst du einfach nicht mehr daran, dass alles besser wird. Im Gegenteil, du bezweifelst, dass es jemals anders wird und wenn es dann doch einmal anders werden sollte, dann bist du alles andere als sicher, dass das „anders“ dir dann auch zusagt.

Kein Wunder, wenn deine früheren Vorbilder nur noch unzusammenhängende Worte krächzen oder sich in die Hosen scheißen. Du fühlst dich wie im Wartesaal zum Himmel. Und das liegt einzig und allein daran, dass du dich nicht mehr traust nach vorn zu leben, sondern dich im Gestern vergräbst.

Mein letzter Tampon
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