Die Mutter der Nation
Sie betüttelt alles und jeden. Bei unserer 54-jährigen Freundin kann man sich ausweinen. Sie hat drei Kinder, zwei Enkel, unzählige Freundinnen und Freunde. In ihrem Leben passieren ständig Katastrophen. Natürlich nicht mehr in ihrem eigenen, denn das läuft inzwischen in ziemlich langweiligen Bahnen. Ihr Job als Angestellte bei der BfA ist eher unaufregend und ihr Mann ist vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
In ihrer großen Wohnküche treffen sich regelmäßig die Familie, die Freunde, die Freunde der Familie und die Freunde der Freunde. Und lassen die Katastrophen bei ihr. Unsere Freundin kocht Eintopf, heilt gebrochene Herzen und gebrochene Pfoten aller möglichen Vierbeiner, flickt überzogene Bankkonten und gebrochene Beziehungen und macht sich bereits im April auf die Suche nach passenden Weihnachtsgeschenken. Wenn sie Zeitung liest, dann findet sie für jeden den passenden Artikel, schneidet ihn aus und archiviert die Artikel, damit sie beim nächsten Besuch darauf zurückgreifen kann. Oder sie schreibt schnell einen netten kleinen Brief: Schau mal, was ich gerade gefunden habe.
Zwischendurch pflegt sie per E-Mail ihre Freundschaften, man findet ihre trostreichen Botschaften oft noch mitten in der Nacht im Netz. Wenn unsere Freundin eingeladen ist, was eher selten vorkommt, dann backt sie vorher einen Apfelkuchen und nimmt noch ein Glas von den wundervollen Oliven mit, die sie neulich bei Aldi gefunden hat. Das Leben jenseits ihrer Arbeit spielt sich in ihrer Küche ab und zwar das gesamte Unglück dieser Welt. Auf die meist nicht ehrlich gemeinte Frage, wie es ihr denn gehe, antwortet sie mit penetranter Ruhe: Ich bin zufrieden. Wirklich?
Nun stellen wir uns mal vor, diese liebenswerte Frau findet zufällig bei Aldi oder im Büro gegenüber einen netten Mann. Ich sehe dich jetzt lächeln. Der hätte den Himmel auf Erden, gell? Nee, hätte er nicht. Denn sie würde ihn nicht finden, bei all der Arbeit, die sie hat. Sie hätte einfach keine Zeit für einen netten Mann, wetten, dass es schon zur ersten Verabredung nicht kommt, weil ihre Enkelin Röteln hat und ihre Tochter zum Batikkurs muss? Beim zweiten Versuch muss sie wieder passen. Ihre Freundin hat einen kleinen Autounfall gehabt und deren Katze muss dringend zum Tierarzt, also da muss sie doch schnell mal helfen …
Bist du sicher, dass es einen dritten Versuch geben würde? Diese herzensgute Frau hat leider für alles ein Herz, nur nicht für sich selbst.