13. Hinter dem Horizont
Mythen, Monstren, Mutationen
Ganz klar, den Charakter kann man nicht ändern. Und je älter du wirst, desto deutlicher treten deine Charakterzüge hervor. Galt deine Eigenwilligkeit mit vierzehn als pubertär, mit dreißig faszinierend, wirkt sie mit fünfundvierzig schlicht nur noch schrullig.
Warst du als Kind immer die Bandenchefin, hat man dir mit dreißig Ellenbogen und Durchsetzungsvermögen zugestanden, so wird man wahrscheinlich heute von dir sagen, dass du die Menschen mit deinem monströsen Machthunger bevormundest und zu beherrschen versuchst.
Hast du mit siebzehn leidenschaftlich über die Mao-Bibel diskutiert, nannte man dich mit dreißig eine analytische Querdenkerin. Und heute? Einfach nur zänkisch, das Weib.
Hast du mit sechzehn statt auszugehen lieber Hermann Hesse gelesen, warst du eine jugendliche Romantikerin. Wenn du mit dreißig nach Australien auswandern wolltest, nannte man dich eine Träumerin. Ich wette, hinter deinem Rücken nennt man dich heute die Spinnerin.
Warst du als Kind unpraktisch, so nannte man das süß. Hast du mit dreißig mit einem hilflosen Augenaufschlag alles bekommen, so war das schlau, denn du hast Beschützerinstinkte geweckt. Leider muss ich dir sagen, heute hält man dich für blöd.
Aber keine Sorge, das geht munter so weiter. Je älter du wirst, desto übler treten einzelne Charaktereigenschaften hervor. Vergiss die Mär von den weisen alten Damen, die mit Souveränität und Nettigkeit den Rest der Welt in ihren Bann ziehen. Ich habe bei meinem Krankenhausmarathon in Sachen Elternbetreuung eigentlich nur zänkische, unangenehme, herrschsüchtige, neidische, schrullige, bösartige oder verblödete alte Frauen getroffen.
Aber vielleicht werden ja reizende alte Damen nicht krank. So wie meine zwei Schwiegermütter. Die verabschiedeten sich einfach aus dem Leben, als sie fanden, dass es nun wirklich reicht. Diese Theorie schreit ja geradezu nach einer Doktorarbeit!
Was ist aber mit deinen nun wirklich ganz eindeutig positiven Eigenschaften? Deiner Fröhlichkeit, deinem Optimismus, deiner Lebensfreude, deiner liebevollen Hingabe, deiner Intelligenz, deiner Zärtlichkeit, deinem Humor, deiner Fähigkeit, Probleme zu lösen, deiner menschlichen Anteilnahme.
Meine Liebe, du wirst in den nächsten Jahren ganz schön zu tun haben, um diese positiven Eigenschaften zu pflegen. Damit die früher so süßen, eigenwilligen Züge nicht zu kleinen Teufeln in dir mutierten und Zank- oder Herrschlust dich vollends dominieren. Kein Mensch ist nur gut oder nur schlecht. Aber in der zweiten Hälfte unseres Erwachsenenlebens zählt allein, welche Seite bei dir siegt. Lassen wir uns nicht von unseren Teufeln besiegen!