Die Angst überwinden
Anaphobie nennt man sie, die Angst vor der alten Frau. Alte Frauen hast du dir immer so vorgestellt wie deine Oma oder Miss Marple oder Queen Mum. Das tut auch der Rest der Welt und deshalb wird jeder protestieren, wenn du dich als alt bezeichnest. Vorsicht vor denen, die protestieren. Das sind die schlimmsten Lügner. Die halten dich nämlich nicht für alt im Sinne von Miss Marple, sondern schlicht für untragbar und peinlich.
Inzwischen bist du selbst Oma, allerdings siehst du ein bisschen anders aus, als deine eigene Omi ausgesehen hat, und natürlich bist du noch nicht in dem gnädigen Alter einer Miss Marple oder Queen Mum. Die Hälfte deines Erwachsenenlebens liegt noch vor dir (im Falle von Queen Mum sogar ein halbes Jahrhundert).
Wovor du eigentlich Angst hast, ist, so unsichtbar zu werden wie Tante Lehnchen. Die typische alte Jungfer in jeder Familie. Die war eigentlich schon mit vierzig das, wovor du heute Angst hast. Und diese Angst haben alle jungen Frauen. Angst, nicht mehr wahrgenommen zu werden, nur noch aus Mitleid eingeladen zu werden, niemals begehrt zu werden.
Ich entsinne mich noch sehr gut an einen Überseeflug vor rund fünfundzwanzig Jahren. Neben mir saß eine sehr attraktive Frau, mit der ich mich blendend unterhalten habe. Als sie sich zu einem Nickerchen in den Flugzeugsessel lümmelte, hatte ich Zeit, ihr Gesicht in der aufgehenden Morgensonne zu studieren. Ja, sie bekam ganz offensichtlich Falten. Und ich habe damals gedacht: ‚Oh Gott, wie grausam, in diesem Alter zu sein. Das ist doch einfach peinlich, wenn jeder sieht, wie du alt wirst. Eine verwelkende Rose.‘
Nicht nur, dass mich diese Gedanken in eine tiefe Depression gestürzt haben, sie haben mir fast den Urlaub versaut. Denn dieses Alter kam unweigerlich auf mich zu.
Heute weiß ich, dass nicht diese nette Frau peinlich war. Es ist so Gott verflucht peinlich, an das eigene Altern zu denken, dass man es, solange das irgend geht, einfach verdrängt. Und wenn man ihm dann ins Antlitz schaut, wird man daran erinnert, dass jeder Mensch endlich ist. Ich kann mich noch sehr gut an dieses Gefühl des tiefsten Bedauerns erinnern, das ich dieser Frau gegenüber hegte.
Ich möchte nicht wissen, wie viele junge Menschen mich inzwischen stumm bedauert haben. Wahrscheinlich die, die mir laut hinter rufen: „Hallo, junge Frau …“ Warum haben wir das Gefühl, bedauert zu werden? Weil niemand vormacht, wie man mit Würde alt wird. Die Frauen ziehen sich einfach zurück ins stille Kämmerlein. Oder werden uns in den Medien vorgestellt als böse Schwiegermütter, alte Hexen, vertraschte, bösartige Nachbarinnen. Es gibt kein positives Bild der alternden Frau. Sie muss ja frustriert sein, die Arme, sie wird alt.
Unsere Generation ist die erste, die gut ausgebildet, ziemlich selbstständig, emanzipiert und selbstbewusst ist. Also wird es an uns sein, den Jungen zu zeigen, wie man mit Würde alt wird. Denn nur, wenn die jungen Frauen die Angst vor dem Altern verlieren, werden sie uns nicht als peinlich, sondern als göttlich empfinden. Es ist an uns, Vorbilder zu schaffen. Und Vorbilder sind außer dir selbst vielleicht deine Freundinnen, Nachbarinnen, Kolleginnen. Nicht die auf Mädchenniveau stehen gebliebenen Kunstweiber, sondern Frauen wie du und ich. Allerdings werden wir das niemals schaffen, wenn wir uns ins stille Kämmerlein zurückziehen und trauern.