Frühjahr 1309 - Frankreich

 
Die zerklüfteten Hänge der Pyrenäen waren noch immer schneebedeckt, als Jocelin den Ibanetapass hinab ritt. Die Sonne glitzerte auf dem makellosen Weiß, das ihn an die Wüste Palästinas erinnerte. Die Erinnerung erfüllte ihn mit Bitterkeit.
Nach der Morgenröte der Hoffnung im vergangenen Sommer war eine Nacht des Schreckens über den Orden hereingebrochen. Nachdem ihm ein erneutes Geständnis des Meisters vorgelegt worden war, hatte Papst Clemens am 30. Oktober den ausländischen Fürsten die Verhaftung der Templer geboten.
Zunächst war dieser Befehl mit nur geringem Eifer befolgt worden. Aber König Philipp war weder bereit, dieses Verhalten zu dulden, noch die sich in Frankreich für den Tempel erhebenden Stimmen, und am letzten Tag des Jahres 1308 verbot Papst Clemens bei Strafe der Exkommunikation und des Interdikts alle Unterstützung für die Ordensbrüder. Das so mühsam geknüpfte Hilfsnetz zerriss. In Aragon begannen die Truppen des Königs die Burgen des Ordens zu belagern. Der Bruder, der das Kommando anstelle des verhafteten Provinzmeisters übernommen hatte, sandte verzweifelte Briefe an König, Papst und Bischöfe - umsonst. Jocelin fand auf der Burg Miravet Zuflucht. Wochen teilte er das Schicksal der Belagerten, die sich auf das Martyrium vorbereiteten. Dann verhalfen ihm zwei Brüder unter Einsatz ihres Lebens zur Flucht. Der Prokurator war zu wichtig, um in die Hände der Inquisition zu fallen! Dabei hatte er in diesen Stunden nichts mehr ersehnt als den Tod, das Ende der Buße, das Ende all der Hoffnungslosigkeit, das barmherzige Vergessen…
Ende Mai erreichte Jocelin Fontainebleau. Je näher er dem Versteck kam, umso beherrschender wurde die böse Ahnung in ihm. Waren seine Brüder überhaupt  noch in Freiheit? Möglicherweise fand er zwischen dem Gestrüpp und den umgestürzten Stämmen im Herzen des Waldes nur noch modernde Skelette vor?
„Halt! Wie ist die Parole?” Das Klacken einer Armbrust begleitete die fordernde Stimme. Jocelin blickte erleichtert nach oben in die Felsen. „Jean? Ich bin es, Komtur Jocelin.”
„Ah, Jocelin! Wir haben schon gedacht, wir sehen Euch niemals wieder! Die Gerüchte aus Spanien waren nicht besonders gut!” Sein Ordensbruder sprang vor ihm auf den Waldboden.
„Die Wirklichkeit auch nicht. König Jayme belagert unsere Burgen. Der Provinzmeister ist schon seit Monaten in Gefangenschaft. - Die Nachrichten der Anderen sind nicht besser, nehme ich an.”
„Einige Bischöfe im Reich schützen die Brüder, so gut sie können. Venedig war auf unserer Seite, zumindest bis zum letzten Edikt des Papstes. Aber, verdammt, König Philipp würgt unsere Helfer, bis sie Wachs sind in seiner Hand – oder tot.”
„Was ist mit England?”
Jean zögerte mit der Antwort.
„Bruder Louis ist voriges Jahr mit zwei Brüdern nach England aufgebrochen. Die letzte Nachricht hat er uns im Dezember über Bruder Ranulf geschickt. Dann haben wir nichts mehr von ihm gehört.”
„Louis... Er hatte solche Angst, wieder eingekerkert zu werden! Mein Gott!”
„Im März verlautete, die Kommission in Paris wolle auch Entlastungszeugen anhören. Seither warten wir auf eine offizielle Vorladung“, fuhr Jean fort. “Bis jetzt ist noch nichts geschehen. Aber das ist auch kein Wunder! In Paris haben sich die Kommissare versammelt, unter den Augen König Philipps! Ausgerechnet Paris! Und die Leute Seiner Majestät haben freien Zugang zu den Kerkern, nicht nur in Paris, nein, in ganz Frankreich! Die Prälaten haben Sondervollmachten erhalten, jeden Templer den sie ergreifen, sofort vor Gericht zu stellen, egal aus welcher Diözese. In allem hat Papst Clemens den  Wünschen des Königs entsprochen, damit er ungehindert nach Avignon ziehen konnte! Jetzt ist Papst Clemens frei, aber er hat sich seine Freiheit mit unseren letzten Rechten erkauft!“
„Der Antichrist regiert...“ murmelte Jocelin.
„Der Antichrist und sein Diener!” lachte Bruder Jean bitter. „Das ganze Land ist voller Spitzel Nogarets! Und Ihr seid es, den sie vor allen anderen suchen, Sire Jocelin! Ehe Papst Clemens den Bann über unsere Helfer verhängte, hatten wir Kontakt zu Bischof Thibald von Toulouse. Er zeigte mir eines der Schreiben, die Nogaret in jede Stadt senden lässt! Fünfhundert Goldflorin für denjenigen, der ihm den Anführer der flüchtigen Templer bringt, und...“
Seine Stimme senkte sich angewidert von dem, was Guillaume de Nogaret erwartete:
„... wenn es ein Ordensbruder ist, der Euch verrät, Freiheit und eine Leibrente für ihn! - Dabei würden wir eher sterben, als Euch zu verraten! Elende Missgeburten, wer das glaubt! Ihr denkt doch nicht etwa, dass einer von uns -?“
Jocelin schüttelte den Kopf. Nein, er fürchtete keinen Verrat der Brüder. Er fürchtete seinen eigenen; den Judas, der in ihm war, in ihm nagte und lästerte… Zornig blockte er die aufsteigenden finsteren Gedanken ab und fragte: „Wie seid Ihr über den Winter gekommen, Jean?”
„Gut, dank der Gräfin von Montfort, und ein paar unserer Brüder, die sich in der Umgegend verdingen konnten. Aber vor allem Ghislaine! Sie hat uns mit allem Nötigen versorgt, auch noch nach dem päpstlichen Bann gegen unsere Helfer. Sie ist eine großartige Frau, Sire Jocelin! Eine Frau, für die ich Gott und die Welt verlassen würde, wenn sie das mindeste Interesse an mir zeigen würde!“ Jean schob das verfilzte Rankenwerk einer Brombeerhecke zur Seite und öffnete dem Reiter neben ihm den Weg.
„Was redet Ihr da?!“
Jocelins Blick wischte das Lächeln aus dem Gesicht des anderen, mit dem er so verzweifelt versuchte, der Tristesse der letzten Wochen zu begegnen. „Nur ein Scherz“, murmelte er mit einem Seufzer, „nur ein verdammter Scherz! Glaubt mir, Jocelin, wir haben wirklich andere Dinge im Kopf, als um die Gunst einer schönen Frau zu konkurrieren! Und außerdem – ach vergesst es ganz einfach!“
„Was ‚außerdem’?“
„Nichts, es gibt nichts weiter.“
„Wir haben ALLE ewige Keuschheit gelobt!” entgegnete Jocelin barsch. „Vergesst das nicht!“ Er spornte sein Pferd an und preschte voraus.
„Mein Gott, Gelübde!” dachte Jean zornig und marschierte seinem Komtur hinterher. Seit die Verfolgung begonnen hatte, waren sie gezwungen, gegen das zu verstoßen, was sie einst gelobt hatte. Es war ihnen gar keine Wahl geblieben. Und wenn der Orden diesen Sturm überlebte, wer konnte dann noch fragen, wer wann und wie ein Gelübde gebrochen hatte?! Gelübde, ha! König Philipp hat gelobt, die Kirche zu beschützen, und Papst Clemens hat gelobt, unseren Orden zu schützen! Die kümmern sich einen Dreck um die Strafe Gottes!
Die halbe Nacht hindurch hatten die Templer nach Jocelins unerwarteter Rückkehr zusammengesessen und die Ereignisse der letzten Monate besprochen. Dabei hatte Jocelin bestürzt und beschämt festgestellt, dass er wenig Verlangen nach Gesellschaft oder Gesprächen hatte, und noch viel weniger, die trostlosen Erinnerungen aus Spanien zu teilen. Aber als die anderen sich schlafen gelegt hatten, fand er die lang ersehnte Ruhe nicht und verließ die Höhle. Außerhalb des bergenden Talkessels an dem dort entlang fließenden Bach entledigte er sich seiner Kleider und begann sich beinahe zornig mit dem eiskalten Wasser zu schrubben. Wenigstens kurze Zeit hatten seine Sinne damit zu tun, die Kälte zu bekämpfen und waren taub für andere finstere Gedanken.
Gerade wurde es hell. Als Jocelin zurück ans Ufer stieg, merkte er, dass Arnaud ebenfalls auf dem Weg zum Bach war. Nichts besonderes, immerhin war dieser Ort der Waschplatz für alle Brüder hier, dennoch fühlte er sich in diesem Moment unangenehm verfolgt. Zumal sein Pflegevater zu wissen schien, dass er ihn hier finden würde...
„Jocelin, ich möchte dich etwas fragen.“
„Ja. Sprecht!“ Es gelang ihm nicht, den mürrischen Klang ganz aus seiner Stimme zu verbannen. Mit einem heftigen Ruck zog er den abgelegten Bußgürtel wieder um die Hüften und presste die Zähne zusammen, um dem Schmerz zu begegnen.
„Es geht um die Gräfin von Montfort.“
Noch ein Ruck. Jocelin sah einen schmalen Blutfaden unter dem Gürtel hervor rinnen. „Was ist mit ihr? Wie Bruder Jean berichtete, soll sie uns sehr geholfen haben.“
„Das hat sie. Und - sie hat bei jedem Besuch nach dir gefragt. Was ...“ Arnauds Stimme zitterte leicht. „Was ist zwischen dir und dieser Frau?“
„Nichts!“ Obwohl sein Ordensbruder blind war, hatte Jocelin plötzlich das Gefühl, er würde in ihn schauen wie er selbst auf den Grund des zu seinen Füßen fließenden Baches.
„Nichts!“ wiederholte er umso zorniger und streifte die Tunika über.
„Du bist dir sicher?“
„Was glaubt Ihr? Ich habe sie nicht angefasst!“
„Die Unzucht beginnt nicht in unserem Leib, sondern in unserem Geist. Das weißt du. Ein Gedanke genügt und der Teufel hat eine Bresche in die Verteidigung geschlagen.“
„Macht Euch keine Sorgen! Ich habe nichts getan und ich habe nicht die Absicht!“
„Ich will nur... Jocelin, ich will nur, dass dir dieser besondere Schmerz erspart bleibt. Achte genau auf die Fallstricke des Teufels! Sei wachsam!“
Vorsichtig hatte der Reiter sein Pferd auf dem schmalen Pfad zwischen den Felsen hindurch in den Kessel gelenkt. Er trug ein schwarzes, weich fallendes Gewand wie die Scholaren des Pariser Kollegs. Erst als er aus dem Sattel stieg, zeichneten sich die Körperformen einer Frau darunter ab.
„Gräfin Ghislaine!” rief Bruder Jean. „Wir hatten nicht mehr mit Euch gerechnet diese Woche. Es gibt –“
Er wollte ihr berichten, dass Jocelin zurückgekommen sei, doch sie hatte seine Gestalt schon selbst erspäht und war an seiner Seite, ehe Jean sie zurückhalten konnte. „Gott hat meine Gebete erhört, Jocelin!”
„Ich hörte, Ihr habt uns sehr geholfen, Madame“, murmelte er, ohne sich zu ihr umzuwenden. „Ich habe nichts, womit ich Euch danken kann.”
„Ich bin sicher, der Herr wird mir alles vergelten!”
Jetzt fuhr er zu ihr herum, beherrschte sich aber, ihr ins Gesicht zu schleudern, was im auf der Zunge lag. Er hatte ihr Antlitz gesehen in jedem Marienbild, vor dem er in Spanien auf den Knien gelegen hatte. Aber – die Erinnerung schien ihn getrogen zu haben. Sie war schöner als all diese Statuen und Bilder, und ihre Augen trauriger…
 „Sagt, wie geht es Yvo?” fragte er, wieder in die Flammen starrend. ‚Wie geht es Euch?‘ hatte er eigentlich fragen gewollt, die Frage, die immerwährend in den letzten Monaten in ihm gebrannt hatte, aber er brachte es nicht über sich.
„Er ist jetzt als Knappe am Königshof“, antwortete Ghislaine.
„Gut. Sorgt dafür, dass er uns und sein kleines Abenteuer vor einem Jahr vergisst!“
Die Neuigkeiten, wegen der Ghislaine gekommen war, waren wenig ermutigend. Der Erzbischof von Sens liege im Sterben, erzählte sie, und seine Nachfolge sei schon jetzt das wichtigste Thema bei Hofe. König Philipp wolle versuchen, einen ihm genehmen Kandidaten durchzubringen, denn im Metropolitanbezirk Sens lag Paris, und in Paris hatte sich die Große Kommission gegen den Templerorden konstituiert. Von Erzbischof Gregor von Rouen, der nun ihr Vorsitzender war, hatte sie noch keine neue Nachricht erhalten. Ob Entlastungszeugen angehört werden würden, war nach wie vor unklar.
Als der Abend näher rückte machte sich Ghislaine auf den Rückweg. Sie wollte nicht noch bei Dunkelheit unterwegs sein. Bruder Jean half ihr, das Pferd wieder zu satteln. Sie blickte sich suchend nach Jocelin um, doch war er nirgends zu sehen.
„Bruder Jocelin…“ fragte sie, noch immer den Blick auf den halbdunklen Eingang der Höhle gerichtet. „Ist er so, seid er zurück ist aus Spanien?“
„Ja. Aber er spricht nicht darüber, was dort unten geschehen ist. Nur das Nötigste. Ansonsten brütet er vor sich hin oder übt Fechten. Aber... Madame... es sind wirklich schwere Zeiten, für uns alle.“ Jean suchte nach irgendetwas Aufmunterndem; er hatte das Gefühl, es diesen beiden Menschen, die er bisher als seine verlässlichsten und treuesten Freunde auf Erden betrachtete, schuldig zu sein. Doch ehe er noch etwas sagen konnte, klang Bruder Arnauds Stimme zu ihnen:
„Madame Ghislaine, ich halte es für besser, wenn ihr eure Besuche in den kommenden Wochen einschränkt oder...für eine Weile einstellt. Die neuen Nachrichten lassen mich befürchten, dass der König seine Suche nach unseren Unterstützern verdoppeln wird. Und wir können nicht riskieren, dass Ihr verhaftet werdet.“
„Wie Ihr wünscht.“ Sie blickte von dem alten Ordensbruder zu Jean de Saint-Florent, dessen Miene undeutbar blieb und fragte sich, ob es tatsächlich die Sorge um ihre Verhaftung war, die Arnaud zu diesen Worten veranlasste, oder ob er sie von Jocelin fernhalten wollte... Die ganzen vergangenen Wochen hatte er nie vom Risiko ihrer Ergreifung gesprochen, obwohl es immer bestanden hatte und alle sich der Gefahr bewusst waren. Sie hatte sie geteilt aus ihrem eigenen Wunsch heraus, und diesen Wunsch hatten die Brüder von Fontainebleau akzeptiert. Bis jetzt.
Diese Gedanken versetzten ihr einen Stich, aber dann nickte sie Jean noch einmal zu und lenkte ihr Pferd auf den Weg.
Jocelin war hinunter zum Bach gegangen, als sich Ghislaine zum Gehen anschickte, absichtlich, um nicht noch einmal ihrem entsetzten und traurigen Blick standhalten zu müssen. Jetzt waren die Hufschläge ihres Pferdes im Wald verklungen. Er packte sein Schwert, mit dessen Schärfung er bisher akribisch beschäftigt gewesen war und führte einige Probehiebe gegen das umgebende Buschwerk.
Ungewollt wanderten seine Gedanken zurück. In eine Zeit, die ihm jetzt so fern schien, die gar nichts Wirkliches mehr hatte, einem Traum ähnlicher als seinem eigenen Erleben. Der Hauptkonvent in Akkon… Er und zwei andere Jungen im Turnierhof…
Bruder Arnauds Stimme: „Merkt euch, es geht nicht um euren Sieg! Es geht nicht um euren Stolz! Es geht um den Sieg Christi! Lernt Demut!“
Es war ein besonders heißer Sommertag gewesen, und die Waffenübungen für die Jungen besonders anstrengend. Aber Arnaud war niemand, der ihnen deshalb Schonung gewährt hätte. Der Feind nahm auf das Wetter auch keine Rücksicht! Er zog den hustenden Jocelin wieder nach oben, den ein Kamerad aus dem Sattel geworfen hatte. „Aufs Pferd! Kümmere dich nicht um deinen verletzten Stolz! Hauptsache, DU bist nicht verletzt! Weiter! Der Herr verleiht nur dem den Sieg, der demütig genug ist!“
„Demut! WIE VIEL DEMUT NOCH?!“
„Bruder Jocelin?“
Die Stimme Jean de Saint-Florents riss ihn in die Gegenwart zurück, er senkte seine Klinge und starrte seinen Ordensbruder an. „Was gibt es?“
„Bruder...ich weiß, dass es Eure eigene Angelegenheit ist, aber Ghislaine –“
„Dann belasst es auch dabei!“
„Ich wollte Euch nur–“
„Ich sagte, belasst es dabei! Und LASST MICH ALLEIN!“
Sein Schwert durchtrennte den dünnen Stamm einer jungen Birke. Jean hielt es für besser, ihm nicht weiter in die Quere zu kommen. Ja, es war wohl tatsächlich ein ungünstiger Zeitpunkt! Für Komtur Jocelin, für ihn, und für Ghislaine. Eigentlich war es ein ungünstiger Zeitpunkt überhaupt, um zu leben! Er stieß ein sarkastisches Lachen aus, während er den Rückweg zur Höhle antrat und dabei einen quäkenden Frosch aus seinem Schlupfwinkel scheuchte. Die Tiere hatten es gut, brauchten sich nicht um Gott oder den Teufel zu sorgen!
Angetan mit den Insignien seiner Würde ruhte der Leichnam des Erzbischofs von Sens im Chor der Kathedrale. Die Kanoniker sangen das Totenoffizium, das ab und zu vom Geräusch einer tropfenden Kerze gestört wurde. Von den hochrangigen Gästen, die der Zeremonie beiwohnten, sorgte sich keiner besonders um die ewige Ruhe des Verstorbenen. Weit mehr beschäftigte sie die Frage seines Nachfolgers. Für Enguerrand de Marigny gab es keinen Zweifel, dass ein Mann des Königs  den Erzbischofsthron besteigen musste, zumal jetzt, da sich Papst Clemens in Avignon - auf Reichsgebiet - aufhielt und diese Freiheit ihn vielleicht zu unerwünschten Taten inspirierte! Der neue Erzbischof von Sens musste ein treuer Diener Frankreichs sein, dem an König Philipp mehr lag als an der Kirche, der sich nicht durch fromme Bedenken und allzu viel Mitleid mit den Templern behindern ließ!
Enguerrand de Marigny wusste um den Geeigneten. Er wendete den Blick zu einem milchgesichtigen Mann mit blondem Haarkranz. Marignys junger Bruder Philipp stand leicht vornüber gebeugt, die Hände mit dem Bischofsring über der Brust gefaltet. Man hätte seine Haltung als fromme Ergriffenheit deuten können. Doch Enguerrand bemerkte das begehrliche Lächeln auf den Lippen seines Bruders. Gewiss wanderten Philipps Gedanken in den gleichen Gefilden wie die seinen! Schon vor zwei Jahren hatte er ja Interesse am Thron des Erzbischofs von Sens bekundet. Nun war die Zeit reif...
Einer der Kleriker bekam einen Hustenanfall und der Finanzminister unterdrückte ein Seufzen. Wann bei allen Heiligen Gottes wurden die endlich fertig?! 

Im Turnierhof des Louvre veranstalteten die beiden Knappen Enguerrand de Marignys und drei weitere Jungen ein ausgelassenes Kampfspiel. Yvo de Montfort trat aus dem Arkadengang, entschlossen, sich ihnen zuzugesellen. Aber beim Anblick der hölzernen Übungspuppe verfinsterte sich sein Gesicht. Man hatte ihr einen Templermantel umgehangen. Mit einem wilden Kriegsschrei stieß gerade einer von Marignys Knappen seine Lanze durch das rote Ordenskreuz. Yvo stürmte auf den Jungen zu, riss ihm die Waffe aus den Händen. Im nächsten Moment wälzten sich die beiden im Kampf durch den Sand.
„Lass mich los! Was hab’ ich dir denn getan?”
Yvo sah, dass seinem Gegner die Tränen über die Wangen liefen und ließ von ihm ab. Schniefend stand der Junge auf. Seine Kameraden nahmen ihn in die Mitte. Verhaltene Drohungen gegen Yvo murmelnd, zogen sie ab. Sie wussten, dass es nicht ratsam war, sich mit dem jungen Grafen von Montfort anzulegen. Er war größer und stärker und überdies königlicher Knappe. Yvo wartete, bis er allein im Turnierhof war. Dann zog er den Ordensmantel von der Puppe und floh wie ein Dieb. Gedeckt von hohen Fässern in einem Lagerraum breitete er sein Beutestück aus. Einem plötzlichen Einfall folgend legte er den Mantel um seine Schultern. Lange stand er so, verliebt in seinen eigenen Traum. Da tauchten einige Mägde auf. Hastig wickelte er den Mantel zusammen und verschwand über eine Treppe ins obere Stockwerk.
In diesem Teil des Louvre war er noch nie gewesen. Während er sich umsah, drang durch einen dicken Samtvorhang nur wenige Schritt von ihm entfernt eine leise Stimme:
„...einem der Notare abgenommen...”
Von Neugier getrieben schlich Yvo näher. Er hörte Pergament rascheln.
„...sage Euch, ...darf auf gar keinen Fall gehört werden!”
„...unabhängige Kommission!”
Die weiteren Worte entgingen Yvo, weil der Sprecher auf - und abschritt.
„...dulde es nicht!” vernahm er dann wieder, und nun erkannte er König Philipps Stimme. “Tut, was Ihr für richtig haltet, Sire Guillaume! Kein Templer darf… aussagen!”
Als Yvo klar wurde, von welcher Unterhaltung er Zeuge war, fühlte er Angst in sich hinauf kriechen. Er fuhr herum. Doch nein, niemand hatte ihn beim Lauschen beobachtet! Mit zitternden Knien wankte er in den Turnierhof zurück. Ihm fiel auf, dass der Ordensmantel noch immer in seiner Hand lag.  Kurzerhand stopfte er ihn hinter die aufgeschichteten Strohballen. Er musste nach Fontainebleau! Sire Jocelin musste unbedingt erfahren, was er gehört hatte! Mit diesen Gedanken rannte Yvo zu den Stallungen. Die Pferdeknechte hielten ihn für ein verspätetes Mitglied der kurz zuvor aufgebrochenen Jagdgesellschaft des Thronfolgers und stellten ihm bereitwillig ein schnelles Pferd zur Verfügung. Im Galopp ritt der Junge die Straße hinab. Vor den Werkstätten und Ateliers auf der Brücke drängten sich die Menschen, und er war gezwungen, sein Pferd zu zügeln. Irgendwo hatte offenbar jemand was gestohlen, denn ein kreischendes „Haltet den Dieb, haltet den Dieb!“ gellte durch die Menge.
Ein dürrer Halbwüchsiger mit einem Brot unter dem Arm hetzte gerade an ihm vorbei, stieß gegen einen Mann im Seidenwams und war auch schon in der Häuserzeile hinter der Brücke verschwunden. Yvo grinste in sich hinein. Wenn sie den Dieb fangen wollten, mussten sie schon etwas schneller werden, die Herrschaften!
Da war es ihm, als hätte er mitten in der Menge Jocelins Gesicht gesehen. Dort, neben dem Geistlichen... jener Mann im braunen Kapuzenmantel, der ihm jetzt den Rücken zukehrte... Yvo sprang aus dem Sattel. Mit wenigen Schritten war er neben den beiden Männern und sah, dass er sich nicht geirrt hatte. Und auch den Geistlichen neben ihm hatte er schon einmal gesehen, mit den Ordensbrüdern in Fontainebleau!
„Sire, ich muss Euch was sagen!“ Er griff Jocelin am Ärmel. „König Philipp will die T-”
Blitzschnell verschloss die Hand des Ordensbruders den Mund des Jungen. “Bist du von allen guten Geistern verlassen, Yvo?! Sei vorsichtig mit dem, was du da herausbrüllst!” Er zog den Jungen in eine Straßenecke. “Jetzt! Was ist los?”
„Ich habe etwas gehört, von König Philipp! Es gibt ein Schreiben oder so was, das er einem Notar abgenommen hat, und das Seine Majestät nicht veröffentlichen will! Kein Templer soll aussagen, hat er befohlen!”
„Die Vorladung.” flüsterte der Geistliche, Kaplan Helias, der an diesem Morgen mit Jocelin nach Paris gekommen war. “Das muss die Vorladung der Entlastungszeugen vor die Große Kommission sein! Und Philipp will sie unterdrücken!“
„Ich bin doch Knappe Seiner Majestät! Ich werde das Schreiben aus der Kanzlei stehlen, dann könnt Ihr es bekannt machen!”
„Nein, das wirst du auf gar keinen Fall tun!“ War dieser Junge wahnsinnig? Wenn sie ihn  erwischten, dann auch bald Ghislaine, und sie wusste bei weitem schon zuviel! Das konnten sie sich keinesfalls leisten! „Ich setze mich mit Erzbischof Gregor in Verbindung“, entschied er, ohne noch weiter nachzudenken. „Die Kommission muss eine neue Vorladung erlassen, ohne dass König Philipp darin Einsicht erhält! - Und du Yvo, halte dich um Himmels willen aus dieser Sache heraus!“
Der Junge sah nicht so aus, als würde er den Rat beherzigen, aber Jocelin konnte im Moment nichts dagegen tun.
Der Ausrufer stand vor dem Haupttor der Pariser Universität. Eine beträchtliche Menge Volk hatte seine Stimme bereits angelockt, Volk, das überrascht dem lauschte, was da verkündet wurde.
„...laden wir die Brüder des Templerordens vor, damit sie über alles die volle Wahrheit sagen und selbiger Orden durch geeignete Prokuratoren vor dem Konzil vertreten werden kann... Kraft der Uns verliehenen apostolischen Autorität verlangen Wir, dieses Edikt öffentlich zu verlesen, in allen Kathedralen, Universitäten, Kollegiatskirchen und den Orten, an denen die Templer gefangen gehalten werden... Und gegen jeden, der die Anweisungen dieses Ediktes direkt oder indirekt, öffentlich oder im Geheimen, selbst oder durch andere auf irgendeine Weise zu stören sucht, sprechen Wir mit diesem Schreiben die Exkommunikation aus.”
In den Augen König Philipps glänzte kalter Zorn auf. Diese Drohung richtete sich allein gegen ihn! Er hatte den Krieg schon gewonnen geglaubt und den Feind zu achtlos behandelt... Die Kommission hatte eine zweite Vorladung verfasst und sie hinter seinem Rücken zu veröffentlichen gewagt! Was für eine bodenlose Impertinenz!
Mit einer knappen Handbewegung befahl er den Aufbruch. Auf dem Weg zum Temple stellte er fest, dass es nur wenige waren, die ihm zuwinkten, und ihre Rufe waren lau. Starr geradeaus richtete der König den Blick, auf das Tor der ehemaligen Ordensfestung. Ein ungewohnt kalter Luftzug ließ ihn erschaudern. Konnten sich die Templer noch einmal erheben? Längst ging es Philipp um mehr als um das Gold und die Ländereien des Ordens, um die Beseitigung seiner Macht. Es ging um ihn selbst, um seine Krone! Denn jeder, der den Templern zur Verteidigung verhalf, klagte ihn des Meineides und der Verleumdung an!
Eine knappe halbe Stunde später nahm Guillaume de Nogaret die Nachricht von der neuen Vorladung mit versteinerter Miene entgegen.
„Das ist sein Werk!” murmelte er nur, mit den behandschuhten Fingern auf das Dokument klopfend, was vor ihm lag. Geöffnet hatte er dieses unverschämte Schreiben noch nicht; er musste nicht lesen, was ja schon die Spatzen von den Dächern pfiffen! Der Siegelbewahrer betrachtete es geradezu als persönliche Beleidigung. „SEIN Werk!“ wiederholte er grimmig. König Philipp wusste, wen Nogaret meinte: jenen Anführer der flüchtigen Templer, der allen Häschern bisher immer durch die Finger geschlüpft war. Das Volk dichtete bereits Lieder über ihn. Wer war dieser Mann? Und vor allem, wer half ihm?
Die Tür von Komtur Roberts Zelle wurde aufgerissen. Er fuhr aus dem Schlaf. Im Fackelschein erkannte er einen Wachposten. Neben ihm einen Dominikaner. Eisiges Entsetzten packte ihn. Würde man ihn wieder zur Folter führen?! Dann sah er, wie der Dominikaner ein Pergament entrollte, hörte seine Worte:
“Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, Amen. Wir, Gregor, Erzbischof von Rouen und auf Befehl und Weisung Seiner Heiligkeit Clemens, Vikar Christi und Diener der Diener Gottes, Vorsitzender der Untersuchungskommission gegen den Orden des Tempels in Frankreich, haben kraft der Uns verliehenen Autorität entschieden, dass im gegenwärtigen Verfahren ein jeder Zeuge gehört werden solle...”
Robert fiel auf die Knie. War es wahr, was er da hörte?
„...laden Wir die Brüder des Templerordens vor, damit sie über alles die volle Wahrheit sagen...”
Robert küsste den Saum des Dominikanerhabits. Angewidert wich der Mönch zurück. Der Wachposten senkte seine Lanze zwischen ihn und den Gefangenen.
„Wir haben Euch die Entscheidung der Kommission verkündet“, fuhr der Dominikaner kühl fort. “In einigen Tagen wird Euch ein Notar fragen, ob Ihr vor der Kommission aussagen wollt.”
Er nickte dem Wachposten zu als Zeichen, dass er fertig war und verließ hastig das finstere Gewölbe. Komtur Robert blieb am Boden knien, weinend vor Freude. 

Jocelin schloss die Augen und lehnte sich gegen die Felswand zurück. Mit einem Rascheln rollten sich die Pergamente zusammen, die er vor sich auf einem Rindenstück gehalten hatte. Es war eine Kopie der Vorladung, abgeschrieben nach dem Wortlaut des Textes, den einer der ihren vom Anschlag in Paris angefertigt hatte.
Dem Taumel der Freude über die Vorladung unter den Brüdern in Fontainebleau war bald die Ernüchterung gefolgt. Der Aufruf der Kommission zur Bekanntmachung der Vorladung war Eines, ihre Durchsetzung etwas Anderes.  Denn König Philipp blieb nicht untätig. Er missachtete kühn die angedrohte Exkommunikation. Er setzte sich nicht nur über die Anordnungen der Großen Kommission hinweg, sondern mahnte seine Lehensleute, der “Allerchristlichsten Majestät“ zum Wohle des Reiches die Treue zu halten gegenüber den “verräterischen Prälaten“. Einige Bischöfe und Grafen, denen die gefangenen Templer anvertraut waren, duldeten die Arbeit der freien Ordensbrüder stillschweigend. Doch zumeist gelang es nur durch Bestechung, wenigstens die Verteidigungsaufrufe in die Kerker zu schleusen.
So viele Vorladungen und Petitionen wie möglich kopierten Jocelin und der einzige weitere Schreibkundige unter ihnen, Kaplan Helias. Doch es war einfach nicht genug, sie konnten nicht alle erreichen… Das zu Boden rutschende Schreibbrett weckte den Ordensbruder aus dem Halbschlaf, in den er abgeglitten war. Zum Glück war keines der kostbaren Pergamente in das vor ihm glimmende Feuer gefallen! Sie mussten sich jedes kleine Stückchen Schreibmaterial buchstäblich vom Mund absparen! Er fuhr sich über die Augen und griff nach dem Tintenfässchen. Auch die Tinte ging zur Neige.
Das Geräusch von Schritten ließ Jocelin wieder den Kopf von der Schreibarbeit heben. Es war Bruder Raimond, der gerade in die Höhle schlich, darauf bedacht, niemanden zu wecken und offenbar vor allem, selbst nicht gesehen zu werden.
Jocelin legte das Schreibzeug zur Seite und trat ihm entgegen. „Woher kommt Ihr? Alle haben Order, bei Einbruch der Nacht zurück zu sein! Die Gegend ist zu unsicher!“
„Ich bin ja nicht unbewaffnet. Ich werde so einem kleinen Räuberlein schon die Suppe versalzen, verlasst Euch darauf!“ Mit diesen Worten wollte er vorbei.
„Ich will wissen, wo Ihr wart! Vorige Woche wart Ihr ganze drei Tage weg, und niemand wusste, ob Ihr festgesetzt worden seid!“
„Es geht Euch nichts an, wo ich war! Ich bin NICHT bei der Inquisition durch die Tür marschiert und haben NIEMANDEN angezeigt, das muss reichen!“
Einige der zunächst Liegenden waren aufgewacht, und so zog Jocelin seinen Ordensbruder rasch vor den Eingang der Höhle. „Was heißt, es geht mich nichts an? Ich bin Euer Komtur, Ihr habt mir den Eid geleistet! Ihr seid mir zu Gehorsam verpflichtet!“
„Ach ja?“ Raimonds Augen blitzten kampflustig und er legte die Hand bedeutungsvoll an sein Schwert. „Und? Wollt Ihr mich in den Kerker werfen, weil ich Euch nicht gehorche?! Mir reicht es, wegen jeder Kleinigkeit angefaucht zu werden!“
„Seid vernünftig, Raimond!“
„Oh, ich BIN vernünftig! Ich gönne mir ein bisschen Vergnügen, bevor mich König Philipp verbrennen lässt!“
Jocelin packte den Jüngeren am Gewand und stieß ihn gegen die Felswand. „Ihr bringt unser letztes Geld mit Frauenzimmern durch?!“
„Nein, sie war willig genug, es umsonst zu machen!“ zischte Raimond zurück und suchte sich aus dem Griff seines Ordensbruders zu befreien. „Und überhaupt, legt IHR Euch doch wieder zu der Gräfin von Montfort ins Bett! Sie zahlt dann bestimmt—“
Die Worte endeten in einem Röcheln, weil ihn Jocelins Faust getroffen hatte. Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht und riss mit der rechten Hand seinen Dolch aus dem Gürtel. Jocelin war unbewaffnet, aber wütend genug, trotz allem anzugreifen. Raimonds Dolch schrammte seinen linken Arm entlang, aber ein zweiter Schlag ließ den Jüngeren die Waffe verlieren. Jocelin setzte an, ihn mit einem Tritt in den Magen zu Boden zu werfen, ehe er nach seinem Schwert greifen konnte, doch beunruhigte Stimmen hinter ihm ließ ihn sich umwenden. Raimond nutzte die Gelegenheit, seinen Gegner seinerseits niederzuwerfen.
„Auseinander!“ schrie Jean de Saint-Florent, und er war mit seiner Armbrust bewaffnet, um der Forderung notfalls Nachdruck zu verleihen. „Los, zurück, Raimond! Ihr werdet doch keinen Unbewaffneten massakrieren, oder?“
Zögernd stützte der Angesprochene sich hoch, ließ einen Blick über die unterdessen am Eingang der Höhle Versammelten schweifen.
„Was ist hier passiert?“ fragte Kaplan Helias.
„Nichts!“ stieß Raimond nur hervor und schob seinen Dolch in die Scheide zurück. Dann setzte er hinzu: „Nichts, was irgendeinen was angeht!“ Er warf Jocelin einen zornigen Blick zu und lenkte seine Schritte dorthin, wo die Pferde untergebracht waren. Keine Stunde länger würde er hier verweilen! Er hatte es satt, ganz einfach satt!
„He! Wo wollt Ihr hin?“ Als er nicht antwortete, rannte Jean de Saint-Florent ihm nach. Aber schon saß Raimond auf dem Rücken seines Pferdes, wehrte mit einem Fußtritt einen Bruder ab, der ihm in die Zügel zu greifen versuchte und setzte über den am Boden Liegenden hinweg, hinab in das nachtdunkle Dickicht.
„Wir müssen ihn aufhalten! Was ist, wenn er uns verrät?!“
„Das wird er nicht.“ Jocelin war zu Jean getreten und hatte die Hand auf dessen Armbrust gelegt. „Das wird er nicht tun! Und wir sind keine Mörder! Soweit sollen uns die Schergen des Königs nicht bringen, dass wir uns gegenseitig töten!“