Herbst 1309 – England
Düster klangen die
Glocken von dem mächtigen normannischen Turm der Kathedrale von
Winchester über die Stadt. Der Bischof verließ die Sakristei und
begab sich in sein Palais. Seit Monaten saß er dort der Kommission
gegen die Templer vor. Seine Notare hatten Geständnisse
aufgenommen, dass die Ordensbrüder Gott und die Heiligen
verleugneten, das Kreuz mit Füßen traten und dass der Teufel ihnen
in Gestalt einer Kröte erschien. Freilich, nur wenige Templer waren
unter den Zeugen gewesen. Die Kommissare verhörten Franziskaner,
Dominikaner, Landstreicher, Huren, alle, die sich meldeten. In der
Stadt war es zum Zeitvertreib geworden, üble Geschichten über die
Templer zu erfinden. Der Bischof wusste, dass die knapp zwanzig
Ordensbrüder in seinem Verlies nicht alle Templer seiner Diözese
sein konnten. Ein beträchtlicher Teil musste der Verhaftung
entgangen sein. Vielleicht war dies das Werk der verdächtigen
Franzosen, den man im Frühjahr aufgegriffen hatte. Ihre Befragung
war ergebnislos geblieben. Zwei waren unter der Folter gestorben,
und der dritte... Nun war eigens ein Inquisitor aus Frankreich
gesandt worden, um ihn zu verhören. Kühl begrüßte der Bischof von
Winchester den Konkurrenten im Dominikanerhabit. Dann schritten sie
gemeinsam in den Kerker hinunter. Im Bewusstsein seiner deutlich
zur Schau getragenen Überlegenheit trat der Inquisitor in die
Zelle, die der Bischof ihm bezeichnete. Ein hoher, kaum noch
menschlicher Schrei klang ihm entgegen. In der Ecke des Raumes
kauerte ein Mann. Sein Alter war nicht zu bestimmen. Er war bis auf
die Knochen abgemagert und starrte vor Schmutz.
„Wer bist du?” fragte
der Inquisitor, die Fackel auf den Gefangenen gesenkt. Mit einem
Lachen, das in Schluchzen überging, warf sich der Mann zu Boden.
Der Inquisitor packte ihn, bohrte seinen Blick in Augen, die in
unergründliche Fernen sahen. Er hatte bereits Gefangene erlebt, die
sich irrsinnig stellten, um weiteren Verhören zu entgehen. Er
merkte genau, ob jemand spielte!
„Aus dem wird niemand
mehr ein vernünftiges Wort herausbekommen“, erklärte er und ließ
den Gefangenen los.
Befriedigt, dass auch
der Dominikaner keinen Erfolg erzielt hatte, aber gleichzeitig
ärgerlich, weil er dem Papst gern einen triumphalen Fang
präsentiert hätte, gab der Bischof den zwei Knechten, die ihn
begleiteten ein Zeichen. Die Männer ergriffen den schreienden
Gefangenen und zerrten ihn mit sich aus der Zelle, über den Hof zur
Pforte des Kathedralbezirkes. Einer von den Knechten öffnete die
Torflügel, dann stießen sie den Gefangenen auf die Straße hinaus.
Der kauerte sich zusammen wie ein verängstigtes Tier, drückte sich
gegen die Mauer. Stunden verharrte er so bewegungslos. Plötzlich
aber stand er auf, begann zu laufen, taumelnd, stolpernd, weil ihn
die Beine nicht mehr recht tragen wollten. Es war wie ein Instinkt,
der ihn aus der Stadt trieb. Weit draußen an einer Wegkreuzung
brach er zusammen. Dort fand ihn eine Schaustellertruppe, die mit
ihrem Wagen aus Winchester kam.
„Seht doch den armen
Kerl da!” rief ein junges, rothaariges Mädchen mitleidig. „Bestimmt
hat er Hunger! - Halt doch an, Percy!” Sie nahm eines der kleinen
Brote, die sie in der Stadt gekauft hatte und sprang vom Wagen. Der
ehemalige Gefangene des Bischofs starrte auf das Mädchen mit dem
Brot wie auf ein Wesen aus einer anderen Welt.
„Da, nimm
doch!”
Zögernd streckte er
die Hand aus, griff dann hastig zu.
„Sag, woher kommst
du? Hast du dich verirrt?”
„Der ist stumm,
Kathy!” rief der bunt gewandete Sänger der Gemeinschaft und stieg
seinerseits vom Wagen. „Und nicht ganz richtig im Kopf. Sieh, wie
er dich anstarrt!”
„Bei uns hat man immer
gesagt, die Narren und die Kinder, die sind Gott am nächsten. -
Kommst du aus einem Dorf aus der Gegend? Aus Fainstone vielleicht,
oder Littlebridge?”
„Kathy, komm jetzt,
sonst sind wir bei der Nacht wieder mitten im Wald!”
„Warte doch, Percy! Er
braucht doch Hilfe. Vielleicht... vielleicht versteht er mich nur
nicht.”
„Was bei deiner
Sprache kein Wunder wäre, meine barmherzige Schwester!” warf der
Sänger spöttisch ein. „Aber ich kann es ja mal auf Französisch
probieren. Am Ende ist dieser erbärmliche Lumpenhaufen gar ein
französischer Graf, was, Kathy?”
Mit einer
theatralischen Verbeugung hob er die Stimme: „Alors, Messire d’ou
Vos estés? C’est que
nos aions li plaisir de Vos conduire?”
Im
Gesicht des Mannes zuckte es. Für
einen Augenblick hatten seine Augen einen wachen und beinahe wilden
Ausdruck. Dann sagte er langsam, fragend, als verstünde er selbst
den Sinn des Wortes nicht, das sich in seinem Mund formte:
„Paris.”
„Oho, Paris, o bon
Dieu! - Nun bis Paris können wir dich nicht mitnehmen. Aber bis zur
Küste. - Na los, Kathy, hilf unserem guten französischen Grafen auf
den Wagen.”