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KÖNIG WILFRED BLIEB in der Türöffnung stehen, stützte die Hände in die Hüften und strahlte wohlmeinend in die Versammlung. Er war schätzungsweise Ende zwanzig, groß und kräftig, hatte funkelnde blaue Augen, einen Vollbart, und eine Fülle hellbrauner Locken ergoss sich auf seine Schultern. Hätte er T-Shirt und Jeans getragen, hätte ich ihn keines weiteren Blickes gewürdigt, aber sein Aufzug war es wert, ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Während er so dastand, die Hände in die Seiten gestemmt und den Kopf hoch erhoben, fragte ich mich, ob er den Kleiderschrank von Heinrich VIII. geplündert hatte.
Er trug ein ärmelloses, hermelinbesetztes Surkot – ein Überkleid – aus pflaumefarbenem Samt über einem Goldbrokatkittel mit langen Puffärmeln, einem steifen Spitzenkragen und einem aus silbernen Kordeln geflochtenen Gürtel. Seine stämmigen Beine steckten in einer weißen Strumpfhose mit bestickten Strumpfhaltern über den Knien, und seine erstaunlich zierlichen Füße trugen weiche knöchelhohe Wildlederstiefel. Schwere Goldringe schmückten seine dicken Finger, und eine klobige Goldkette mit einem Rubinanhänger hing um seinen Hals. Auf seinen hellbraunen Locken saß eine glänzende Goldkrone, deren hohe Zacken mit Edelsteinen besetzt waren, die zu sehr glänzten, als dass sie echt sein konnten.
Die Trompeter nahmen ihre federgeschmückten Baretts ab und machten eine tiefe Verbeugung, als er eintrat, während sich der Hofnarr zusammenrollte und wie ein Ball zur einen Seite der Bühne kullerte, wo er sich zu Füßen des erschrocken dreinblickenden Mr Wetherhead kauerte. Der einzige Dorfbewohner, der »sich erhoben« hatte, war Sally Pyne, die auf Befehl der Trompeter aufgesprungen war, ehe sie rasch und heftig errötend wieder ihren Platz einnahm. Der Rest von uns blieb mit offenem Mund sitzen, als wären wir zu Stein erstarrt.
»Heil unserem König Wilfred!«, verkündeten die Trompeter im Chor, während sie sich aus ihrer Verbeugung aufrichteten.
»Bitte schweigt, gute Herolde«, erwiderte der König mit einer lässigen Handbewegung. »Offensichtlich hat Unsere Hoheit die braven Untertanen ihrer Sprache beraubt und ihre Gliedmaßen gelähmt. Deshalb werden wir es ihnen nachsehen, wenn sie die übliche Zeremonie nicht ganz befolgen.«
Der Hofnarr richtete sich auf und hielt ein imaginäres Fernrohr ans Auge, das er durch den Saal schwenkte, ehe er es auf Mr Wetherheads noch immer erschrockenes Gesicht richtete.
»Sieht so aus, als ob niemand stehen würde«, verkündete er, »weder auf Zeremonie noch sonst irgendwie.«
Mr Wetherhead zuckte nervös und machte sich so klein wie möglich auf seinem Stuhl.
»Gut gesprochen, Narr«, sagte König Wilfred und kam mit einem fröhlichen Glucksen in Richtung Bühne. »Und närrisch gesprochen, denn ein Narr darf weise sagen, was ein weiser Mann nicht sagen darf, und weise Männer sagen närrisch, was ein Narr nicht …«
»Calvin Malvern!« Der Name explodierte von Peggy Taxmans Lippen, wie aus einer Kanone geschossen. »Bist du das unter all dem Haar?«
Mit einer schwungvollen Bewegung nahm König Wilfred seine Krone ab und schüttelte die Locken aus seinem runden Gesicht zurück. »Ich bin es, Calvin Malvern, zu Ihren Diensten, Tante Peggy.«
»Ich bin nicht deine Tante, du dämlicher Einfaltspinsel«, donnerte Peggy.
»Ich betrachte dich als meine Tante«, sagte Calvin unbeirrt. »Nach den zahlreichen angenehmen Stunden, die ich als kleiner Junge in deinem Laden …«
»Ich habe dich öfter aus dem Geschäft gejagt, als ich zählen konnte, du Lausbub«, unterbrach Peggy ihn.
»Aber du warst immer erfreut, wenn ich wieder zurückkam«, konterte Calvin mit engelsgleichem Lächeln.
»Wie auch immer, jedenfalls bin ich nicht erfreut, dich hier zu sehen. Wie kannst du es wagen, meine Versammlung zu stören?«
»Vergib mir«, sagte Calvin. »Ich hatte den Eindruck, dass du nach einem ›weiteren Anliegen‹ fragtest.«
»Zu den weiteren Anliegen gehört es bestimmt nicht, dass du hier hereinplatzt wie ein aufgeblasener Lackaffe und poetischen Unsinn von dir gibst«, brummte Peggy. »Was würde dein armer Vater sagen, wenn er dich wie ein aufgeblasener Pfau hier herumstolzieren sehen würde …«
»Er würde denken, dass ich etwas Nützliches mit meinem Leben anstelle.«
»Nützliches?«, sagte Peggy mit einem spöttischen Schnaufen. »Verzieh dich, Calvin. Nimm deine kleinen Freunde und spielt woanders Verkleiden. Die Erwachsenen haben zu tun.« Mr Wetherhead gab ein erschrockenes Quieken von sich, als der Hofnarr auf die Bühne sprang und sich über den Laptop beugte.
»Hohes Gericht!«, rief der Narr und hob den Zeigefinger. »Ich kann in diesen Aufzeichnungen nichts erkennen, was ›weitere Anliegen‹ auf die Vorschläge von langweiligen Burschen in Anzügen beschränkt.« Er deutete mit dem Finger anklagend auf Peggy. »Sie müssen den Pfau schreien, ähm, das heißt, reden lassen!«
Dick Peacock gluckste in sich hinein, und Christine Peacock kicherte, während eine Welle der Belustigung durch den Raum schwappte. Ich saß zu nah bei Peggy, um ein hörbares Lachen zu riskieren, lächelte aber verstohlen, als mich der Blick des Hofnarren traf.
»Wir können uns ja anhören, was Cal zu sagen hat, wo er schon mal hier ist!«, rief Mr Barlow aus dem hinteren Teil des Raums.
»Ja, lasst es uns hören!«, rief Lilian Bunting, die in der vorderen Reihe saß.
»Lasst König Wilfred sprechen«, sagte Miranda Morrow, die ihr rotblondes Haar aus dem mit Sommersprossen gesprenkelten Gesicht zurückschüttelte.
Weitere einvernehmliche Stimmen wurden laut. Während der Großteil der Dorfbewohner für Calvin sprach, starrte Horace Malvern schicksalsergeben auf den Boden und sagte nichts. Es war unmöglich zu sagen, ob er wütend war, peinlich berührt oder einfach nur irritiert angesichts der Possen seines Neffen, doch sein Schweigen ließ erahnen, dass zwischen den beiden nicht gerade eitel Freude herrschte.
Peggys Schweigen war jedenfalls unheilvoll, aber sie war eine erfahrene Politikerin und konnte die Stimmung einer Menschenmenge sehr wohl einschätzen, wenn es ihr beliebte. Also wartete sie, bis die Rufe der Zustimmung zu einem Grummeln abgeebbt waren, legte dann ihr Klemmbrett auf den Tisch und schlug zweimal mit dem Hammer auf, ehe sie die Arme über ihrem beeindruckenden Busen verschränkte.
»Das Präsidium gewährt dir zehn Minuten«, verkündete sie mit einem knappen Nicken zu Calvin.
Calvin verbeugte sich vor ihr und murmelte: »Großzügig wie immer, Tantchen Peggy.«
Gekicher wurde laut, begleitet von einem aufgeregten, erwartungsvollen Summen, wie man es bei einer Maiversammlung kaum je erlebt hatte. Lilian Bunting und ich tauschten amüsierte Blicke, ehe wir unsere Aufmerksamkeit Calvin schenkten. Ich hatte keine Ahnung, was er sagen würde, aber es würde jedenfalls unterhaltsamer sein als Peggys Ausführungen darüber, wie die Pfosten aufzubewahren waren.
Eigentlich hatte ich erwartet, dass Calvin sich die Krone wieder aufsetzte und abermals in die Rolle von König Wilfred schlüpfte, um seine geheimnisvolle Ankündigung zu machen. Doch stattdessen reichte er die Krone dem Hofnarr, der eine Woge des Gelächters einheimste, als er so tat, als wolle er sie Peggy auf den Kopf setzen. Danach sprang er leichtfüßig von der Bühne und ließ sich im Schneidersitz zu Füßen von Charles Bellingham nieder. Calvin wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war, dann begann er mit der kunstvoll modulierten Stimme eines ausgebildeten Schauspielers zu sprechen – oder eines aalglatten Vertreters.
»Meine Freunde«, sagte er. »Haben Sie jemals davon geträumt, eine Zeitreise in die Vergangenheit zu machen? Haben Sie sich je danach gesehnt, in ein Zeitalter zurückzukehren, als das einfache Volk ausgelassen auf dem Dorfanger tanzte, während die hohen Herrn zechten, die Ritter fochten und Troubadoure mit süßer Stimme von ritterlichen Taten sangen? Haben Sie je den Wunsch gehabt, in die Pracht und Herrlichkeit des glorreichen alten Englands einzutauchen?«
Mr Barlow räusperte sich verächtlich. »Glorreiches England, pah!«, sagte er grummelnd. »Das stimmt heute nicht, Cal, ebenso wenig wie damals. Die herrschende Klasse hatte es damals leicht, da stimme ich dir zu, aber die Bauern haben sich zu Tode geschuftet und sind früh gestorben.«
»Haufenweise schreckliche Krankheiten gab es damals«, stimmte Sally Pyne zu. »Keine sanitären Anlagen und mehr als rückständige Vorstellungen, was die persönliche Hygiene betraf.«
»Ratten und Läuse, wohin man auch sah«, sagte Christine Peacock und erschauderte. »Gar nicht zu reden von den Flöhen.«
»Flöhe brachten 1347 den Schwarzen Tod nach Europa«, steuerte Jasper Taxman bei. »In fünf Jahren tötete die Seuche an die fünfundzwanzig Millionen Menschen.«
»Fröhlich war das damals nicht«, meinte Mr Barlow.
»Trotzdem bitte ich, das differenziert zu betrachten«, sagte Jasper. »Die Pest rief einen Mangel an Arbeitskräften hervor, was die Lebensumstände des kleinen Mannes verbesserte. Ein Arbeiter konnte einen höheren Lohn verlangen, weil nur noch wenige übrig waren, um die Arbeit zu verrichten.«
»Das mag so gewesen sein«, erwiderte Mr Barlow hitzig, »doch würde niemand bei klarem Verstand die Zeit des Schwarzen Todes als fröhlich bezeichnen.«
Die Diskussion wäre womöglich noch Stunden so weitergegangen – meine Nachbarn liebten es abzuschweifen –, hätte Calvin nicht wieder die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, indem er einen alten Schauspielertrick anwandte: Er erhob die Stimme.
»Meine lieben Leute!«, brüllte er. Als alle Augen wieder auf ihn gerichtet waren, fuhr er in ruhigem Ton fort: »Es geht mir nicht um die Geschichte. Es geht mir um die Fantasie – den Traum von England, nicht wie es war, sondern wie es hätte sein sollen. Und ich lade jeden von euch ein, diesen Traum mit mir zu teilen. Am ersten Samstag im Juli um genau zehn Uhr vormittags werden sich für euch die Pforten zu einer neuen Welt öffnen. Und der Name dieser Welt wird lauten …«
Er deutete zum hinteren Teil des Raums, wo die Herolde ein Stoffbanner aufrollten, auf dem in schnörkeligen Lettern stand:
König-Wilfred-Kirmes
Wenn Calvin ausgelassenen Applaus erwartet hatte oder einen Chor ehrfürchtiger Seufzer, wurde er gewiss enttäuscht, denn seine packenden Worte wurden mit beharrlichem Schweigen bedacht und einem allgemeinen Ausdruck des Unverständnisses.
Peggy schien für uns alle zu sprechen, als sie rief: »Was um Himmels willen schwafelst du denn da, Calvin?«
»Ich lade euch ein zu einem Erlebnis, das ihr nie vergessen werdet«, antwortete er, unbeeindruckt von Peggys Unverblümtheit und unseren stieren Blicken. »An acht aufeinanderfolgenden Wochenenden im Juli und August werden König Wilfred und seine getreuen Untertanen ein großes Mittelalterfest mit der ihm eigenen Atmosphäre ausrichten: Musikanten werden auftreten, Akrobaten, Gaukler …«
»So ’ne Art Zirkus?«, fragte Sally Pyne hoffnungsvoll.
»Die König-Wilfred-Kirmes wird viel unterhaltsamer als ein Zirkus sein, Mylady«, sagte Calvin, »Ihr könnt, nein, Ihr sollt selbst an dem Spaß teilhaben. Bei unserer Kirmes wird jeder auf der Bühne mitwirken. Hunderte von …«
»Entschuldigen Sie«, unterbrach Jasper Taxman ihn. »Wer ist dieser König Wilfred, von dem Sie die ganze Zeit reden? Kein britischer Monarch hieß je Wilfred.«
»Ich bin König Wilfred.« Calvin verbeugte sich in Richtung Jasper. »Mein Königreich unterliegt nicht den Zwängen der historischen Fakten, guter Mann. Mein Königreich ist ein Fest der Fantasie. Hunderte schillernder Darsteller werden die gewundenen Gassen der Kirmes bevölkern. Alle werden in historische Kostüme gewandet sein, eine altertümliche Sprache sprechen und Euch auf so fabelhafte, wunderbare Weise unterhalten, dass ich es nicht beschreiben kann.« Calvin schritt den Mittelgang auf und ab und gestikulierte heftig mit den Armen. »Artisten werden ihre Geschicklichkeit demonstrieren, Kunsthandwerker ihre Erzeugnisse feilbieten, Zauberer werden ihre Zauberkünste und …«, er zwinkerte übertrieben, »derbe Dirnen ihre Fertigkeiten unter Beweis stellen! Auf unserem Markt wird man in Hülle und Fülle einzigartige handgemachte Kunstwerke finden: Schmuck, Glas-, Töpfer- und Lederwaren und vieles mehr. Marktstände bieten eine reiche Auswahl an Speisen und Getränken an, Gesang und Tanz werden dargeboten, Ihr werdet Euch in ausgelassener Lustbarkeit und Gepränge ergehen. Und täglich könnt Ihr der atemberaubenden Vorführung eines noblen Reiterspiels beiwohnen, in dem sich Ritter hoch zu Ross im Zweikampf üben!«
»Und du erwartest, dass wir da mitmachen?«, fragte Dick Peacock zweifelnd.
»Ich werde bestimmt auf kein Pferd steigen«, sagte seine Frau kategorisch.
»Gott behüte, gute Frau«, sagte Calvin, und sein Blick streifte Christines üppige Gestalt, »aber Ihr könnt einem edlen Ritter Eure Gunst erweisen, wenn es Euch beliebt. Lasst Euch von den Darbietungen unterhalten und kostet von den Speisen, außerdem könntet Ihr in einem mittelalterlichen Kostüm erscheinen.« Er legte einen Finger an die Lippen und musterte Christine kritisch. »Ich stelle mir Euch als adlige Dame des königlichen Hofs vor mit einem rosenfarbenen Wimpel, der Euch umhüllt. Oder als Piratenbraut in hohen Schaftstiefeln und einem um die Hüfte geschnallten Säbel. Oder als Zigeunerin und Wahrsagerin mit goldenen Ohrreifen und sieben Petticoats in sieben verschiedenen Rottönen.«
Christine errötete heftig, wenngleich ihr die Vorschläge nicht zu missfallen schienen. Gleichzeitig wurde der Blick einiger der Frauen in ihrer Nähe träumerisch, als malten sie sich aus, wie sie selbst in hohen Schaftstiefeln und mit einem Säbel um die Hüfte aussehen würden. Calvin hatte offensichtlich eine Saite in ihnen zum Klingen gebracht.
»Es ist Ihnen freigestellt, sich zu kostümieren oder aber in Ihrer normalen Kleidung an dem Spektakel teilzunehmen«, fuhr er jovial fort, indem er sich wieder der Allgemeinheit zuwandte. »Aber wenn Sie sich für ein Kostüm entscheiden, sollten Sie sich nicht allzu sehr um die Detailtreue sorgen. Wir haben den Begriff
›Mittelalter‹ recht großzügig gefasst. Um ehrlich zu sein, alles, was auch nur im Entferntesten an das ausgehende Mittelalter erinnert, wird willkommen sein. Kreativität heißt das Schlüsselwort, also lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf! Oh, hatte ich schon den Streichelzoo für die Kleinen erwähnt?«
Jasper Taxman schnaubte. »Ich bin nicht sicher, ob man kleine Kinder dem Anblick, ähm … derber Dirnen aussetzen sollte.«
»Es ist alles nur Spaß«, versicherte Calvin ihm. »Unsere Darsteller verstehen es, erstklassige, saubere Unterhaltung für die ganze Familie zu bieten, mit der notwendigen Würze wohlgemerkt, und ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung versichern, die Kinder werden sich im Streichelzoo so gut vergnügen, dass sie der Würze keine Beachtung mehr schenken.«
»Wo planst du, diese Kirmes abzuhalten?«, fragte Mr Barlow.
»Nicht weit von Finch«, sagte Calvin, »und deshalb bin ich heute Abend hergekommen. Wir wollen uns mit unseren Nachbarn gut stellen.« Er streckte den Arm in Richtung Mr Malvern aus. »Unser Horace hat uns großzügig erlaubt, den nordöstlichen Teil von Fivefold Farm in Beschlag zu nehmen. Die König-Wilfred-Kirmes wird im und um Bishop’s Wood herum stattfinden. Während der Kirmeszeiten wird es auf der an den Wald angrenzenden Weide ausreichend Parkgelegenheiten geben.«
Mr Barlows Augenbrauen schossen nach oben, während er Mr Malvern einen fragenden Blick zuwarf. Der hielt seinen indessen fest auf den Boden gerichtet.
»Ich sammle im Bishop’s Wood Kräuter«, sagte Miranda Morrow. »Ich kann mich nicht erinnern, dort irgendwelche gewundenen Gassen gesehen zu haben.«
»Im Moment gibt es dort keine Gassen, ganz richtig«, räumte Calvin lächelnd ein. »Die Arbeiten an den Kulissen werden morgen in aller Frühe beginnen. Ich versichere Ihnen, dass kein bleibender Schaden am Wald angerichtet wird. Die Baumaßnahmen werden in zeitlich begrenztem Rahmen stattfinden. Sobald die Kirmes zu Ende ist, werden die Kulissen entfernt.«
»Wie viel kostet der Eintritt für diese Kirmes?«, fragte Jasper Taxman verschmitzt, während er mit den Fingern auf seinen Tischrechner trommelte.
»Es wird tatsächlich Eintritt verlangt werden«, sagte Calvin zögerlich. »Aber gemessen an dem Vergnügen, das Sie und Ihre Lieben auf der Kirmes erwartet, sind neun Pfund für Erwachsene und vier Pfund für Kinder bis zwölf Jahren sicher nicht viel.«
Ein seltsames Geräusch ging durch das Schulhaus, eine Mischung aus enttäuschtem Gemurmel und wütendem Grummeln. Das Gemurmel kam überwiegend von den Frauen, das Grummeln von den Männern.
»Neun Pfund?«, sagte Jasper entsetzt. »Sie erwarten also allen Ernstes, dass ich neun Pfund bezahle, um zuzuschauen, wie Leute in Kostümen rumlaufen?«
»Nein, eben nicht, guter Mann«, sagte Calvin hoheitsvoll. »Ich erwarte, dass Sie neun Pfund für sehr viel mehr bezahlen, und zwar gern. Wenngleich Ihre Zweifel freilich verständlich sind. Schließlich wissen Sie nicht, wovon ich spreche. Deshalb werde ich einen Pakt mit Ihnen und jedem der hier Anwesenden schließen.« Er wandte sich von Jasper ab und der Allgemeinheit zu. Mit erhobener Stimme fuhr er fort: »Wenn Sie nicht vollkommen zufriedengestellt sind mit Ihrem Tag auf der König-Wilfred-Kirmes, werde ich Ihnen persönlich den Eintritt zurückbezahlen.«
»Das klingt doch fair«, sagte Christine überzeugt.
Die Frauen in ihrer Nähe nickten eifrig.
Ein Anflug von Siegesgewissheit mischte sich in Calvins Lächeln, während er von der Bühne stieg, doch wenn er gedacht hatte, alles sei in trockenen Tüchern, so irrte er sich. Die Dorfbewohner machten sich gerade erst warm.
»Das hört sich ja alles ganz interessant an«, meinte Dick Peacock, »aber ich würde gern mehr über das Essen und die Getränke erfahren. Hast du etwa vor, meinem Pub den Garaus zu machen?«
»Das Gleiche könnte ich in Bezug auf meine Teestube fragen«, sagte Sally Pyne.
»Und was ist mit unserem Sommerprogramm?«, ließ sich Peggy Taxman vernehmen. »Es ist so schon schwer genug, die Leute zu unseren Veranstaltungen zu locken. Wie soll das erst werden, wenn alle zur Kirmes rennen?«
Calvin hob beschwichtigend die Hand. »Keine Sorge, gute Leute. Weder Ihre Geschäfte noch Ihre Veranstaltungen werden wegen der Kirmes in Mitleidenschaft gezogen. Im Gegenteil, sie werden davon profitieren. Die König-Wilfred-Kirmes wird mehr Menschen nach Finch ziehen als je zuvor.«
»Was zu Verkehrsstaus führen wird«, bemerkte Mr Barlow düster.
Ehe Calvin sich dem Thema Verkehr zuwenden konnte, begann die Dorfversammlung ihn mit Fragen zu bombardieren. Ob er eine Genehmigung für die Bauvorhaben habe? Ob er eine Alkohollizenz habe? Und eine zum Ausgeben von Speisen? Und was war mit einer Lizenz für den Verkauf von Waren? Hatte das Bauamt des Landkreises sein Projekt genehmigt? Es hagelte so viele Fragen, dass Calvin gar nicht zu Wort kam, obwohl er sichtlich darum bemüht war.
Schließlich holte Mr Malvern tief Luft, stand auf und schrie: »Seid endlich still, und zwar alle!«
»Also wirklich«, sagte Peggy Taxman entrüstet.
»Jetzt hört mal zu«, fuhr Mr Malvern unbeirrt fort. »Calvin hat sowohl grünes Licht vom Bauamt als auch die erforderlichen Lizenzen und Genehmigungen. Die Darsteller werden während der Kirmes in Wohnwagen leben. Diese werden auf meinem Grund stehen, und ja, wir haben auch dafür die Genehmigung des Landratsamtes. Die Hauptzugangsstraße zur Kirmes zweigt direkt von der Oxford Road zum Bishop’s Wood ab, also wird der zusätzliche Verkehrsstrom südlich des Ortes verlaufen. Finch wird zwar von mehr Autos aufgesucht werden als an normalen Wochenenden, aber zu Staus wird es dennoch nicht kommen.«
»Horace Malvern«, sagte Peggy aufbrausend, »du hast kein Recht, uns diese Farce aufzu …«
»Ich habe jedes Recht«, fiel Mr Malvern ihr ins Wort. »Du bist vielleicht die Königin von Finch, Peggy, aber mein Neffe braucht nicht deine Erlaubnis, um auf meinem Land eine Kirmes zu veranstalten. Bishop’s Wood liegt auf meinem Land, und ich werde mit dem Wald nach meinem Gutdünken verfahren. Und wenn du nicht einsehen willst, was die Kirmes Finch Gutes bringen kann, dann bist du ebenso blind wie herrschsüchtig.«
Peggys Nasenflügel blähten sich alarmierend auf. »Wie kannst du es wagen …«
»Selbstverständlich werden wir einen Teil der Erlöse dem Spendenfonds für das neue Kirchendach zukommen lassen«, warf Calvin rasch ein.
»Das hört sich doch großzügig an«, meinte Christine Peacock.
»Ja, äußerst großzügig«, sagten die Frauen um sie herum im Chor.
»Nein, meine Damen« – Calvin legte die Fingerspitzen an die Lippen und warf ihnen eine galante Kusshand zu –, »das Dorf ist großzügig. Ich danke Ihnen, dass Sie mich mit so großer Wärme und Wohlwollen empfangen, und freue mich, Sie alle bei der Kirmeseröffnung willkommen zu heißen – und an weiteren vergnüglichen Wochenenden, die darauf folgen.« Er schnalzte mit den Fingern, woraufhin sein Hofnarr ihm die Krone reichte. Calvin setzte sie sich auf den Kopf und hob zum Abschied eine Hand. »Adieu, gute Leute von Finch. Bis zu unserem Wiedersehen – auf der König-Wilfred-Kirmes!«
»Heil dem guten König Wilfred!«, riefen die Herolde.
Das Paar hob die Trompeten an die Lippen und schmetterte eine weitere Fanfare, um dann Calvin zu folgen, der den Mittelgang hinab zum Ausgang des Schulgebäudes schritt, im Schlepptau den purzelbaumschlagenden Hofnarren. Mr Malvern stand auf und verließ ebenfalls das Gebäude, nicht ohne in der Tür stehen zu bleiben und ein abschließendes Wort an die Versammlung zu richten.
»Es ist beschlossene Sache«, sagte er barsch. »Dachte nur, dass ihr es wissen solltet.« Mit Schwung setzte er sich die Tweedkappe auf den Kopf, drehte sich auf dem Absatz um und war draußen.
Für einen Moment herrschte Stille. Manche rieben sich das Kinn, andere sahen geflissentlich zur Decke. Die eine oder andere Frau befühlte ihre Polyesterbluse und zog nachdenklich die Stirn kraus.
»Für mich hört es sich gut an«, meldete sich Miranda Morrow schließlich zu Wort. »Außerdem wird die Kirmes an den Wochenenden Besucher in unser Dorf führen.«
»Im Pub könnten wir gut ein paar zusätzliche Gäste gebrauchen«, meinte Dick Peacock.
»Ich hätte auch nichts dagegen, wenn in meiner Teestube ein paar mehr Tische besetzt wären«, schaltete sich Sally Pyne ein.
»Die brauchen vielleicht auch Fleisch und Gemüse für ihre Essensstände«, sagte Burt Hodge, ein Farmer.
»Frische Eier sind immer willkommen«, meinte Annelieses Mutter, deren Hühner dafür bekannt waren, dass sie eifrig Eier legten.
»Touristen haben ab und zu einen Platten«, bemerkte Mr Barlow. »Und überhitzte Kühler. Ein Mechaniker findet zwar immer Arbeit, aber er wäre dumm, sich zu beklagen, wenn die Arbeit zu ihm kommt.«
»Es versteht sich von selbst, dass der Pfarrer und ich den Spendenerlös der Kirmes sehr gut für das neue Dach gebrauchen könnten«, sagte Lilian Bunting.
»Die König-Wilfred-Kirmes würde den Bekanntheitsgrad von Finch erhöhen«, ließ sich Charles Bellingham schüchtern vernehmen.
»Wir sind bekannt genug«, sagte Peggy. »Die Kirmes wird unseren Sommerveranstaltungen Konkurrenz machen, unsere Straßen verstopfen und unerwünschte Personen in unser Dorf bringen. Etwas Gutes wird jedenfalls nicht dabei herauskommen.«
Jasper Taxman nahm seinen ganzen Mut zusammen und widersprach seiner Frau: »Die Kirmes könnte den Umsatz des Kaufhauses erhöhen, Peggy. Touristen brauchen immer das eine oder andere, und du hast schließlich alles in deinem Laden.«
Der Widerspruch, den Peggy auf den Lippen gehabt hatte, wurde im Keim erstickt.
»Glaubst du wirklich, Jasper? Glaubst du wirklich, dass das Emporium von diesen … diesem kindischen Unsinn profitieren könnte?«
»Ja, das tue ich«, sagte Jasper bestimmt. »Im Übrigen finde ich, dass wir uns demnächst einmal mit Calvin Malvern zusammensetzen sollten. Wenn wir einen Stand auf seiner Kirmes mieten, könnten wir …«
Jasper lehnte sich zu seiner Frau hinüber, um sich leise mit ihr zu besprechen, während sich plötzlich der ganze Saal aufgeregt unterhielt. Alle redeten gleichzeitig und es war schwierig, einzelne Gespräche zu verstehen, aber ein paar Redefetzen drangen dennoch an mein Ohr:
»… spannend …«
»… farbenfroh …«
»… Petticoats …«
»… Stiefel …«
»… Ritter …«
»… ritterlicher Zweikampf …«
Während im Schulhaus alle unkontrolliert durcheinanderredeten, hörte Peggy aufmerksam Jasper zu. Als er mit seinen Ausführungen fertig war, presste sie die Lippen aufeinander und nickte entschlossen. Sie schien das Stimmengewirr im Raum gar nicht wahrzunehmen, bis sie den Blick in die Versammlung richtete. Statt die Dorfbewohner zur Ordnung zu rufen, beendete sie die Zusammenkunft kurzerhand mit drei Hammerschlägen auf den Tisch. Dann warf sie mir die Einsatzpläne für die Sommerveranstaltungen zu, sammelte ihre Notizen zusammen, gab Jasper ein Zeichen, ihr zu folgen, und rauschte durch den Mittelgang zur Flügeltür hinaus.
Ich ging durch die Reihen, um pflichtschuldig die Pläne zu verteilen, und beobachtete erstaunt, wie sie unbeachtet in Jackentaschen oder Handtaschen verschwanden. Niemanden schien es zu interessieren, ob er für den Reinigungstrupp eingeteilt war oder beim Teekessel-Polier-Team. Gedanken an das gegenwärtige Finch waren offensichtlichen Träumen vom guten alten England gewichen. Die Maiversammlung war nicht mit dem üblichen deprimierenden Schlusstakt zu Ende gegangen, sondern in einer Stimmung schwindelerregender Erwartung.
Zu diesem Zeitpunkt konnten wir es noch nicht wissen, aber die Invasion von Finch hatte begonnen.