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ICH HÄTTE NICHT sagen können, wer am nächsten Morgen aufgeregter war – die Zwillinge oder ich. Bei Tagesanbruch stand ich auf und war voller Tatendrang, während die Zwillinge müde hinter mir hertrotteten. Wir hatten schon unseren Porridge gegessen, als Bill die Treppe herunterkam und sich zu uns an den Frühstückstisch setzte. Eine Weile lang beobachteten wir ihn beim Essen, konnten aber unsere Ungeduld kaum verbergen. Um Will und Rob davon abzuhalten, ihren Vater zwangsweise zu füttern, scheuchte ich sie aus der Küche, damit sie mir halfen, den Range Rover zu beladen.
Ich schickte sie mit Bills Rucksack zum Wagen, den ich mit allem bestückt hatte, von dem ich dachte, dass die Jungen es unterwegs brauchen könnten: Sonnenschutzcreme mit extrem hohem UV-Filter, Regencapes, warme Pullover, Snacks für zwischendurch, Mineralwasserflaschen, ein Paar extra Schuhe für die Zwillinge und einige weitere Kleinigkeiten. Ein kurzer Blick zum wolkenlosen Himmel sagte mir, dass die Sonnencreme wahrscheinlich eher zum Einsatz kommen würde als Pullover und Regencapes, doch ich hatte oft genug am eigenen Leib erfahren, wie trügerisch schönes Wetter in England bisweilen war, da es sich im Handumdrehen in ein Unwetter verwandeln konnte.
Während Rob und Will den vollgestopften Rucksack zum Wagen schleppten, verstaute ich ihre Kostüme in einem Kleidersack, wo sie geschützt waren, bis die Jungen sie auf der Kirmes anziehen würden. In der Nacht hatte ich beschlossen, zusätzlich zu ihren schwarzen Reithosen und Stiefeln die Tunikas einzupacken, die Sally Pyne für sie genäht hatte. Strumpfhosen und weiche Lederschuhe dazu wären zwar authentischer gewesen, aber Breeches würden im Sattel bequemer sein und Reitstiefel sicherer.
Sally hatte sich bei den Tunikas selbst übertroffen. Robs Gewand war dunkelblau und hatte einen Gürtel mit einem wunderschönen keltischen Muster in Silber, einen Stehkragen und weite Manschetten. Wills Tunika war scharlachrot und der dazu passende Gürtel mit Goldstickerei verziert. Die Jungen hatten sich geweigert, mir ihre Kostüme vorzuführen – ich sollte sie tatsächlich erst zu sehen bekommen, wenn sie im Sattel ihrer ebenfalls verkleideten Ponys bei der Parade erschienen –, doch Sally hatte mir versichert, dass ihr Aufzug den Söhnen einer Adelsfamilie äußerst angemessen sei. Ihre Worte hatten mir ungemein geschmeichelt. In meinen Augen waren meine Söhne schon immer kleine Prinzen gewesen, und so fand ich es nur logisch und angebracht, dass sie sich als solche verkleideten.
Ich warf einen letzten zufriedenen Blick auf die Tunikas, dann verschloss ich den Kleidersack und eilte damit hinaus zu den Jungen, denen es gelungen war, den Rucksack in den Kofferraum des Rovers zu hieven. Sie waren bereits wieder auf dem Rückweg zur Küche, entschlossen, ihren Vater vom Frühstückstisch wegzuzerren, als er aus dem Cottage trat, in Baseballkappe, Poloshirt, Khakishorts und Turnschuhen.
»Warum seid ihr nicht im Wagen?«, fragte er die Jungen mit gespieltem Erstaunen. »Ihr wollt doch nicht zu spät kommen, oder?«
Will und Rob kletterten rasch in den Rover. Ich schnallte sie in ihren Kindersitzen an, küsste sie zum Abschied und ermahnte sie, sich zu benehmen. Ich war drauf und dran, ihnen einen kleinen Vortrag über Sicherheitsvorkehrungen beim Reiten zu halten, als Bill ein leises Pfeifen von sich gab. Ich blickte mich zu ihm um und sah ihn am Kofferraum stehen, wo er den Rucksack in den Händen wog.
»Ich hoffe, du hast nicht vergessen, die Küchenspüle einzupacken«, sagte er. »Für den Fall, dass wir König Wilfreds Geschirr spülen müssen.«
»Ich hab doch gewusst, dass ich was vergessen habe«, sagte ich und schnippte mit den Fingern. »Warte, ich hol sie schnell.«
»Lass mal«, sagte Bill lachend, »die beiden Herrn und meine Wenigkeit müssen sich sputen. Wir sehen dich in …«, er warf einen Blick auf seine Uhr, »ungefähr drei Stunden.« Er machte die Kofferraumtür zu und rief: »Auf geht’s, Ritter des Königreichs! Eure Rösser warten auf euch!«
Ich rannte ihnen bis zur Einmündung der Einfahrt in die Straße nach, um zu winken. Dabei fühlte ich mich wie ein Burgfräulein, das allein zurückblieb, um in der Burg Staub zu wischen, während die Männer zu einem Kreuzzug aufbrachen. Als der Rover um die erste Kurve verschwand, kehrte ich in die Küche zurück, um das Frühstücksgeschirr zu spülen. Dann ging ich in den Garten hinaus, um sehnsuchtsvoll in Richtung Bishop’s Wood zu spähen.
Die Luft war erfüllt von vertrauten Geräuschen – Vogelgesang und dem Rauschen der Blätter –, doch jenseits des Zaunübertritts herrschte Stille. Im Gegensatz zu meinen Söhnen – und, um ehrlich zu sein, auch zu mir – schien Jinks dem Schlaf nach Sonnenaufgang zu frönen.
Die Bauarbeiter indes waren schon auf. Als ich mich wieder zum Cottage umdrehte, wehte ein morgendliches Lüftchen das entfernte Reibgeräusch einer Handsäge an mein Ohr. Jemand, so schien es, legte an einer Kulisse allerletzte Hand an. Ich fragte mich, ob er an der dreistöckigen Wasserburg oder dem gigantischen feuerspeienden Drachen arbeitete, sagte mir jedoch, dass ich es bald herausfinden würde, und ging voll prickelnder Erwartung ins Cottage zurück.
Du bist bestimmt sehr stolz auf Dich, Lori.
Lächelnd betrachtete ich die blaue Handschrift. Ich hatte beschlossen, ein paar Minuten im Arbeitszimmer zu verbringen, bevor ich zur Kirmes ging, und Tante Dimitys Lob gab mir das Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Im vergangenen Monat hast Du eine für Deine Verhältnisse beispiellose Selbstbeschränkung an den Tag gelegt, meine Liebe. Die alte Lori wäre zwei Mal am Tag mit einem leistungsstarken Fernglas auf den Pouter’s Hill geklettert, um das Baugelände von Bishop’s Wood zu erkunden, doch die neue Lori hat erfolgreich ihre Neugier unterdrückt.
»Ja, das stimmt«, sagte ich mit stolzgeschwellter Brust.
Du hast auch dem Drang widerstanden, über den Zaunübertritt zu spähen, um Deinen interessanten neuen Nachbarn zu beobachten.
»Ich bin ja schließlich kein Voyeur.«
Natürlich bist Du das nicht. Aber Du bist ein trainiertes’ und talentiertes Mitglied der Wichtigtuer-Gesellschaft von Finch. Als solches hätte ich eigentlich von Dir erwartet, dass Du über die Aktivitäten von Mr Jinks immer auf dem Laufenden bist. Du hast mich jedoch eines Besseren belehrt.
»Danke«, sagte ich.
Und schließlich hat die neue Lori ihre Impulsivität bezwungen, während die alte Lori ihr mittelalterliches Gewand getragen hätte, ohne auch nur einen Augenblick die Folgen zu bedenken.
Mein Blick glitt an meinem apfelgrünen Sommerrock zu den Sandalen hinab, und ein Anflug von Bedauern überkam mich, als ich an das Kostüm in meinem Schrank dachte. Nachdem Sally mir gezeigt hatte, wie ich es tragen musste, hatte ich es mindestens ein Dutzend Mal anprobiert. Zuerst kam das langärmlige Baumwollunterhemd, dann das Unterkleid, dann der Rock und die Schürze, und dann wurde das fest sitzende Mieder geschnürt, der Ledergürtel um die Hüfte geschnallt und die Wulsthaube richtig auf den Kopf gesetzt. Ein Paar kniehohe weiße Strümpfe und braune flache Wildlederschuhe komplettierten das Ensemble. Ich hatte das Ankleiden so oft geübt, dass ich in weniger als fünfzehn Minuten damit fertig war. Doch das Ergebnis hatte ich Bill noch nicht vorgeführt. Wie die Zwillinge wollte ich warten, bis ich mich in geeigneter Kulisse in meinem neuen Aufzug präsentieren konnte.
»Ich bin nicht gerade begeistert davon, in meinem Alltagsaufzug zur Kirmes zu gehen«, gab ich zu. »Ich liebe mein Bäuerinnengewand.«
Die Farben, die Sally ausgewählt hatte, waren zugegebenermaßen ziemlich fade – Unterhemd und Schürze waren grau-weiß, das Unterkleid war jagdgrün, der Oberrock rostbraun und das Mieder grau-blau –, dennoch konnte man das Kostüm nicht als langweilig bezeichnen. Obwohl die umfangreichen Röcke lang genug waren, um meine Fesseln zu verbergen, verlieh mir das Mieder eine Figur, wie ich sie nicht mehr gehabt hatte, seit die Zwillinge angefangen hatten, feste Nahrung zu sich zu nehmen. Und der Halsausschnitt des Unterkleids war so tief, dass ich mit einem Mal völlig neue Stellen entdeckt hatte, die ich mit Sonnencreme versehen musste. Ich war mir nicht sicher, wie Bill reagieren würde, wenn er so viel von seiner Frau ausgestellt sah – wie auch immer, ich fand mich ziemlich anziehend in dem neuen Gewand.
Ich bewundere Deine Entschlossenheit, Lori. Während ich meinen Gedanken nachhing, hatte sich Dimitys Handschrift weiter über die leere Seite gekringelt. Gewiss ist es ärgerlich, dass Du Dich noch ein wenig gedulden musst, bis Du Dein historisches Gewand tragen kannst. Aber Deine Entscheidung, Dir die Kirmes erst einmal anzusehen, ist zweifelsohne vernünftig. Ich kann vorbehaltlos sagen, dass ich die vorsichtige, nüchterne Herangehensweise, die Du in dieser Angelegenheit an den Tag legst, ebenso gut von Emma Harris erwarten würde.
»Ehrlich?«, sagte ich erfreut.
Ehrlich und wahrhaftig.
»Du hast meinen Tag gerettet, Dimity.« Ich blickte zur Kaminuhr und lächelte. »Ich geh dann mal.«
Ich wünsche Dir einen wunderschönen Tag, meine Liebe.
»Den werde ich bestimmt haben.«
Ich schlug das blaue Buch zu und legte es an seinen Platz im Regal zurück. Dann machte ich einen Knicks in Richtung Reginald, ehe ich in die Diele eilte, Stanley einen Gruß zurief und im Vorbeigehen an der Garderobe meine Umhängetasche ergriff. Es war genau 9 Uhr 15, als ich in den Mini stieg. Obwohl die Fahrt zum Bishop’s Wood höchstens zehn Minuten dauerte, konnte es nicht schaden, wenn ich frühzeitig dort war, sagte ich mir. Davon abgesehen hatte ich das Rumsitzen satt.
Unglücklicherweise musste ich länger als üblich warten, ehe ich rückwärts aus unserer Ausfahrt biegen konnte, passierten doch ungewöhnlich viele Autos die kleine Straße, die an unserem Grundstück entlangführte. Einige gehörten Nachbarn, die mir zuwinkten, doch in mindestens einem Dutzend saßen sonnengebräunte Fremde bei plärrender Radiomusik und mit schreienden Kindern auf den Rücksitzen. Da die Nebenstraße auf den meisten Karten nicht einmal eingezeichnet war, wunderte ich mich, dass so viele auswärtige Autofahrer sie benutzten. Womöglich hatte Mr Barlow recht gehabt, sagte ich mir. Vielleicht würde die Kirmes Verkehrsprobleme im Dorf mit sich bringen. Einen Augenblick verspürte ich Besorgnis, doch dann lachte ich.
»Du lebst schon zu lange auf dem Land, Lori Shepherd«, sagte ich zu meinem Bild im Rückspiegel. »Sechs Autos machen noch keinen Stau.«
Ich schüttelte den Kopf, weil ich so töricht gewesen war, stieß vorsichtig rückwärts in das Sträßchen und drückte aufs Gas. Als Letzte wollte ich nicht eintreffen.
Als ich an der Oxford Road das Schild erblickte, das auf die Abzweigung zur Kirmes verwies, hob sich meine Stimmung noch mehr. Die Plakatwand war drei Meter hoch und bestimmt vier Meter breit, und die leuchtend roten gotischen Lettern wurden eingerahmt von zwei herrlich blutrünstigen Abbildungen – einem furchterregenden schwarzen Drachen und einem sich aufbäumenden Einhorn.
König-Wilfred-Kirmes
Öffnungszeiten: Sa. & So.
Juli & August
10 Uhr bis 17 Uhr
www.königwilfredkirmes.com
Über die Website-Adresse musste ich lächeln, nahm ich doch an, dass es Calvin Malvern besonders mit Stolz erfreute, sein »Ren-Fest« in die Reihe jener großer Mittelalterfeste stellen zu können, die ihn zu seinem Traum inspiriert hatten. Die grellen Abbildungen gaben mit indessen das Gefühl, als würde ich für meine Geduld belohnt werden – als verhießen der grimmige Drache und das edle Einhorn großartige Überraschungen.
Ich bog nach links ab und folgte dem Pfeil auf einer neu angelegten unbefestigten Sandstraße, bis eine junge Frau mit stacheligen Haaren, in einer enttäuschend neuzeitlichen Jeans und einem langweiligen weißen T-Shirt mich auf eine von Malverns Kuhweiden lotste, die zu einem Parkplatz umfunktioniert worden war. Als ich die vielen Autos sah, wünschte ich mir, ich hätte mich früher auf den Weg gemacht.
Ich hatte es so eilig, zur Kirmes zu gelangen, dass ich beinahe vergessen hätte, den Mini abzuschließen. Zu Hause oder in Finch ließ ich ihn immer unverschlossen, aber der Anblick der unzähligen unbekannten Wagen gemahnte mich daran, dass ich nicht länger nur von Menschen umgeben war, die ich kannte und denen ich vertraute.
Vom Parkplatz aus sah ich, dass der Bishop’s Wood von einem drei Meter hohen hölzernen Sicherheitszaun umgeben war, der zweifellos dazu diente, Schmarotzer fernzuhalten, die sich das Eintrittsgeld sparen wollten. Das aufsehenerregendste Bauwerk der Kirmes erblickte ich erst, als ich die Gruppe von etwa hundert Schaulustigen erreicht hatte, die auf Einlass warteten. Calvin Malverns Bautrupps hatten weder eine Wasserburg noch einen feuerspeienden Drachen errichtet, sondern hervorragende Arbeit geleistet, indem sie ein großartiges mittelalterliches Torhaus nachempfunden hatten.
Die eindrucksvolle Konstruktion war mit farbenprächtigen Bannern geschmückt; nach oben hin schloss sie mit einem mit Zinnen versehenen Wehrgang ab und wurde flankiert von zwei viereckigen Türmen, die an die zehn Meter hoch und ebenfalls bezinnt waren. Auf mittlerer Höhe beider Türme war je eine Tür eingelassen, die Zugang zum Wehrgang bot, und von den Türmen wehten Flaggen, was darauf schließen ließ, dass ihre Plattformen durch Falltüren erreichbar waren. Ebenerdig waren drei breite Tore mit Rundbögen nebeneinander in das Torhaus eingelassen, und darüber hing ein vergoldetes Holzschild, auf dem in roten und blauen gotischen Lettern stand: HAUPTTHOR.
Ich nahm an, dass das Torhaus aus Sperrholz und Gips errichtet war, doch die kunstvoll gefertigten Oberflächen mit ihrer täuschend echten Struktur waren bemalt und sahen aus wie grob behauener Stein, und die Türen schienen aus massiver Eiche zu bestehen. In der Luft hing noch der Geruch nach frischer Farbe und Sägemehl, der davon zeugte, dass die Bauarbeiten gerade erst abgeschlossen worden waren.
Obwohl die drei »Hauptthore« noch fest verschlossen waren, hatte das Unterhaltungsprogramm bereits begonnen. Ein Jongleur, ein Lautenspieler und eine Frau mit einer Riesenschlange um die Schultern standen auf dem Kieselvorplatz des Torhauses. Alle drei trugen historische Gewänder und unterhielten das wartende Publikum mit geistreichen Sprüchen und schlagfertigen Repliken, sodass die Schaulustigen immer wieder in Gelächter ausbrachen. Während ich die Schlange betrachtete und daran dachte, wie gern Rob und Will sie gestreichelt hätten, trat Lilian Bunting neben mich.
»Ist das nicht aufregend?«, fragte sie, und ihre grauen Augen leuchteten.
»Bisher ist es nicht schlecht«, antwortete ich. »Calvin muss eine riesige Werbekampagne gestartet haben. Ich hätte nicht erwartet, dass schon am Eröffnungstag so viele Menschen kommen.«
»Hast du die vielen Autos bemerkt, die heute Morgen auf eurer Straße unterwegs waren?«
»Ich kam nicht umhin, sie zu bemerken. Ich bin es nicht gewohnt, in beide Richtungen zu blicken, bevor ich aus der Ausfahrt fahre.«
»Du wirst dich daran gewöhnen müssen«, meinte Lilian. »Ich bin sicher, dass die Tagesausflügler eure Straße als Abkürzung benutzen werden. Außerdem wohnen einige Darsteller im Dorf und werden an den Wochenenden auf dem Weg zur Arbeit an eurem Cottage vorbeifahren.«
»Seit wann wohnen einige der Darsteller im Dorf?«, erkundigte ich mich überrascht.
»Seit gestern. Sally hat ihr Gästezimmer an einen Zauberkünstler vermietet, in den Zimmern über dem Pub der Peacocks wohnen zwei Jongleure, und die beiden neuen Bewohner des Crabtree Cottage beherbergen einen Pantomimen.«
»Wenn du mich fragst, dann haben Grant und Charles die beste Wahl getroffen«, sagte ich. »Ein Pantomime ist der ideale Gast. Man merkt kaum, dass er da ist.«
»Wie wahr.« Lilian sah zu, wie der Jongleur in einen der Äpfel biss, mit denen er jonglierte, und fügte dann wehmütig hinzu: »Es gibt Zeiten, da wünschte ich, ich hätte einen Milchmann geheiratet statt einen Pfarrer. Mir ist schleierhaft, wie ich mich morgen auf Teddys Predigt konzentrieren soll, wenn ich daran denke, was ich hier verpasse. Ich fürchte, wir werden diesen Sommer einen Rückgang an Kirchenbesuchern verbuchen, was sich auch auf den Klingelbeutel auswirken wird.«
»Vielleicht wird König Wilfreds Spende fürs Kirchendach den Verlust wettmachen«, sagte ich.
»Das kann man nur hoffen. Hast du schon eine Eintrittskarte gekauft?«, fragte sie. Als ich den Kopf schüttelte, deutete sie auf einen Schalter, der linkerhand vom Torhaus in den Zaun eingelassen war, und erklärte: »Dort ist der Kartenschalter.«
Ich dankte ihr für den Hinweis und eilte hinüber, um bei einem vollbusigen Mädchen in einem Gewand nicht unähnlich meinem mein Eintrittsgeld zu entrichten.
»Willkommen, Mylady«, sagte sie. »Seid Ihr von weit her gereist an diesem schönen Morgen?«
»Ich wohne gleich um die Ecke.«
»Mögen all Eure Reisen kurz und frei von Kummer sein.« Sie reichte mir das Wechselgeld und etwas, was aussah wie eine Werbebroschüre. Sie deutete mit einem Kopfnicken darauf und erklärte: »Ein Programmheft mit einem Lageplan, Mylady, für diejenigen, die gern wissen wollen, wo sie sich befinden, wo sie waren und wo sie noch hinwollen. Wenn Ihr das lieber nicht wissen wollt, steckt es einfach in Euren Beutel …«, sie deutete auf meine Umhängetasche, »und verbannt es aus Euren Gedanken.«
»Danke«, sagte ich und ließ das Programmheft zusammen mit dem Restgeld in meine Tasche gleiten.
Als ich wieder zu Lilian Bunting trat, hatte sich ein stattliches Grüppchen von Dorfbewohnern um sie gesellt. Wie Bill prophezeit hatte, trugen sie alle Alltagskleidung, doch ihr Blick verhieß, dass ihre Aufmachung beim nächsten Kirmesbesuch weniger zurückhaltend sein würde.
»Schwebt dir schon ein Kostüm vor?«, fragte ich Lilian.
»Es hängt bereits eines in meinem Schrank«, sagte sie. »Ich werde als Äbtissin gehen. Damit möchte ich den klugen, mächtigen Frauengestalten des Mittelalters Respekt zollen. Und du?«
»Als Bäuerin. Damit zolle ich Sally Pyne Respekt, weil sie mich in ihr heillos überfülltes Auftragsbuch reingequetscht hat.«
»Ich glaube, Bäuerinnen heißen auf der Kirmes Bauernmaid«, sagte Lilian. »Ist das nicht herrlich? Ich habe mich bemüht, Teddy zu überreden, als Mönch zu kommen, aber er hat sich geweigert.«
»Bill ist der Nämliche.« Wir seufzten im Chor.
Das Schmettern einer Trompetenfanfare übertönte unser Seufzen und brachte das plappernde Volk zum Schweigen, das seit meiner Ankunft noch merklich angewachsen war. Die drei Darsteller – vier, wenn man die Schlange mitrechnete – zogen sich durch die drei Tore zurück, und an die hundertfünfzig Gesichter blickten nach oben, als König Wilfreds Herolde auf dem östlichen Turm erschienen und damit meine Vermutung bestätigten, dass es in der Tat einen Zugang zu den Türmen gab.
Die Herolde trugen dieselben roten Wappenröcke wie bei der Maiversammlung und bliesen dieselbe Fanfare. Ich fragte mich flüchtig, ob es womöglich die einzige Melodie war, die sie kannten, doch im nächsten Augenblick wurde meine Aufmerksamkeit zum Westturm gelenkt, auf dem Jinks in seinem Hofnarrenkostüm stand und die Herolde nachäffte, indem er seine imaginäre Trompete wie ein ekstatischer Jazzmusiker blies. Als die Herolde ihre Trompeten sinken ließen, nahm er Haltung an.
»Seht her, brave Leute!«, riefen sie. »Lord Belvedere, der Majordomus des Königs, ist im Anzug.«
Ein graubärtiger Mann in einem mit Goldfäden durchwirkten smaragdgrünen Samtwams und in dunkelblauer Strumpfhose trat aus der kleinen Tür im Westturm und in die Mitte des bezinnten Wehrgangs, begleitet von sechs identisch gekleideten Höflingen, die sich in verschiedenen Posen um ihn herum aufbauten.
Jinks, der hoch über ihnen und somit außerhalb ihres Blickwinkels stand, fuhr fort, ihre Haltung und Gebärden nachzuahmen, und zwar sowohl auf bemerkenswert naturgetreue als auch drollige Weise. Obwohl sie das Bimmeln seiner Schellenkappe hören mussten, taten sie, als wäre er nicht da, was seine Pantomime noch komischer erscheinen ließ.
»Einen guten Morgen, liebe Leute«, sagte Lord Belvedere, der die Stimme erhob, um das Kichern der Menschenmenge zu übertönen. »Ich, Lord Belvedere, danke euch im Auftrag unseres geliebten Monarchen, König Wilfreds des Guten, dass ihr uns heute mit eurer Gegenwart beehrt. Auf unserer Kirmes erwarten euch Wunder und Lustbarkeiten, wie ihr sie nie zuvor erlebt habt, ebenso wie Speisen und Getränke, die eines Königs – oder einer Königin – würdig sind!«
Einige Frauen johlten zustimmend, alle lachten fröhlich.
»Um zwei Uhr«, fuhr Lord Belvedere fort, »wird auf dem Turnierplatz Seiner Majestät ein Ritterturnier stattfinden. Ich bitte euch, lauscht jetzt meinen Worten, wenn ich euch die mächtigen Krieger vorstelle, die sich den Gefahren eines berittenen Gefechts aussetzen. Begrüßt als ersten ganz herzlich …«, er drehte sich nach links und vollführte eine ausladende Handbewegung in Richtung der kleinen Tür im Ostturm, »Sir Peregrine den Reinen!«
Ein großer, breitschultriger Mann mit einem hübschen, glatt rasierten Gesicht und schulterlangem blondem Haar schritt über den Wehrgang. In Kettenhemd und Brustharnisch gekleidet, trug er auf dem linken Arm einen Schild, und die rechte Hand ruhte auf dem Heft seines Schwerts. Sein Brustharnisch glänzte in der Morgensonne, und sein Schild war mit der Abbildung eines sich aufbäumenden Einhorns geschmückt. Als er sich in männlicher Pose neben Lord Belvedere aufbaute, rief Jinks laut Hurra, und die Menge stimmte augenblicklich ein. Sir Peregrine bedachte den Beifall der Zuschauer mit einem mehrmaligen galanten Nicken.
Lord Belvedere wartete, bis das Hurrageschrei abebbte, um dann eine ausladende Armgeste zum Westturm zu beschreiben. »Und hier ist … Sir Jacques de Poitiers, der Drachenritter!«
Ein kleiner, stämmiger Mann mit kohlschwarzen Augen, langem dunklem Haar, einem dünnen Schnauzbart und einem spitzen Kinnbart trat aus der schattigen Tür des Turms und schritt über den Wehrgang. Sein Brustharnisch war zinnfarben, und sein Schild zeigte einen feuerspuckenden schwarzen Drachen. Während er sich gegenüber Sir Peregrine aufbaute, stieß Jinks ein lautes »Buh« aus, was ebenfalls begeistert von der Menge aufgenommen wurde. Sir Jacques knurrte, schwenkte eine Faust und warf den Kirmesbesuchern kampflustige Blicke zu, worauf die Buhrufe noch anschwollen.
»Um zwei Uhr«, wiederholte Lord Belvedere, »werden diese furchtlosen Ritter einander auf dem Turnierplatz gegenübertreten. Wird Sir Peregrine obsiegen? Oder wird ihn der Drachenritter bezwingen? Kommt zum Turnierplatz, um euren Favoriten anzuspornen!«
Die Ritter verbeugten sich – Sir Peregrine, indem er schnörkelreich mit der Hand wedelte, Sir Jacques mit einer schroffen und schnellen Bewegung – und schritten unter Buh- und Hochrufen über den Wehrgang zurück zu den Türen. Die Herolde hoben die Trompeten an die Lippen, um eine weitere Fanfare zu schmettern – die sich ziemlich ähnlich anhörte wie die erste –, dann wurden vom Dach des Turms Worte gerufen, die mir ebenfalls vertraut vorkamen.
»Erhebt euch, vornehme Leute! Hier kommt unser großartiger und außerordentlich huldreicher Herrscher, der Herr des Lachens und des Frohsinns, Seine Majestät König Wilfred der Gute!«
»Verbeugt euch in Gegenwart des Königs, ihr Hurensöhne«, brüllte Jinks zu uns herab, doch kaum kamen einige Besucher seiner derben Aufforderung nach, hob er anklagend den Zeigefinger und sagte in pingeligem Ton: »Ts, ts – so war’s doch nicht gemeint!«
Gelächter erhob sich in den Reihen der Umstehenden, während Calvin Malvern, die mit Edelsteinen geschmückte Krone auf dem Haupt, in seinen prächtigen pflaumenfarbenen Surkot gewandet, in die Mitte des zinnengesäumten Wehrgangs trat. Lord Belvedere und sein Gefolge verbeugten sich ehrerbietig, ehe sie sich im Halbkreis hinter den König stellten, während Jinks auf die Knie fiel und pathetisch katzbuckelte, womit er das Publikum zusätzlich zum Lachen brachte.
»Wir heißen euch willkommen, vornehme Leute«, sprach König Wilfred und strahlte wohlwollend zu uns hinab. »Und wir hoffen, dass jede Minute, die ihr auf der Kirmes verbringt, vergnüglich sein wird.«
Jinks war wieder aufgestanden und synchronisierte jetzt mit den Lippen lautlos die Ansprache des Königs, während er mit übertriebener Großspurigkeit den Ausdruck und die Gesten des Königs nachäffte.
»Während ihr in den Gassen und Gängen unserer Kirmes wandelt«, fuhr der König fort, als wüsste er nichts von der Gegenwart des Hofnarren, »gebieten wir euch, fröhlich zu sein. Vergesst Sorgen und Mühsal! Esst, trinkt, singt und tanzt nach Herzenslust. Vor allem aber lacht, denn mit Gelächter vertreibt ihr die Gezeiten der Dunkelheit und des Kummers. Wir, euer König, erklären diesen Tag für …«
Als König Wilfred seine beringte Hand auf die Brüstung legte und sich vorbeugte, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, ereigneten sich nacheinander mehrere Dinge: Ein Stück des Geländers, an das er sich lehnte, brach unter lautem Splittern von der Gipsmauer des Torhauses ab und stürzte auf die Erde. Eine Wolke von Gipsstaub wogte durch die Luft. Und dann verlor der König das Gleichgewicht.