7
ALS ICH SAH, wie der König mit den Armen ruderte, im Versuch, nicht nach vorn zu kippen, schrie ich auf. Die Krone rutschte ihm zur Seite, und für einen Moment, in dem mir das Herz stillstand, sah es aus, als ob er durch das ausgefranste Loch in der Brüstung kopfüber auf die Erde stürzen würde. Er drohte den Kampf mit der Schwerkraft zu verlieren, als Lord Belvedere einen Satz nach vorn machte, ihn am Kragen seines Surkots packte und ihn nach hinten in die Arme seiner Höflinge zerrte.
Die Menge stieß ein kollektives Stöhnen der Erleichterung aus, und Lilian und ich lehnten uns schlaff aneinander, die Hände an die Brust gepresst. Einige begannen zu applaudieren, aber ich konnte nicht sagen, ob es dem Überleben des Königs galt oder dem phänomenal inszenierten Stunt, als den sie den Vorfall womöglich erachteten. König Wilfred jedenfalls tat so, als wäre das Ganze zu unserer Belustigung arrangiert worden. Er erlaubte seinen Höflingen, ihn wieder auf die Beine zu stellen, seine derangierten Gewänder zurechtzuzupfen und die Krone auf seinem Kopf in die Mitte zu rücken, dann trat er nach vorn und stemmte die Hände in die Hüften.
»Wenn wir nicht ein frohgemuter Monarch wären«, dröhnte er, »würden jetzt Köpfe rollen!«
Ich gluckste wie alle anderen, und die Spannung löste sich, und doch kam ich nicht umhin zu bemerken, dass Lord Belvedere so fassungslos aussah, wie ich mich fühlte. Während Jinks die Menge zu vier anschwellenden Hurrarufen für den guten König Wilfred animierte, murmelte Lord Belvedere einem stämmigen Höfling etwas zu. Der nickte, ging rasch auf dem Wehrgang zum Ostturm und verschwand.
Lord Belvedere trat vor und sagte: »Wenn Ihr mir erlaubt, mich an Eure Untertanen zu wenden, Eure Majestät?«
»Aber gewiss«, sagte König Wilfred und trat zur Seite.
»Lord, Ladys und all ihr guten Leute, seid versichert, dass euch auf unserer großartigen Kirmes nichts geschehen wird. Fürs Erste bitte ich euch, die Seiteneingänge zu benutzen« – er gestikulierte zu den Türen rechts und links im Torhaus –, »bis die Lakaien Seiner Majestät alle Spuren des unglücklichen Zwischenfalls beseitigt haben. Eure Majestät …« Er verbeugte sich zum König, der in der Mitte des Wehrgangs stand.
»Es wird Zeit, liebe Leute.« König Wilfred blickte gen Himmel, als wollte er die Uhrzeit am Stand der Sonne ablesen, und hob seine pummelige Hand. Als er sie sinken ließ, zerriss ein Kanonenstoß die Luft.
»Lasst die Lustbarkeiten beginnen!«, rief König Wilfred.
Während der König und sein Hofstaat den Wehrgang durch den Ostturm verließen, schmetterten die Herolde abermals eine Fanfare. Lockende, an- und abschwellende Melodiefetzen schwebten über die Mauer, während das Volk Lord Belvederes Aufforderung nachkam und zwei mehr oder weniger geordnete Schlangen bildete. Einen Augenblick später öffneten sich die beiden Eingangstore, ein Paar kostümierter Kartenabreißer erschien, und die Schlangen bewegten sich langsam durch das Torhaus auf das Kirmesgelände.
»Sind Kanonen etwas Mittelalterliches?«, fragte ich Lilian, während wir uns in die linke Schlange einreihten.
»O ja, das sind sie«, erwiderte sie. »In Europa wurden Kanonen seit der Mitte des 14. Jahrhunderts eingesetzt. Wenn du mich fragst, könnten wir heute Morgen auch ohne Kanonen auskommen. Die einstürzende Balustrade war Aufregung genug für den Anfang.« Anerkennend ließ sie den Blick über das Torhaus schweifen. »Glaubst du, der Rest des Bauwerks ist stabil? Vielleicht hätten wir Schutzhelme aufsetzen sollen, um unsere Köpfe vor herunterfallenden Bauteilen zu schützen.«
»Ein Ritterhelm wäre passender als ein Schutzhelm«, bemerkte ich. »Aber ich würde mir keine Sorgen machen. Im Moment lehnt König Wilfred sich nirgendwo gegen.«
»Ach so«, sagte Lilian lachend. »Nun ja, Calvin ist tatsächlich ein korpulenter junger Mann. Vielleicht ist es von einem rein dekorativen Bauwerk zu viel verlangt, seinem Gewicht standzuhalten. Hoffen wir, dass er sich morgen nicht wieder gegen die Balustrade lehnen wird.«
»Ich nehme an, dass Lord Belvedere ihm davon abrät, sich von nun an gegen irgendetwas zu lehnen«, sagte ich.
Das Mitteltor schwang auf, und ein schlaksiger, dunkelhaariger junger Mann trat aus dem Torhaus. Er war Anfang zwanzig, trug ausgeblichene Jeans, ein kurzärmeliges Baumwollhemd und Arbeitsstiefel. Er schob eine Schubkarre. Er stellte sie neben dem Trümmerhaufen ab, trat etwas zurück und spähte zu der Stelle hinauf, an der König Wilfred vor kurzem ins Wanken geraten war. Der junge Mann blickte missmutig drein, ehe er sich hinabbeugte und sich daranmachte, Gipsbrocken und Stücke zersplitterten Holzes in die Schubkarre zu laden. Er tat es so ungestüm, dass die Gipsbrocken größtenteils zu Staub zerfielen.
»Da hat wohl jemand das Memo nicht erhalten, in dem drinstand, dass man ein historisches Gewand anziehen soll«, murmelte ich zu Lilian.
»Oh, ich weiß nicht«, erwiderte sie ebenfalls mit gesenkter Stimme. »Die Jeans könnte gut und gern ein paar hundert Jahre alt sein. Und demnächst könnten auch seine Werkzeuge so aussehen, wenn er nicht besser auf sie achtgibt.«
Ich warf einen verstohlenen Blick auf ihn. Aus der Schubkarre ragte ein Besenstiel heraus, außerdem eine Brechstange, eine Schaufel, ein kleiner Vorschlaghammer und eine Handsäge. Bei deren Anblick regte sich etwas in meinem Gedächtnis, aber erst als Lilian und ich fast bei der Kartenabreißerin angelangt waren, fiel es mir wieder ein.
»Eine Säge«, flüsterte ich und blieb stehen, während die Erinnerung eine Lawine beunruhigender Gedanken auslöste.
An diesem Morgen, nur wenige Stunden bevor Calvin Malvern beinahe in den Tod gestürzt wäre, hatte ich im hinteren Teil des Gartens gestanden, als das rhythmische Geräusch einer Handsäge zu mir herüberwehte. Das Sägen war aus dem Bishop’s Wood gekommen. Ich hatte angenommen, dass jemand im letzten Augenblick ein Kulissenteil fertiggestellt hatte. Aber vielleicht war das eine falsche Annahme gewesen. Was, wenn jemand stattdessen einen kleinen Sabotageakt vorgenommen hatte?
Erschrocken fuhr ich herum und starrte den jungen Mann an. Er blickte noch immer missmutig drein, während er Schutt in die Schubkarre lud. War er wütend, weil die Brüstung eingebrochen war oder weil Calvin Malvern nicht hinabgestürzt war?
»Lori?«, rief Lilian. »Du hältst die Schlange auf.«
»Was?« Ich blinzelte verwirrt, ehe mir klar wurde, wo ich war. Hastig machte ich ein paar Schritte vorwärts, hielt meine Eintrittskarte einer vollschlanken jungen Frau in bäuerlicher Tracht hin und folgte Lilian Bunting durch das Torhaus.
»Alles okay, Lori?«, fragte Lilian und zog mich aus dem Strom der Kirmesbesucher, die durch das Tor drängten, zur Seite. »Du wirkst so abwesend.«
»Nein, es geht mir gut.« Misstrauisch blickte ich über meine Schulter.
»Gut.« Lilian warf einen Blick in ihr Programmheft. »Ich werde mal sehen, wo die sogenannte Farthing Stage ist – offenbar hat das irgendetwas mit Münzen zu tun. Laut Programm wird dort um halb elf Merlot der Prächtige seine Zaubershow vorführen. Ich liebe Zauberer. Kommst du mit?«
»Ich würde mich lieber erst ein wenig umsehen«, sagte ich. »Wir treffen uns bestimmt wieder, ehe der Tag rum ist.«
»Da bin ich sicher«, stimmte mir Lilian zu. »Also, dann bis später.«
Kaum war sie weg, drehte ich mich um und nahm das Torhaus in Augenschein. Als ich eine kleine Tür im Erdgeschoss des Westturms entdeckte, ging ich darauf zu. Ich hatte vor, zum Wehrgang hinaufzusteigen und mir die eingestürzte Brüstung näher anzusehen. Vielleicht entdeckte ich ja irgendeinen Hinweis auf Fremdeinwirkung. Doch als ich bei der Tür ankam, schwang sie auf und eine vertraute Gestalt trat, mit fröhlich bimmelnder Schellenkappe, ins Sonnenlicht.
»Hallo, Nachbarin.« Jinks machte die Tür hinter sich zu, schloss sie ab und warf den Schlüssel der am nächsten stehenden Kartenabreißerin zu, die ihn auffing und in ihren großzügigen Ausschnitt steckte. Dann wandte er sich mit einem breiten Lächeln zu mir. »Haben Sie auf mich gewartet? Ich war damit beschäftigt, unflätige Bemerkungen gegen arglose Besucher auszustoßen, um ihnen ein wenig die Zeit zu vertreiben, während sie in der Schlange warteten. Wie ich meinen Job liebe!«
Ich lächelte matt, und Jinks sah mich noch eindringlicher an.
»Sie haben gar nicht auf mich gewartet«, sagte er verzagt, indem er in meiner Miene las. »Sie hatten doch nicht vor, wieder zu gehen, oder? Sie sind doch gerade erst gekommen.«
»Nein, nein. Ich … ähm, ich dachte, ich steige zum Turm hinauf, um … ähm, zu sehen, wie die Aussicht ist.«
»Tut mir leid«, sagte er mit einem Nicken in Richtung Turm. »Nur Mitglieder der Truppe haben Zugang, aus Sicherheitsgründen. Bis der Schaden wieder repariert ist, dürfen selbst wir nicht mehr hinauf.« Er schürzte die Lippen und sah mich eigenartig an. »Warum, um Himmels willen, wollen Sie einen Blick auf die Ihnen so vertraute Umgebung werfen, wo es doch den Torhausplatz zu bewundern gibt?«
»Torhausplatz?«, plapperte ich verwirrt nach.
»Lori«, sagte Jinks sanft. »Drehen Sie sich um.«
Ich wandte mich vom Torhaus ab und spürte, wie ich erstarrte, als mir eine Welle aus Geräuschen, Farben und Gerüchen entgegenschlug. Es war, als wären alle sensorischen Nervenzellen in meinem Gehirn mit voller Wucht getroffen worden. Ich schwankte beinahe, so stark war die Wirkung.
Das Torhaus blickte auf einen großen Platz, der von überdachten Verkaufsständen aus grob behauenem Holz gesäumt wurde. Sie waren mit farbenfrohen Wimpeln geschmückt, die fröhlich in der Brise flatterten. Eine Gruppe Moriskentänzer hüpfte und stampfte in der Mitte des Platzes, während am Rand ausgelassen Steckenpferde patrouillierten und Stehgeiger schwungvolle Rhythmen fiedelten. Eine Schar Kinder blickte mit aufgerissenen Augen auf einen Zauberer, der augenscheinlich Münzen aus der Luft klaubte, und glucksende Erwachsene machten einen weiten Bogen um einen Jongleur, der mit Wasserballonen bewaffnet war. Kostümierte Verkäufer boten lauthals ihre Waren feil, die von kunstvollen Glasbläserarbeiten bis zu T-Shirts mit Souvenirmotiven reichten, und Weihrauchwolken waberten von den Duftlampen herüber, die den Eingang eines Wahrsagerstands flankierten.
»Wow«, sagte ich kleinlaut.
»Sie scheinen überrascht«, sagte Jinks. »Ist Ihnen aus irgendeinem Grund entgangen, dass Sie den Torhausplatz betreten haben?«
»Ich war in Gedanken woanders«, gab ich zu. »Der Unfall hat mich erschreckt.«
Jinks’ grüne Augen zogen sich gewitzt zusammen. »Und in einem Anflug von staatsbürgerlichem Pflichtbewusstsein dachten Sie, Sie müssten nun das Torhaus inspizieren und überprüfen, ob es sicher ist.«
Ich bestätigte, dass er mit seiner Vermutung nicht ganz falsch lag, indem ich heftig errötete und auf meine in Sandalen steckenden Füße starrte.
Er lächelte. »Es ist absolut sicher, das verspreche ich Ihnen, Lori. Lord Belvedere hätte uns niemals erlaubt, die Tore zu öffnen, wenn er befürchten müsste, dass die Öffentlichkeit in Gefahr ist. Das Teil, das aus der Brüstung gebrochen ist, wurde heute früh in aller Eile zurechtgezimmert, von jemandem, der nicht wusste, was er tat. Sobald Edmond den Schaden behoben hat, wird die Brüstung so stabil sein, dass Cal darauf tanzen kann.«
»Wer ist Edmond?«, fragte ich.
»Edmond Deland, des Königs Mädchen für alles.« Als ich ihn noch immer fragend anschaute, fuhr Jinks fort: »Der mürrische Kerl mit der Schubkarre. Eine Art Hausmeister, wenn Sie so wollen.«
»Oh, der.« Ich warf einen Blick zum Torhaus. »Was hat er für ein Problem?«
»Intrigen hinter den Kulissen«, sagte Jinks und wackelte mit den Augenbrauen. »Keine Angst. Sie werden alles erfahren, sobald wir beide Zeit für eine Unterhaltung haben. Vielleicht komme ich heute Abend auf einen Sprung über den Zaun und weihe Sie in alles ein.« Er berührte mich am Arm. »Tut mir leid, dass Sie sich erschrocken haben.«
»Ich habe überreagiert«, sagte ich kleinlaut. »Jetzt geht es mir wieder gut.«
»Wie könnte es auch anders sein? Sie sind auf der König-Wilfred-Kirmes!« Jinks vollführte eine ausladende Verbeugung. »Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, Mylady. Ich muss gehen, denn mein König verlangt nach mir. Möge Euer restlicher Tag mit grenzenloser Fröhlichkeit gefüllt sein!« Er blickte mich an und schüttelte seine Schellenkappe, dann trottete er über den Platz. Als er an den Kindern mit den strahlenden Augen vorbeikam, machte er einen Handstand und bewegte sich ein paar Meter auf seinen Händen fort.
Eine Weile sah ich ihm nach, dann senkte ich den Kopf und stöhnte. Ich konnte nicht glauben, dass ich mir nichts, dir nichts wieder in meine alten Gewohnheiten zurückgefallen war. Jeder, der auch nur einen Funken gesunden Menschenverstand hatte, hätte König Wilfreds Beinahe-Unfall zweifelsfrei einer Schlamperei bei den Bauarbeiten zugeschrieben. Doch meine Gedanken waren wie üblich auf Abwege geraten und hatten mich in irrationales Fahrwasser geführt, geradewegs in ein absurdes vermeintliches Mordkomplott. Hätte Jinks nicht dazwischengefunkt, hätte ich den halben Morgen damit zugebracht, durch Gipsstaub zu kriechen, statt die Atmosphäre der Kirmes in mich aufzunehmen. Ich schämte mich gehörig, dass ich meine Fantasie schon wieder hatte Amok laufen lassen.
»Jetzt ist endgültig Schluss«, murmelte ich entschlossen und schob alle Gedanken an Sabotage weit weg.
Die nächsten drei Stunden gab ich mich dem Zauber der Kirmes hin. Ich erkundete die grasigen Gassen, die vom Torhausplatz abgingen. Wenn ich Nachbarn begegnete, winkte ich ihnen freundlich zu, um dann jedoch schnell weiterzugehen. Mich drängte es danach, von unbekannten Gesichtern umgeben zu sein, mal was anderes zu sehen, und meine Ohren all dem Tratsch gegenüber zu verschließen, den ich längst auswendig kannte.
Die Gassen waren gesäumt von Marktbuden, die dem Jahrmarkt die Atmosphäre eines pulsierenden Dorfs verliehen. Einige waren nicht größer als ein Wandschrank, andere wiederum bestanden aus zweigeschossigen Bauten von der Größe unseres Wohnzimmers. Alle hatten Markisen oder kleine Vordächer, die auf die Gassen hinausgingen, wohl um die Kirmesbesucher vor sommerlichen Schauern zu schützen. Die Händler trugen Kostüme, die aus Baumwolle und Leinen geschneidert waren statt aus Samt und Satin, und sprachen eine Mundart, die entfernt an das mittelalterliche Englisch erinnerte. Mochte sie bisweilen auch schwer verständlich sein, unterhaltsam war sie allemal.
Die Gassen wanden sich durch den Wald, um sich gelegentlich zu kreuzen, und formten so ein vergnügliches Labyrinth, das hinter jeder Biegung mit Überraschungen aufwartete. Gern hätte ich mich in dem Gassengeflecht verloren, aber die Anordnung der Kirmes war übersichtlicher, als es auf den ersten Blick erschien: Alle Seitengassen führten mich irgendwann auf die Broad Street zurück, eine breite Durchgangsstraße, die den Hauptboulevard der Kirmes bildete und von größeren und aufwendigeren Ständen gesäumt war.
Wo immer ich mich auch hinwendete, immer wieder begegnete ich herumstreifenden Darstellern. Ich traf den Jongleur und den Lautenspieler, die ich vor dem Torhaus gesehen hatte, ein singendes Taschendiebpaar, eine Bauchtänzerinnengruppe, eine Schar geflügelter Feen, verschiedene Bettler – die wimmerten und katzbuckelten, bis ihnen Münzen entgegenflogen – und einen riesigen wandelnden Baum, in dessen Innern vermutlich ein Stelzengeher verborgen war und der klar von den Ents inspiriert war, J. R. Tolkiens fantastischen Wächtern des Waldes.
Auf kleinen Freilichtbühnen führten weitere Darsteller ihre Stücke auf, während die Zuschauer auf langen Holzbänken saßen. Die Penny Lane endete bei der Farthing Stage, wo Merlot der Prächtige fünf Mal täglich bizarre Zauberkunststücke zum Besten gab. Am Ende der Harmony Lane befand sich die Ministrel’s Stage, auf der Sänger, Musikanten und Tänzer auftraten, und die Ludlow Lane führte zur Shire Stage, einer Bühne, die sich fest in der Hand von Akrobaten, Jongleuren und Komödianten befand. Ganz in der Nähe befand sich der kleine Streichelzoo, und gern ließen sich die schlagfertigen Darsteller von den verschiedenen Tierlauten – Grunzen, Gekrächze – und den herben Gerüchen zu lustigen Improvisationen inspirieren.
Die Great Hall entpuppte sich als weitere Bühne. Doch auf ihr wurde weder getanzt, gesungen, jongliert, noch wurden Zoten gerissen. Das vergoldete Schild verkündete, dass sie ausschließlich König Wilfred vorbehalten war, der dort königliche Zeremonien abhielt, wie etwa Paare zu trauen oder Knappen zu Rittern zu schlagen. Die Bühne wurde beherrscht von einer Empore mit rotem Teppich, auf der ein prachtvoller vergoldeter Thron stand.
Pudding Lane war die Fressgasse der Kirmes, wo sich eine Imbissbude an die nächste reihte; hier wurden schmackhafte Fleischpasteten, Würste, Pommes frites, Obstkuchen, Schokolade, Honigkuchen und allerlei Leckereien feilgeboten, außerdem Apfelwein, Bier, Kräutertees und die gängigen Erfrischungsgetränke. Ich probierte einen Honigkuchen und fand ihn köstlich, doch als ich nach dem Rezept fragte, beschied mir die Verkäuferin bedauernd, dass es das Privileg des Königs sei, Rezepte herauszugeben.
Nicht von ungefähr mündete die Pudding Lane in einen großen Picknickplatz auf einem sanft abfallenden Hügel, von dem man den ovalen Turnierplatz und das sich anschließende Bogenschießgelände überblickte. Ein einfacher Zaun aus zwei Holzbalken umgab den Turnierplatz, und am westlichen Rand, gegenüber der Pudding Lane, stand ein riesiges weißes Zelt. Auf der dahinterliegenden Koppel konnte ich zwischen anderen Pferden die Ponys der Zwillinge grasen sehen. Doch auf dem Turnierplatz regte sich noch nichts. Ich nahm an, dass es sich die Ritter in dem weißen Zelt gut gehen ließen, während meine Söhne und der Rest von Emmas Juniorteam das Sattelzeug auf Hochglanz brachten und es schmückten und Messingbeschläge polierten.
Auf dem Bogenschießgelände hingegen herrschte reges Treiben. Ein Dutzend Möchtegern-Wilhelm-Tells stand auf der Schusslinie, spannte Bögen und schoss Pfeile auf Zielscheiben, die auf Heuballen aufgestellt waren. Es sah nach einer angenehmen sportlichen Herausforderung aus, doch war ich zu aufgeregt, um länger als fünf Minuten an einer Stelle zu verharren. Deshalb bummelte ich die Pudding Lane zurück, um meine Erkundungstour fortzusetzen.
An verschiedenen Verkaufsständen zeigten Töpfer, Lederwarenmacher und andere Handwerker ihre Kunst. Nachdem ich einem Töpfer zugeschaut hatte, wie er aus einem Tonklumpen einen anmutigen Becher geformt hatte, kam ich zu dem Schluss, dass die Kirmes eine wunderbare Gelegenheit bot, um sich zu bilden. Ich zweifelte nicht im Geringsten, dass meine Söhne ebenso wie ich davon fasziniert wären, wie sich Rohmaterialien durch geschickte Handarbeit in nützliche Gegenstände verwandelten.
Hätte ich statt meiner Umhängetasche einen Rucksack dabeigehabt, hätte ich bis zum Umfallen geshoppt, aber so bummelte ich einfach nur von einer Bude zur nächsten und machte mir in Gedanken Merkzettel mit Ideen für Weihnachtsgeschenke, die ich das nächste Mal kaufen wollte, wenn ich besser für eine Einkaufstour gerüstet war. Die Auswahl war schier unerschöpflich: von Seifen über Parfüms, Töpferwaren, Schmuck, Schwerter, Lederkrüge und Kapuzencapes bis hin zu gewebten Überwürfen.
Als ich zu einem Stand mit winzigen Kostümen kam, wurde mir klar, dass ich mit dem Wunsch, meinen lieben Gefährten aus der Kindheit mit einer Krone und einem hermelinbesetzten Mantel auszustaffieren, nicht allein war. Eine Unterhaltung mit der Verkäuferin bestätigte mir, dass ich von Menschen umgeben war, die meine Beziehung zu Reginald – wenn sie denn davon erführen – wohlmeinend beurteilen würden. Ein tröstlicher Gedanke, doch inzwischen hatte ich eine solche Fülle von Eindrücken gesammelt, dass ich das Bedürfnis hatte, mich in eine ruhige Gasse zurückzuziehen, um meinem überfrachteten Geist eine kurze Auszeit zu gewähren.
In der Gasse blieb es nicht lange ruhig. Als ich an einem Stand versonnen lächelnd eine wunderbare Sammlung von Kristallkugeln betrachtete, traten fünf junge Frauen aus dem benachbarten Stand, der bronzene Drachen im Angebot hatte, um wenige Meter von mir entfernt stehen zu bleiben. Sie waren etwa Anfang zwanzig und trugen Gewänder, die, wie mir ein Händler bestätigt hatte, der Standarduniform von mittelalterlichen Bauernmädchen entsprachen: Spitzenmieder, bäuerliche Blusen und fließende Röcke. Nur ihre Kopfbedeckung, Blumenkränze mit sich über den Rücken kringelnden Bändern, hob sie von der durchschnittlichen Bäuerin ab.
Das kleinste Mitglied der Gruppe, ein hübsches junges Mädchen mit haselnussbraunen Augen und langen braunen Haaren, stellte einen leeren Korb vor sich auf die Erde und richtete sich wieder auf. Sie summte eine Melodie, und die anderen stimmten ein, um gemeinsam ein Madrigal zu singen. Verzaubert lauschte ich, wie sich ihre lieblichen, reinen Stimmen zu einem komplizierten Gesang verwoben. Als er verklang, trat ich als Erste vor, um ein paar Münzen in den Korb zu werfen.
Ich war nicht die Einzige, die ihren Darbietungen lauschte. Als ich mich von dem Korb abwandte, nahm ich aus dem Augenwinkel eine flüchtige Bewegung wahr. In der schattigen Lücke zwischen zwei Ständen erblickte ich Edmond Deland, der verstohlen in Richtung der Mädchen spähte. Ich tat, als hätte ich ihn nicht bemerkt, doch als ich zu meinem Platz bei den Kristallkugeln zurückkehrte, stellte ich mich so hin, dass ich ihn aus dem Augenwinkel weiterhin beobachten konnte.
Der mürrische junge Handwerker verharrte in der Lücke zwischen den Ständen, als wollte er nicht gesehen werden, und starrte unverwandt auf die kleinste der Sängerinnen. Als sie mit einer Soloeinleitung ein weiteres Madrigal anstimmte, hob und senkte sich seine Brust und sein Ausdruck wurde weich, als dränge ihre Stimme mitten in sein Herz. Man brauchte nicht viel Fantasie, um zu erraten, welche Gefühle er für das junge Mädchen hegte.
Der entfernte Klang von Trompeten riss Edmond aus seinen süßen Empfindungen, und sofort nahm er wieder eine mürrische Miene an. Das Mädchen hingegen strahlte wie ein Weihnachtsbaum und schaute begierig in Richtung Broad Street. Die anderen Madrigalsängerinnen tauschten wissende Blicke aus, ehe eine den Korb aufhob und alle gemeinsam singend auf den Hauptboulevard zustrebten. Eine Gruppe musikverständiger Zuhörer folgte ihnen, während Edmond mit wütendem Ausdruck auf dem Absatz kehrtmachte und hinter den Buden verschwand.
»Was passiert jetzt?«, fragte ich die Verkäuferin der Kristallkugeln.
»Es ist ein Uhr«, antwortete sie. »Der König ziehet feierlich ein.«
»Wo, ähm, ziehet er denn ein?«, fragte ich.
Sie lächelte. »Wenn Ihr rasch zur Broad Street geht, Mylady, werdet Ihr dem Festzug beiwohnen können.«
»Danke.« Ich war mir wohl bewusst, dass ich mich nicht nach Hause zu trauen brauchte, wenn ich Will und Rob hoch zu Ross inmitten der königlichen Parade verpassen sollte. Dennoch konnte ich mir eine weitere Frage nicht verkneifen: »Wissen Sie zufälligerweise den Namen der kleinen Sängerin, die den Madrigalchor anführt?«
»Mirabel«, erwiderte sie. »Little Mirabel. Sie hat eine engelsgleiche Stimme, nicht wahr?«
»Ja, das hat sie.« Ich beeilte mich, die Sängerinnen einzuholen. Sie waren an der Ecke Broad Street stehen geblieben, und ich drängte mich durch die Menschenmenge zu ihnen. Die älteren Mädchen hatten sich schützend im Halbkreis hinter Mirabel aufgestellt und betrachteten sie mit nachsichtiger Belustigung, als sie auf Zehenspitzen den Hals reckte, um nichts von dem sich nähernden Festzug zu verpassen.
Ich musterte sie mit unverhohlener Neugierde. Sie wirkte auf mich wie ein berauschter Groupie, der auf einen Rockstar wartet. War sie so begierig, die festliche Parade mitzuerleben, fragte ich mich, oder ging es ihr um den König? War die kleine Mirabel womöglich, aus mir unverständlichen Gründen, in den König verliebt?
Es fiel mir schwer, König Wilfred als einen Don Juan zu sehen, aber Jinks hatte mir erzählt, dass sich die Persönlichkeit mancher Menschen veränderte, sobald sie eine Rolle bei einem Mittelalterfest spielten. Als König Wilfred war Calvin womöglich einem Flirt mit einer bescheidenen, ihn anbetenden Maid nicht abgeneigt. Vielleicht war er sogar versucht, seine umfangreichen Rechte als Feudalherr auszuüben. Soweit ich wusste, hatte König Wilfred keine Königin, und so hinderte ihn nichts daran, bei jedem hübschen Mädchen, das seinen Weg kreuzte, einen königlichen Annäherungsversuch zu machen.
Oder gab es doch eine?
Obwohl es in der Sonne warm war, kroch mir ein Schauder über den Rücken. Edmonds wütende Miene blitzte vor meinem geistigen Auge auf, gefolgt von dem Bild der Handsäge, die aus der Schubkarre herausragte.
»Königsmörder«, flüsterte ich.