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ALS ICH DARAN dachte, wie leicht die Brüstung nachgegeben hatte und dass Calvin Malvern um ein Haar das Gleichgewicht und damit auch sein Leben verloren hätte, schien sich ein Schatten vor die Sonne zu legen. Zweifelsohne hatte Edmond Deland sowohl das Werkzeug als auch das Geschick, um einen solchen Unfall zu inszenieren. Wenn Mirabel seine Liebe verschmähte und ihre Gunst stattdessen dem König gewährte, hätte er auch ein Motiv. Jetzt mal halblang, sagte ich im Geiste zu mir. Du musst dich nicht selbst überflügeln, Lori. Noch weißt du überhaupt nichts.

Ein ohrenbetäubendes Trompetenschmettern unterbrach meine unbehaglichen Gedanken. Ich zuckte zusammen, blickte zur Seite und sah die Herolde des Königs an mir vorbeiziehen, indem sie ihre immergleiche Fanfare bliesen und dazwischen riefen: »Macht Platz! Macht Platz für den König!«

Die wenigen Passanten, die sich noch auf der breiten Straße befanden, drückten sich rasch an den Rand, um nicht von dem imposanten Festzug niedergetrampelt zu werden. Nach den Herolden folgte eine Ansammlung Gaukler, die einherstolzierten, tanzten, Tamburine schlugen, Stäbe mit Bändern schwangen und ausgelassen mit dem Publikum flachsten. Manche Zuschauer spornten ihre Lieblingsgaukler händeklatschend oder durch Zurufe an. Andere zeigten ihre Anerkennung, indem sie ihnen Münzen zuwarfen, die geübt aufgefangen wurden, wenngleich nicht immer von jenen, denen sie zugedacht waren.

Als Nächstes schritt eine Phalanx bärtiger Männer in groben Lederjacken daher. Jeder hatte einen Langbogen, einen Speer, eine Streitaxt oder eine Hellebarde bei sich. Die Waffen sahen gefährlich aus, doch die Männer waren um den Bauch herum zu behäbig und lächelten zu freundlich, um als unerbittliche Krieger durchzugehen.

Nach den Soldaten klaffte eine Lücke, die Jinks nutzte, um eine Reihe akrobatischer Kunststücke vorzuführen. Als er an mir vorbeisegelte, erinnerte ich mich an seinen Vorschlag, am Abend nach getaner Arbeit über den Zaunübertritt zu hüpfen. Ich hoffte, dass er sein Vorhaben in die Tat umsetzen würde. Mit einem Mal wünschte ich mir, alles zu erfahren, was er über die Intrigen hinter den Kirmeskulissen wusste.

Endlich kam der Moment, auf den ich gewartet hatte. König Wilfred und sein Hofstaat näherten sich, angeführt von dem grauhaarigen Lord Belvedere, flankiert von Sir Peregrine und Sir Jacques und begleitet von einem Dutzend Edelfrauen, die alle prächtige Kleider und jene prachtvollen Hennins trugen, die Calvin als Wimpel bezeichnet hatte. Bei ihrem Anblick empfand ich einen Anflug von Neid, doch verdrängte ich rasch dieses Gefühl, um mich ganz auf den König zu konzentrieren.

Als der »frohgemute König« an uns vorbeischritt, hob er seine pummelige Hand und warf eine Kusshand in Richtung der Menschenmenge, in der ich stand. Ich hörte Mirabel entzückt aufkreischen und sah, wie sie heftig errötete und einen bilderbuchhaften Hofknicks vollführte. Die anderen Madrigalsängerinnen kicherten und stießen einander an. Die größte, die auch die reifste unter den Mädchen schien, sagte zu Mirabel: »Es ist Zeit für uns, an die Arbeit zurückzukehren. Du hast ihn gesehen und wirst ihn alsbald wiedersehen.«

»Alsbald, und alsbald wieder …«, bemerkte eines der anderen Mädchen spöttisch.

Dann bahnte sich das Grüppchen einen Weg durch die Menge, eine widerstrebende Mirabel im Schlepptau. Nachdenklich sah ich ihnen nach, bis zwei Kinderstimmen mich zurück in die Gegenwart riefen und mich daran erinnerten, warum ich hier stand.

»Mami! MAMI!«

Der Anblick von Will und Rob auf ihren grauen Ponys verscheuchte jegliche Gedanken an Sabotage. Alison und Billy McLaughlin, ihre Mannschaftsgefährten vom Reiterfestteam, ritten ebenfalls mit, doch konnte ich die Augen nicht von meinen Söhnen abwenden. Wie Sally Pyne versprochen hatte, sahen sie in ihren großartigen Samttuniken tatsächlich wie zwei kleine Prinzen aus, und Thunder und Storm wirkten nicht minder nobel, gehüllt in ihre weiß-goldenen Schabracken, die Calvin Malvern zur Verfügung gestellt hatte. Schließlich hörten die Jungen auf, mir ungestüm zuzuwinken, und nahmen ihre würdevolle Haltung wieder ein, die man sie für Reiterveranstaltungen gelehrt hatte.

Die vier Kinder ritten am Ende des Festzugs und ließen ihre Ponys in gemessenem Schritt gehen. Eine ältere Reiterin folgte ihnen, ebenfalls in einem Kostüm, jedoch in einem Damensattel. Sie trug ein wunderschönes Paar Wildlederhandschuhe, einen eleganten grasgrünen Rock und einen hoch aufragenden Hennin, aus dem hauchzarte Seide floss. Ich war so sehr damit beschäftigt, ihren Aufzug zu bewundern, dass ich sie nicht erkannte, bis sie unmittelbar an mir vorbeiritt.

»Emma?«, sagte ich, und ich kreischte fast vor Verblüffung. »Emma?«

Emma Harris, meine nüchterne, unromantische, fantasielose beste Freundin wandte mir ihren henningeschmückten Kopf zu und grinste. Dann hob sie eine behandschuhte Hand und bedachte mich mit einem königlichen Winken, während sie auf Pegasus, ihrer Stute, meinen Söhnen die Broad Street hinab folgte. Ich war so erschrocken darüber, sie als Burgfräulein herausgeputzt zu sehen, dass ich ihr noch eine ganze Weile mit offenem Mund hinterherstarrte.

Die Menge schloss sich dem königlichen Umzug an, der jetzt die Pudding Lane hinaufzog in Richtung Turnierplatz. Nur ein Mitglied der Kirmestruppe blieb zurück. Allein und unbesungen, nur mit einer Schubkarre, einer Schaufel und einem großen Sack Sägemehl bewaffnet, folgte Edmond Deland der lärmenden Menge, um die Broad Street von dem zu säubern, was die Ponys hinterlassen hatten.

Als ich ihm bei seiner Arbeit zusah, überkam mich plötzlich ein Anflug von Mitleid. Wie konnte ein junger Mann, der Pferdeäpfel aufklaubte, hoffen, mit einem König mithalten zu können? Das entschuldigte in meinen Augen nicht seine frevelhafte Tat, doch meinte ich seine Verzweiflung zu verstehen. Ich wollte gerade auf ihn zugehen, ein paar tröstende Worte an ihn richten, die möglicherweise das Feuer der Eifersucht in seiner Brust hätten eindämmen können, doch kaum hatte ich einen halben Schritt auf ihn zugemacht, legte sich eine Hand an meinen Ellbogen und hielt mich zurück.

»Lori?«, sagte eine Stimme.

Lilian Bunting trat neben mich. Einen Moment lang starrte ich sie an wie eine Fremde, bis mir mit sinkendem Mut und brennenden Wangen bewusst wurde, dass ich es schon wieder getan hatte. Wieder hatte ich mich mit Herz und Seele in ein Drama gestürzt, das nur in meiner Fantasie existierte. Mühelos hatte ich aus ein paar Blicken und einer Kusshand eine Dreiecksgeschichte und ein Mordkomplott ersonnen. Wenn Lilian mir nicht in die Quere gekommen wäre, hätte ich einen völlig Fremden belästigt, um ihn eines ruchlosen Verbrechens zu beschuldigen. Als ich mir die peinliche Szene vorstellte, die meine Impulsivität um ein Haar heraufbeschworen hätte, wäre ich am liebsten im Erdboden versunken.

»Du siehst aus, als wärst du eine Million Meilen entfernt«, sagte Lilian.

»Das war ich auch«, gab ich zu. »Aber jetzt bin ich wieder da. Wie war Merlot der Prächtige?«

»Prächtig.« Lilian hängte sich bei mir ein. »Komm, lass uns zum Turnierplatz gehen, währenddessen erzähle ich dir von ihm. Wir wollen schließlich nicht das Ritterturnier verpassen! Hast du Emma hoch zu Ross gesehen? Sah sie nicht großartig aus? Will und Rob waren natürlich bezaubernd. Warst du beim Stand von Jasper Taxman? Ich traute meinen Augen nicht, als ich ihn in Samtwams und Strumpfhose sah. Er sagte mir, dass Peggy im Geschäft in Finch die Stellung hält, da ihr das Kostüm nicht gefällt, das sie sich aus London hat kommen lassen. Aber von Sally Pyne habe ich eine ganz andere Version gehört. Angeblich war das Mieder bei Peggy so eng, dass weit mehr herausquoll, als schicklich wäre. Deshalb hat Peggy Sally gebeten, es für sie zu ändern, aber Sally hat mir erzählt, dass sie so viel Stoff an das alte Mieder hätte hinzufügen müssen, dass sie ebenso gut ein neues hätte …«

Der Tratsch meiner Freundin lullte mich wie ein wohltuender Balsam ein, ankerte mich in einer Welt, die ich kannte, und half mir, am rutschigen Ufer der Realität festen Halt zu bekommen. Ich schwor mir selbst, sobald der Zweikampf vorbei wäre, würde ich Jaspers Bude einen Besuch abstatten und mich auf die Suche nach Sally Pyne machen. Natürlich wollte ich die Geschichte mit Peggys Mieder aus erster Hand hören, aber vor allem wollte ich sicherstellen, dass ich tatsächlich wieder fest verankert war.

Während wir die Pudding Lane hinaufschlenderten, kauften Lilian und ich Spinatpasteten, Zitronenlimonade und Honigkuchen. Als wir den Picknickplatz oberhalb des Turnierplatzes erreichten, waren bereits alle Tische besetzt. Also hockten wir uns wie viele andere Zuschauer auch auf den Boden und breiteten unser Lunch zwischen uns aus.

Die meisten Teilnehmer des königlichen Festumzugs hatten sich wieder auf dem Kirmesgelände zerstreut, doch der König und einige wenige Mitglieder seiner Entourage hatten auf einem stabil wirkenden Podium am anderen Ende des Platzes auf Stühlen Platz genommen. Das Podium war mit festlichen Fahnen geschmückt, und eine gestreifte Markise spendete Schatten, deren vier Holzpfosten mit leuchtenden Bändern und Blumen geschmückt waren.

Der König saß auf einem hochlehnigen vergoldeten Thron in der Nähe des Geländers am vorderen Rand des Podiums, wo er gut sehen und gesehen werden konnte. Dieser Thron war nicht ganz so prächtig wie der auf der Bühne der Great Hall, aber dennoch standesgemäß. Der graubärtige Lord Belvedere stand nicht weit vom Thron entfernt. Er hantierte an einem der beiden Lautsprecher herum, die an den vorderen Pfosten der Markise angebracht waren.

»Vorsicht, Anachronismus«, sagte ich und stupste Lilian an. »Die Bühne ist verkabelt.«

»Ich fürchte, wir müssen ein paar Konzessionen an die Neuzeit machen«, sagte sie. »Ich für meinen Teil war erstaunt zu sehen, dass zu unserer Bequemlichkeit Chemietoiletten aufgestellt wurden statt der mittelalterlichen Entsprechung. Und, Lori, das ist keine Bühne, sondern die königliche Galerie. Ich habe ein wenig in einem Buch über den ritterlichen Zweikampf gelesen, der auch Tjost genannt wird oder Lanzenstechen. Der Turnierplatz wird auch Tjostplatz genannt, und die Beschrankungen nannte man Tilts.«

»Faszinierend«, sagte ich. »Fahre fort, du Gebildete. Bei der Gelegenheit kann ich meine Spinatpastete zu Ende essen.«

»Mach dich ruhig lustig, ich werde mich nicht entmutigen lassen.«

Das war die reine Wahrheit. Lilian Bunting war ein wenig schulmeisterlich. Wenn sie beschlossen hatte, andere an ihrem Wissen teilhaben zu lassen, brauchte es mehr als sanftes Necken, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen.

»Die frühesten ritterlichen Zweikämpfe erwuchsen aus einer ziemlich blutigen Angelegenheit, Buhurt genannt«, fuhr sie fort. »Ein Buhurt war eine inszenierte Schlacht, in der Fußsoldaten und Ritter in Rüstung brutal auf ihre Gegner trafen. Ein Buhurt dauerte meist so lange, bis eine Seite die andere unterworfen hatte.«

»Warum diese Extreme, wo es doch nur gespielte Schlachten waren?«, fragte ich.

»Sie dienten der Übung. Die Ritter wollten auch zwischen den wirklichen Kriegen ihre Kampfkünste trainieren, aber bei diesen Kämpfen wurden so viele getötet oder verletzt, dass man die Turniere schließlich verbot. Später wurden sie zu neuem Leben erweckt, sowohl als eine Form königlicher Unterhaltung als auch als Einkommensquelle für die Ritter. Den Sieger lockte ein Preisgeld, außerdem wurden neue Regeln aufgestellt, die regelrechtes Abschlachten untersagten.«

»Wie zivilisiert«, bemerkte ich.

»Heutzutage ist der Tjost sehr viel sicherer«, sagte Lilian in vertraulichem Ton. »Moderne Ritter benutzen zerbrechliche Lanzen und studieren die Kämpfe Mann gegen Mann sorgfältig ein. Ich bin sicher, Calvin hat geübte Darsteller angeheuert. König Wilfred möchte seine Kirmes schließlich nicht durch ein Blutvergießen beflecken.«

»Das sollte man meinen.« Gedanken an einen Sabotageakt zuckten durch meinen Geist, doch ich überging sie, indem ich eine Frage stellte, die mich schon eine geraume Weile beschäftigte: »Kennst du den Unterschied zwischen einem Pagen und einem Schildknappen?«

»Das Alter«, antwortete Lilian, indem sie unwissentlich Tante Dimitys Vermutung unterstützte. »Die jungen Söhne adeliger Familien wurden an benachbarten Höfen Pagen. Dort lernten sie ritterliche Fertigkeiten wie Benehmen und Reiten. Wenn ein Page das Alter von ungefähr vierzehn Jahren erreicht hatte, konnte er Schildknappe werden und einem bestimmten Ritter dienen. Ein Knappe wiederum konnte zum Ritter geschlagen werden, wenn es sich seine Familie leisten konnte, denn das war mit erheblichen Kosten verbunden. Falls nicht, blieb der Knappe womöglich bis zu seinem Lebensende Knappe. Oh, schau nur!« Sie deutete auf das große weiße Zelt. »Knappen!«

Zwei Teenager in aufeinander abgestimmten Tuniken, Strumpfhosen und federgeschmückten Kappen rollten auf der Stirnseite des Zelts die Bahnen hoch und banden sie mit Seilen fest. Gleichzeitig erklang Lord Belvederes Stimme knackend und nahezu unverständlich über die Lautsprecher.

»Ah«, sagte ich und nickte weise. »Es ist schließlich eine mittelalterliche Lautsprecheranlage.«

»In meinen Ohren klingt sie sehr modern«, sagte Lilian. »Diese Honigkuchen sind köstlich«, fügte sie hinzu. »Hast du übrigens das Rezept bekommen?«

Ich lächelte ironisch. »Ich muss erst den König fragen. Offensichtlich hütet er die Rezeptschatulle der Kirmes.«

»Morgen nach der Kirche werde ich ein Wörtchen mit Horace Malvern sprechen«, sagte Lilian. »Der Onkel des Königs müsste doch eigentlich in der Lage sein, uns das Rezept zu beschaffen.«

Unsere Unterhaltung wurde durch lebhaften Applaus unterbrochen.

»Hurra«, rief Lilian strahlend. »Die Zwillinge kommen!«

Wie es der Frau eines Pfarrers geziemte, blieb sie gesittet sitzen. Ich jedoch sprang auf und applaudierte stürmisch, als ein Zug aus Reitern aus dem Zelt auftauchte und in beherztem Trab um den Turnierplatz ritt. Rob und Will, jeder ein Banner in der Hand, auf dem ein sich aufbäumendes Einhorn zu sehen war, geleiteten Sir Peregrine den Reinen auf den Kampfplatz, während Alison und Billy mit Drachenbannern Sir Jacques de Poitiers eskortierten.

Ich war hingerissen von dem Spektakel. Die Brustharnische der Ritter glänzten, ihr langes Haar floss herrlich über ihre Rücken, während sie mit prahlerischer Siegesgewissheit auf ihren Rössern saßen, die gestreiften Lanzen himmelwärts gerichtet. Die vier Kinder grinsten stolz, als sie mich erblickten; winken konnten sie nicht, hatten sie doch keine Hand frei.

Obwohl die Menge keinen Zweifel ließ, dass ihre Gunst Sir Peregrine galt, war ich mir ziemlich sicher, dass die Kinder ihren jeweiligen Rittern nach rein dekorativen Gesichtspunkten zugeordnet worden waren. Die grauen Ponys der Zwillinge harmonierten mit dem Schlachtross von Sir Peregrine, einem schneeweißen Schimmel, während die dunkleren Ponys ihrer Teamkameraden besser zu dem Rappen des Drachenritters passten.

Angestachelt von mehreren derben Bauernmädchen, die sich strategisch im Publikum verteilt hatten, riefen die Zuschauer: »Nur zu, nobler Ritter!«, wann immer Lord Peregrine ihnen strahlend zulächelte. Im Gegenzug erntete Sir Jacques nur höhnisches Gejohle, wenn er spöttisch grinste. Die Ritter zogen schamlos Grimassen und die derben Frauen heizten mit ihren Sprüchen das Publikum auf, das ausgelassen mitspielte.

Die Reiter umrundeten einmal den Turnierplatz, dann ließen die Kinder ihre Banner sinken und ritten wieder in das Zelt. Die Ritter auf ihren Rössern stellten sich in der Mitte nebeneinander auf, den Blick zur königlichen Galerie gerichtet, salutierten vor dem König, indem sie ihre Lanzen senkten, ehe jeder zu einer der zwei Stirnseiten des Platzes galoppierte. Während die zwei Männer ihren jeweiligen Lehnsherrn huldigten, tauchte aus dem Zelt eine Schar bärtiger Fußsoldaten auf und verteilte sich auf die zwei Stirnseiten; dort bezogen sie Position vor den Holzgestellen, auf denen eine Auswahl mehrerer Waffen zu sehen war.

»Zum Vergnügen Seiner Majestät …«

Lilian und ich zuckten zusammen, als Lord Belvederes Stimme aus den Lautsprechern dröhnte, die offensichtlich richtig eingestellt worden waren.

»… und zum Vergnügen aller, die sich heute hier versammelt haben, werden Sir Peregrine und Sir Jacques jetzt ihr Kampfgeschick unter Beweis stellen.«

»Oh, gut«, sagte Lilian. »Sie bieten uns also das volle Programm.«

»Das volle Programm?«, fragte ich.

»Sie beginnen nicht sofort mit dem Tjost, sondern werden sich zunächst in kleineren Kampfarten messen.«

Die Ritter tauschten ihre langen, dicken Lanzen gegen dünnere aus, die je ein Soldat von den Holzgestellen nahm und ihnen reichte. Gleichzeitig bezogen die beiden jungen Schildknappen in der Mitte des Kampfplatzes Position. Jeder hielt einen kleinen roten Ring auf Armeslänge von sich. »Das nennt man Ringelstechen«, sagte Lilian aufgeregt. »Die Ritter versuchen, die Ringe mit ihren Lanzen aufzuspießen.«

»Unmöglich«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Die Jungen, die die Ringe halten, werden ihre Arme verlieren.«

»Die sind geübt«, sagte Lilian. »Ich bin sicher, sie haben ausgiebig trainiert, um Verletzungen zu vermeiden.«

Ich bemühte mich, ihren Optimismus zu teilen, doch als Sir Peregrine seine dürre Lanze senkte und sein Schlachtross in einen leichten Galopp versetzte, hielt ich den Atem an, und zwar so lange, bis der Ritter den Ring aufgespießt hatte, ohne den Arm des Knappen abzutrennen.

»Beeindruckend, nicht wahr?«, sagte Lilian.

»Puuh«, sagte ich, doch als ich meinen trockenen Mund mit einem Schluck Limonade befeuchtete, schwor ich insgeheim, dass meine edlen Söhne niemals Knappen würden.

Jeder der Ritter machte drei Durchgänge mit zunehmend kleineren Ringen. Nach jedem erfolgreichen Treffer verhöhnten sich die Ritter gegenseitig. Die Bauernmädchen stimmten in ihre spöttischen Bemerkungen ein und brachten einen Teil des Publikums auf Sir Jacques’ Seite, indem sie es zu einem derben Schlachtruf anfeuerten: »Bescheißen, um zu gewinnen!« Als ich hörte, wie eine weißhaarige alte Dame in den Ruf einstimmte, musste ich so lachen, dass ich beinahe den letzten Durchgang des Drachenritters verpasst hätte. Ich amüsierte mich köstlich. Wie Lilian gesagt hatte, waren die Männer sehr professionell. Ihre Geschicklichkeit ließ mich alle Ängste vergessen.

Die Ritter präsentierten den anmutigen Burgfräulein zu beiden Seiten des Königs galant ihre Trophäen und tauschten dann ihre dünnen Lanzen gegen an die zwei Meter lange Holzspeere mit tödlich wirkenden Metallspitzen aus.

»Das sind Wurfspeere«, erklärte Lilian. »Sir Peregrine und Sir Jacques werden sie auf die Heuballen am anderen Ende des Turnierplatzes schleudern.«

»Im Galopp, nehme ich an«, sagte ich.

»Wahrscheinlich in einem leichten Handgalopp. Aber Sir Jacques würde ich schon einen schnelleren zutrauen, der ist ein hervorragender Reiter.«

Da hinter den Heuballen nichts außer einer leeren Weide lag und die beiden Ritter treffsicher genug schienen, machte ich mir keine Sorgen wegen der gefährlichen Speerspitzen und konzentrierte mich ganz auf den Wettkampf. In allen drei Durchgängen traf jeder der Männer ebenso leicht die Heuballen, wie sie zuvor die Ringe aufgespießt hatten.

Die Menge tobte, doch statt mit einer Stimme zu rufen, wogten die anspornenden Rufe hin und her: Sir Peregrine wurde mit den Worten »Auf, nobler Ritter!« angefeuert, und der Ruf »Bescheißen, um zu gewinnen!« galt Sir Jacques. Unter der Regie der derben Frauen versuchte jede Partei die andere zu übertönen, doch als ihre Helden zu den großen Lanzen griffen und sich vorbereiteten, eine weitere Waffenfertigkeit unter Beweis zu stellen, verstummten sie.

»Die Ritter sind noch gleichauf«, meinte Lilian. »Doch jetzt kommt die wahre Prüfung ihrer Tapferkeit. Ich glaube, die Quintana ist an der Reihe.«

»Die was?«, fragte ich.

»Die Quintana.« Sie deutete auf eine merkwürdige Vorrichtung an der einen Seite des Turnierplatzes, ein paar Meter von der königlichen Galerie entfernt. »Das ist ein Pfahl mit einem sich drehenden Kreuz. Wie du siehst, hängt an einem Ende des Kreuzes eine hölzerne Attrappe und am anderen ein Sandsack. Der Ritter muss mit der Lanze in die Attrappe stechen und dann so schnell wie möglich davongaloppieren, um nicht vom Sandsack getroffen zu werden, der von dem Stoß herumgeschwungen wird. Die Quintana ist ein Wettkampf, in dem es sowohl um Schnelligkeit als auch Genauigkeit geht.«

»Ein Kinderspiel.« Als sich Sir Jacques in Position begab, stimmte ich in die Schlachtrufe für Sir Peregrine ein.

Sir Jacques hob seine Lanze, zielte und gab seinem Ross die Sporen. Die Menge hielt den Atem an, und die Erde schien zu beben, als das Pferd mit donnerndem Hufschlag auf die Quintana zugaloppierte. Die Lanze des Drachenritters traf die Attrappe, das Drehkreuz wirbelte herum, das Seil, an dem der Sandsack hing, spannte sich, riss und der Sandsack wurde geradewegs auf König Wilfred zu geschleudert.