9

HÄTTE SICH KÖNIG Wilfred nicht rechtzeitig geduckt, wäre sein Schädel wie eine Weintraube zermanscht worden. Wäre sein Thron nicht so massiv gewesen, hätte der Höfling hinter ihm schweren Schaden genommen. Der verirrte Sandsack krachte in den Thron, der hielt dem Aufprall stand, und der Sandsack rutschte harmlos auf König Wilfreds Rücken hinab.

Stille senkte sich über das Turniergelände. Die Spannung unter den Zuschauern war greifbar. Diejenigen, die nicht schon standen, sprangen auf und warfen ängstliche Blicke zur Galerie. Sir Peregrine starrte verwirrt auf die sich drehende Quintana, während Sir Jacques abrupt sein Pferd zum Stehen brachte, seine Lanze einem verdatterten Fußsoldaten zuwarf und zur Galerie zurückgaloppierte, wohl um sich zu überzeugen, dass sein Herrscher unversehrt war.

Lord Belvedere ergriff den Sandsack und warf ihn auf den Turnierplatz, um sich dann vor den König zu knien und ihn besorgt anzuschauen. Die Höflinge und Burgfräulein erhoben sich von ihren Stühlen und versammelten sich aufgeregt um den grauhaarigen Majordomus. Die Soldaten verharrten auf ihren jeweiligen Posten und tauschten beunruhigte Blicke aus.

König Wilfred richtete sich langsam wieder auf, setzte sich die heruntergefallene Krone wieder auf, winkte Lord Belvedere zu sich und erhob sich, um zu seinen Untertanen zu sprechen. Er breitete die Arme aus, grinste fröhlich und rief: »Ziel verfehlt!«

Ein paar Zuschauer kicherten zögerlich, doch als mehrere einstimmten, wurde das Turniergelände mit einem Mal von Gelächter und beherztem Applaus erfüllt. Das Publikum würdigte König Wilfreds Humor in dieser Situation.

Der nahm die Beifallsbezeugungen gütig entgegen, ließ sich wieder auf den Thron nieder und bedeutete seinen Höflingen, zu ihren Plätzen zurückzukehren. Als alle wieder saßen, nickte er Lord Belvedere majestätisch zu. Kurz darauf dröhnte dessen Stimme erneut durch die Lautsprecher.

»Verehrte Lehnsherren, meine Damen und Herrn«, sagte er. »Unser tapferer Monarch möchte, dass der Tjost beginnt. Was sagt ihr dazu?«

Ein Chor begeisterter Rufe erhob sich. Die Zuschauer begrüßten die Entscheidung des Königs, über den Vorfall mit dem Sandsack hinwegzugehen und mit dem Turnier fortzufahren. Während sich die Ritter zum Kampf vorbereiteten, ging ein erwartungsvolles Raunen durch die Reihen.

Ich starrte auf den Seilstummel, der von der Quintana baumelte, und setzte mich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch wieder neben Lilian auf die Erde.

»Hast du das gesehen?«, fragte ich.

»Und ob. Scheint, als hätten die Kirmesveranstalter mit einigen Kinderkrankheiten zu kämpfen.«

»Kinderkrankheiten?« Ich drehte mich zu ihr und starrte sie an. »König Wilfred wäre beinahe zwei Mal am selben Tag umgekommen, und da redest du von Kinderkrankheiten?«

»Natürlich, was sollte das sonst sein? Ein Putsch?« Sie gluckste unbeschwert, als wäre diese Möglichkeit völlig an den Haaren herbeigezogen. »Du solltest nicht vergessen, Lori, dass die König-Wilfred-Kirmes eine Art Theater ist. Und Pannen gehören zum Theater. Schauspieler fügen sich mit Schwertern Wunden zu, Requisiten gehen zu Bruch, Kulissen stürzen ein. War ja zu erwarten, dass es am Eröffnungstag zu ein paar kleineren Pannen kommt, aber ich bin sicher, dass die Startschwierigkeiten bis morgen behoben sind.«

»Aber Calvin wäre beinahe getötet worden«, sagte ich abermals. »Nicht nur ein Mal, sondern zwei Mal.«

»Er ist beide Male wunderbar damit klargekommen, findest du nicht? Er legte die Würde und gute Laune an den Tag, die man von einem frohgemuten Monarchen erwarten darf. Ich bin ziemlich beeindruckt von seinem sicheren Auftreten. Pst, gleich beginnt der Tjost.«

Ich presste die Lippen zusammen und wandte mich entschlossen dem Turnierplatz zu. Es hatte keinen Sinn, weiter mit Lilian zu diskutieren, konnte ich doch nicht beweisen, dass sie falsch lag. Es stimmte: Im Theater kam es zu Zwischenfällen. Schauspieler wurden von Zeit zu Zeit verletzt. Mochte ich Edmond Deland auch verdächtigen, das Seil der Quintana und die Brüstung des Torhauses manipuliert zu haben, bezeugen konnte ich seine Tat nicht. Ich hatte mir nur vorgestellt, dass er es getan hatte, und dass ich meiner Vorstellungskraft nicht trauen durfte, wusste ich nur allzu gut.

Während Lilian und ich uns unterhielten, hatten die Ritter ihre federgeschmückten Helme aufgesetzt, ihre Schutzschilde ergriffen und sich von den Fußsoldaten ihre schweren Lanzen reichen lassen. Bewaffnet und gerüstet, standen sie sich auf der Länge des Turnierplatzes gegenüber. Auf der Galerie erhob sich ein blondes Burgfräulein und ließ ein langes Seidentuch über das Geländer baumeln. Sir Jacques’ Pferd scharrte mit den Hufen, und Sir Peregrine warf ungeduldig den Kopf in den Nacken. Die Ritter rückten ihre Schutzschilde zurecht und hoben die Lanzen. Für das Burgfräulein der Moment, um das Seidentuch fallen zu lassen.

Die Ritter gaben ihren Rössern die Sporen, die mit wildem Hufgetrappel in gestrecktem Galopp aufeinander zustoben. Als sie auf gleicher Höhe waren, zielte Sir Peregrine, und seine Lanze krachte in den Schild mit dem Drachen. Die Lanze zersplitterte, und Sir Jacques wurde aus dem Sattel gehoben, fiel und landete hart auf dem Rücken. Der Drachenritter rappelte sich wieder auf, sah atemlos und verstört drein, doch als Sir Peregrine zu ihm zurückritt, um die Kapitulation des Gegners entgegenzunehmen, sprang der hoch, ergriff mit einer Hand den Einhornschild und zog Sir Peregrine aus dem Sattel.

Die Menge brüllte vor Vergnügen, als die Ritter sich ihrer Helme entledigten und die Schwerter zogen. Als wäre dies das Stichwort, nahmen die Soldaten Waffen aus den Gestellen und begannen einander zu attackieren. Die Knappen sprangen hastig herbei, um die Pferde in Sicherheit zu bringen.

»Ein Buhurt!«, rief Lilian vergnügt über den Lärm hinweg.

In der Mitte des Kampfplatzes klirrten erbittert die Schwerter der Ritter, während die Fußsoldaten mit Spießen, Streitkolben, Morgensternen, Stangen und Streitäxten hantierten. Das Ganze sah aus wie eine Art Kampfballett. Bei all dem Springen, Zur-Seite-Hüpfen, Ducken, Herumtänzeln, Herumwirbeln und den vielen Ausweichmanövern hätte es mich nicht gewundert, wenn auch der Sport des Ohrabschneidens wieder zu Ehren gekommen wäre. Doch die Krieger schienen zu wissen, was sie taten. Wie Lilian vorausgesagt hatte, waren die Bewegungen eher theatralisch als tödlich, und die König-Wilfred-Kirmes wurde nicht durch Blutvergießen befleckt.

Als sich der Staub wieder gelegt hatte, sah man Sir Peregrine in Siegerpose dastehen, den Fuß auf dem Brustharnisch von Sir Jacques und die Schwertspitze an dessen Hals. Die Soldaten verharrten bewegungslos in Erwartung der Entscheidung ihres Eroberers.

»Flehe um Gnade«, brüllte Sir Peregrine, »oder stirb.«

»Gnade!«, knurrte Sir Jacques.

Gut die Hälfte der Zuhörer murrte enttäuscht, als Sir Peregrine seinen besiegten Feind freigab und sich vor dem König verbeugte. Doch als der Drachenritter auf die Füße sprang, über den Kopf von Sir Peregrine hinweg mit dem Schwertheft das Seidentuch vom Boden schnappte, um den Sieg doch noch für sich zu beanspruchen, wurden ihre Lebensgeister wieder entfacht.

»Bescheißen, um zu gewinnen!«, riefen die Bauernmädchen, und alle fielen ausgelassen in ihren Sprechgesang ein.

Sir Jacques und seine Soldaten zogen unter einer Mischung aus Beifalls- und Buhrufen triumphierend vom Turnierplatz. Der besiegte Sir Peregrine erklärte, dass er bald wieder zum Kampf antreten werde, und führte seinerseits seine Soldaten in das weiße Zelt. Die Knappen zogen die Zeltbahnen wieder hinab, der König und seine Entourage verließen die Galerie, und das Ritterturnier war zu Ende.

»Nun«, sagte Lilian, »ich muss sagen, dass Calvin recht hatte, als er prophezeite, wir würden unser Eintrittsgeld nicht zurückverlangen. Allein der Tjost war jeden einzelnen Penny wert.«

»Wo gehst du als Nächstes hin?«, fragte ich.

»Nach Hause, wo ich noch einmal versuchen werde, Teddy zu überzeugen, dass er unbedingt ein Kostüm tragen muss.«

»Ich bewundere deine Hartnäckigkeit«, sagte ich. »Bill habe ich bereits aufgegeben.«

»Nur nicht verzweifeln. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Ich könnte noch stundenlang hierbleiben, aber die Pflicht ruft. Bleibst du noch?«

»Ein wenig.« Ich deutete mit einem Nicken zum Zelt hinüber. »Ich möchte nach den Zwillingen sehen, ehe ich mich auf den Weg mache.«

»Natürlich.« Lilian sammelte die Überbleibsel ihres Imbisses zusammen und stand auf. »Ich hoffe, wir sehen uns morgen in der Kirche.«

»Bestimmt, wenngleich ich nicht versprechen kann, dass Bill und die Jungen mitkommen.«

»In diesem Fall werden wir zumindest zu zweit sein, um Teddys Predigt anzuhören. Nach all den Wundern der König-Wilfred-Kirmes würde ich es fast für ein Wunder der anderen Art halten, wenn uns in der Kirche noch jemand Gesellschaft leistet.« Lilian nickte wohlgelaunt und folgte dem Strom von Tjost-Fans, der sich die Pudding Lane hinabzog.

Ich warf meine Imbissabfälle in einen Papierkorb und schlenderte dann langsam den kleinen Abhang hinab, am Zaun des Turnierplatzes entlang, bis ich zur königlichen Galerie gelangte. Eine Weile hielt ich mich noch in ihrem Schatten auf, bis sich der Picknickplatz geleert hatte und der Turnierplatz still dalag, abgesehen von zwei Mädchen im Teenageralter, die sich mehr für das Zelt zu interessieren schienen als für mich. Eine Zeit lang beobachtete ich sie, um sicherzustellen, dass sie mir keine Beachtung schenkten, dann kletterte ich unter den zwei Zaunstangen durch und ging zu der Stelle, wo der Sandsack lag.

Tatsächlich war er noch immer dort, wohin Lord Belvedere ihn geschleudert hatte, halb unter der vom Ritterkampf aufgewühlten Erde begraben. Ich wusste, dass ich das Seilende, das an der Quintana baumelte, nicht erreichen konnte, doch würde mich meine bescheidene Größe nicht davon abhalten, den Seilrest zu untersuchen, der am Sandsack hing.

Ich ging in die Hocke und nahm das Seil in die Hände. Die stramm verwobenen Hanfstränge waren fast so dick wie mein Handgelenk und sahen weder alt noch abgenutzt aus. Das überraschte mich nicht. Es war einleuchtend, dass die Quintana zu Beginn der Kirmes mit einem neuen, stabilen Seil ausgestattet worden war. Die Vorrichtung musste schließlich stark genug sein, um den mächtigen Stößen der Krieger standzuhalten.

Ich ließ das Seil durch meine Hände gleiten und nahm dann das Ende zwischen die Finger. Wenn es durch Abnutzung gerissen wäre, hätten überall am Seilende ungleich lange Hanffasern zu sehen sein müssen. Stattdessen war nur ein Teil stark ausgefranst. Die restlichen Fasern waren so gleichmäßig wie die Oberfläche einer Zahnbürste. Es sah aus, als hätte jemand die Hälfte des Seils durchgeschnitten, in der Hoffnung, dass es ganz reißen würde, wenn eine Lanze mit Wucht auf die Holzattrappe traf.

»Ich wusste es«, flüsterte ich. »Sabotage, also doch.«

Meine Hände zitterten, als ich das Ausmaß meiner Entdeckung begriff. Ich hatte nicht aus dem Blauen heraus einen Mörderplot ersonnen. Der Plot war erschreckend real. Jemand versuchte, König Wilfred zu ermorden.

Mein erster Impuls war, zu König Wilfred zu laufen und ihm zu sagen, dass sein Leben in Gefahr sei. Doch die Erinnerung an Lilians unbeschwertes Glucksen ließ mich innehalten. Ohne weiteres hatte sie die Idee eines Putsches als absurd abgetan, und ich zweifelte nicht im Geringsten, dass andere ihr zustimmen würden. Der König selbst hatte die zwei Anschläge auf sein Leben mit einem Lachen beiseitegewischt, und seine Kameraden schienen die Vorfälle genauso sorglos hinzunehmen. Wenn ich mit meiner Dreiecksgeschichte, in der eine Handsäge und ein durchtrenntes Seil eine gewisse Rolle spielten, zu Calvin Malvern ginge, würde er mich entweder für verrückt halten oder mir einen Job als Geschichtenerzählerin auf seiner Kirmes anbieten. So lange ich meine Behauptungen nicht mit handfesten Beweisen untermauern konnte, machte es keinen Sinn, andere einzuweihen.

Nachdenklich betrachtete ich das Seil. Hätte ich ein Messer dabeigehabt, hätte ich das Ende abgeschnitten, um es als Beweis aufzuheben. Unglücklicherweise war eine Nagelfeile der schärfste Gegenstand in meiner Umhängetasche. Gerade als ich erwog, mich des Schwertes von Sir Peregrine zu bedienen, vernahm ich eine Stimme.

»Mylady?«

Ich ließ das Seil fallen und blickte schuldbewusst auf. Ein Mann, der außerhalb des Zauns stand, blickte in meine Richtung. Die Sonne war in seinem Rücken, deshalb konnte ich sein Gesicht nicht gut erkennen, aber seine Silhouette war atemberaubend. Die weiten Ärmel seines weißen Hemds hingen lose von seinen breiten Schultern, und die dunkle Strumpfhose hüllte zwei verführerische Beine ein, die dem Sieger der Tour de France Ehre gemacht hätten.

»Hallo«, sagte ich und richtete mich auf.

»Einen guten Tag.« Der Mann sprang über den Zaun und kam auf mich zu. »Ihr erkennt mich nicht, meine Schöne?«

»Nein, ich kenne Sie nicht, außerdem bin ich nicht Ihre Schöne …« Ich hielt keuchend den Atem an, als der Mann nah genug war, dass ich seine vertrauten Züge ausmachen konnte.

»Bill?«

»Der bin ich, meine Süße.« Bill verbeugte sich mit schnörkelreicher Handbewegung. »Ich dachte, du würdest nach dem Turnier ins Zelt kommen. Jedenfalls hatte ich nicht erwartet, dich spielend im Sand anzutreffen.«

»Bill?«, sagte ich nochmals und starrte ihn an.

Als ich meinen Gatten zuletzt gesehen hatte, trug er ein Polohemd, Khakishorts, eine Baseballkappe und Turnschuhe, doch seither hatte seine Erscheinung eine radikale Verwandlung durchgemacht. Bill sah nicht mehr wie ein biederer Vorort-Dad aus. Er sah aus wie der Held in einem romantischen Liebesroman. Der V-Ausschnitt seines Hemds wurde von einem Lederband zusammengehalten, er trug einen breiten Ledergürtel um die Taille, dazu kniehohe Lederstiefel, und auf dem Kopf saß kess ein bauschiges Samtbarett. Die weiße Straußenfeder, die sich schwungvoll darüber bog, zitterte leicht, wenn er sprach.

»C’est moi, chérie«, sagte er. »Warum spielst du im Dreck?«

»Ich spiele nicht … ich … ähm.« Ich verstummte, ehe ich einen neuen Anlauf nahm: »Ach, egal. Und was machst du in diesem Aufzug?«

»Gefällt es dir?« Er streckte eine Zehenspitze aus, um sein wohl geformtes Bein zu präsentieren.

»Ob es mir gefällt?« Ich starrte ihn an. »Du Lügner. Und zu mir sagst du: ›Niemals. Punkt. Ende der Diskussion‹?«

»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte Bill. »Calvin Malvern hatte ein paar Kostüme übrig und bot mir an …«

»Ah, ich verstehe.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete ihn von oben herab. »Calvin Malverns Wort hat also mehr Gewicht als das deiner Frau. Würdest du nicht so unverschämt sexy aussehen, würde ich dich verhauen.«

»Sehe ich unverschämt sexy aus?«, fragte er geziert.

»Das weißt du ganz genau«, erwiderte ich. »Aber wenn du glaubst, dass das auch nur die geringste Wirkung auf mich hat, bist du auf dem …«

Bill brachte mich zum Schweigen, indem er mich in die Arme riss und mich so küsste, dass ich einen Moment lang alles um uns rum vergaß. Als er mich wieder auf die Füße stellte, waren meine Knie so weich, dass ich mich an ihn lehnen musste, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

»Du hast gemogelt«, beschwerte ich mich, wenngleich nicht sehr nachdrücklich.

»Es ist Kirmes«, sagte er scherzend.

Ich trat etwas zurück, um ausgiebig sein Kostüm zu betrachten. »Wen oder was sollst du eigentlich darstellen?«

»Einen mittelalterlichen Gecken.« Er hakte die Daumen in seinen Gürtel. »Jetzt sag mir, Lori. Was tust du auf dem Turnierplatz?«

Ich brachte es nicht über mich, den Augenblick zu zerstören, indem ich meinem Mann erzählte, ich sei gerade dabei, den Mordanschlag auf den guten König Wilfred aufzuklären und Beweise zu finden, dass ein liebeskranker, pferdeäpfelaufklaubender Hausmeister dahintersteckte, also sagte ich ihm, ich suche nach Souvenirs.

»Welche Art Souvenirs?«, fragte Bill verwirrt. »Ausgeschlagene Zähne? Ich könnte mir vorstellen, dass du ein paar finden würdest, wenn du lange genug in der Erde wühlst, aber warum solltest du das tun? Komm mit mir, mein geliebtes verrücktes Huhn. Ich werde ein besseres Souvenir für dich finden.«

»Ich hätte gern ein Messer«, sagte ich prompt.

Bill wölbte die Augenbrauen. »Ein Messer?«

»Ja.« Ich nickte. »Alle Bauernmädchen tragen Messer an ihren Gürteln. Mein Kostüm wird nicht komplett sein ohne ein Messer.«

»Ich denke, ein Messer für dich zu finden wird ein Kinderspiel sein. Calvin hat ein ganzes Waffenarsenal. Du musst es dir unbedingt anschauen …«

Als wir in Richtung Zelt gingen, redete Bill weiter, aber ich hörte nicht zu. Ich dachte schon wieder an das einzige Beweisstück, das ich bislang ausgegraben hatte. Mein Messer würde scharf wie ein Rasiermesser sein müssen, um das dicke Seil durchzuschneiden, überlegte ich, und ich würde mir eine Entschuldigung einfallen lassen müssen, damit ich ohne Bill und die Zwillinge das Zelt verlassen konnte.

»Ich muss zugeben, dass du mich ein wenig überraschst, Lori.«

Der Klang meines Namens drang durch das Dickicht meiner Gedanken zu mir durch, und ich zwang mich, zu antworten. »Warum bist du überrascht?«

»Du hast mit keinem Wort die Quintana erwähnt«, sagte er.

Ich warf ihm einen verzagten Blick zu, während ich mich fragte, ob er schon wieder, viel zu schnell, meine Gedanken gelesen hatte. »Die Quintana? Warum hätte ich die Quintana erwähnen sollen? Was ist denn so interessant an ihr?«

Wir waren beim Zelteingang angekommen, doch Bill machte keine Anstalten, die Zeltplane zur Seite zu ziehen. Stattdessen sah er lächelnd auf mich herab und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, was du auf dem Turnierplatz getan hast«, sagte er sanft.

»Du weißt es?« Ich sah ihn unsicher an.

»Du warst beunruhigt wegen des Unfalls, deshalb hast du beschlossen herauszufinden, warum das Seil gerissen ist.«

»Richtig. Das habe ich getan.« Das war ja auch, zumindest ansatzweise, die Wahrheit.

»Calvin sagte mir, es sei ein dummer Unfall gewesen.« Bill drückte beruhigend meine Schulter. »Cal hat Hunderte von Ritterturnieren erlebt, aber noch nie, dass sich ein Sandsack auf diese Weise befreite. Der Seilmacher, er wohnt in Bristol, kann sich nicht erklären, wie es passieren konnte. Er fertigt seine Seile von Hand und überprüft jeden Zentimeter, ehe er sie verschickt. Er glaubt, dass das Seil auf dem Transport beschädigt wurde. Das neue Seil wird eingehend untersucht werden, ehe man es an der Quintana befestigt. Die Chance, dass so etwas wieder passiert, ist theoretisch gleich null.«

»Okay«, sagte ich.

»Ich bin stolz auf dich, weil du so cool geblieben bist«, fuhr Bill fort. »Ich hatte eigentlich erwartet, dass du in Tränen aufgelöst über das Turniergelände irrst, um sicherzustellen, dass den Jungen nichts geschehen ist.«

»Will und Rob hielten sich nicht im Gefahrenbereich auf. Außerdem waren sie bei dir. Warum hätte ich mir also Sorgen um sie machen sollen?«

»Es gab eine Zeit, als du nichts anderes tatest, als dir Sorgen um sie zu machen. Wenn ich mich richtig erinnere, hast du letzten Oktober geglaubt, sie würden von einem Vampir verfolgt.«

»Es besteht kein Grund, das Vampirfiasko zu erwähnen«, murmelte ich, errötend.

»Ich will ja nur sagen, dass du enorme Fortschritte gemacht hast. Ich bin sehr stolz auf dich.« Er beugte sich hinab, um mich auf die Stirn zu küssen, ehe er die Bahnen der Zeltöffnung teilte.

Der Gestank, der aus dem Zelt waberte, verscheuchte jeden rationalen Gedanken. Er war so durchdringend, so schrecklich vielschichtig und so erbarmungslos, dass ich einen Schritt zurücktrat und spürte, wie mir übel wurde.

»Jesses Gott!«, rief ich aus. »Ist hier drinnen jemand gestorben?«

»Wie meinst du das?«, fragte Bill.

»Es stinkt bestialisch.« Ich hielt mir die Nase zu. »Es riecht, als wenn jemand ein Jahr lang dieselben Socken getragen und sie dann auf den Misthaufen geworfen hat.«

»Ach, das.« Bill kratzte sich am Kinn. »Ich nehme an, ich habe mich daran gewöhnt.«

»Deine olfaktorischen Nerven haben aus reinem Selbsterhaltungstrieb die Arbeit eingestellt. Und ich muss sagen, ich kann sie verstehen.«

»Es ist eine Kombination aus Schweiß, Pferdegeruch und Reste vom Mittagsimbiss«, erklärte Bill. »Einige der Männer haben Austern gegessen.«

»Haben sie noch nichts von Ventilatoren gehört? Oder von Deodorant?«

»Das würde auch nichts helfen. Die Jungs, die die Soldaten spielten, tragen wattierte Hemden unter ihren Jacken, und da sie alle passionierte Darsteller von historischen Ereignissen sind, benutzen sie diese Hemden seit Jahren. Während des Kampfs schwitzen sie beträchtlich, der Schweiß tränkt das Futter, und das Aroma verweilt.«

»Verweilt?«, sagte ich grinsend. »Es ist stark genug, um Blei zu schmelzen. Haben sie schon mal versucht, die wattierten Hemden zu waschen?«

»Das bezweifle ich«, sagte Bill. »Unsere noblen Krieger haben eine ziemlich mittelalterliche Einstellung zur Körperpflege.«

»Ein Stück Seife ist Teufelszeug?«

Bill nickte. »So in etwa.«

»Warum lassen sie den Zelteingang nicht offen, damit etwas Luft hereinkommt?«

»Ihnen wird wohl nicht bewusst sein, dass gelüftet werden müsste«, erklärte Bill geduldig. »Im Übrigen wollen sie verhindern, dass ihre Ausrüstung nass wird oder dass ein aufkommender Sturm sie wegbläst.«

»Ich kann nicht glauben, dass sie hier drinnen Mittag gegessen haben«, sagte ich und fächelte die ekelhaften Gerüche von meinem Gesicht weg. »Gibt es eine Möglichkeit, Will und Rob zu sehen, ohne hineinzugehen?«

»Aber natürlich. Wir gehen einfach um das Zelt herum anstatt mittendurch. Ich werde später nach einem Messer für dich fahnden und es mit nach Hause bringen, wenn wir fertig sind.«

»Warte«, sagte ich schnell. Ich hatte das Messer schon wieder vergessen gehabt. »Vielleicht bin ich auch zu pingelig. Schließlich ist es ein mittelalterlicher Jahrmarkt. Und der muss … atmosphärisch sein.« Ich straffte die Schultern. »Lass uns hineingehen.«

»Bist du sicher?«, fragte Bill.

»Wenn du dich daran gewöhnt hast, dann kann ich es auch«, sagte ich und marschierte entschlossen ins Zelt.

Es hätte schon mehr als ein stinkendes Zelt gebraucht, um mich davon abzuhalten, den Feind des Königs zu fangen.