10

MEIN ERSTER EINDRUCK vom Innenleben des Zeltes vermittelte mir nicht nur das Gefühl, einen Blick hinter die Bühne zu werfen, sondern eine Zeitreise zu machen. Es gab keinen Generator, der mit seinem Brummen den Frieden und die Ruhe hier gestört hätte. Die einzige Lichtquelle war das Tageslicht, welches durch den Zeltstoff hereinsickerte, und es war nur das Knacken der imposanten Stützbalken zu vernehmen. Der gestampfte Lehmboden war mit Binsen und der breite Mittelgang zehn Zentimeter dick mit echtem Stroh ausgelegt.

Der Raum war durch Seile in einzelne Sektionen unterteilt, die sich zwischen den mit Gerste umwickelten Eisenpfeilern spannten; die Pfeiler sahen aus, als wären sie von einem strammen Schmied aus dem 14. Jahrhundert gefertigt worden. Waffen und Rüstungen lagen oder hingen ordentlich in Holzgestellen und an Ständern, die die linke Zeltseite säumten. Die wattierten Hemden und Lederjoppen der Soldaten lagen in ordentlichen Stapeln an der rechten Zeltwand auf dem Boden. Darüber befand sich ein Holzregal, in dem die zusammengerollten Fahnen und Banner verstaut waren, die die Kinder auf den Turnierplatz getragen hatten.

Die farbenprächtigen Schabracken der Pferde und das federgeschmückte Zaumzeug hingen an einem Seil über einer langen Reihe Sattelböcke, auf denen die Ponysättel und die größeren und aufwendiger geschmückten Sättel der Ritter abgelegt waren. Die hintere Zeltbahn konnte bis zur Decke hochgerollt werden, wie Bill mir erklärte. Dort wurden die Pferde herein- und hinausgelassen.

Der Ankleidebereich im vorderen Zeltbereich war mit Holzbänken ausgestattet, einer Handvoll dreibeiniger Hocker, einem antiken Spiegel voller Flecken und einem bedeckten Wasserfass mit einer Holzkelle. Auf einer Bank stand eine Zinnplatte, auf der sich Austernschalen türmten, doch die Männer, die die Austern verzehrt hatten, waren nirgendwo zu sehen.

»Wo sind die alle?«, fragte ich.

»Die Anscombe-Manor-Truppe ist mit den Ponys draußen auf der Koppel. Die Knappen sind ebenfalls dort, um nach Angelus und Lucifer zu schauen, und der Rest des Ritterturnier-Teams ist ins Camp zurückgegangen.«

»Lass mich raten«, sagte ich. »Angelus ist der Schimmel und Lucifer der Rappe?«

»Vorhersehbar, aber wahr.« Bill nickte. »Angelus gehört natürlich Perry und Lucifer Jack.«

»Wer sind Perry und Jack?«

»Sir Peregrine der Reine und Sir Jacques de Poitiers. Wenn sie außer Dienst sind, heißen sie Perry und Jack. Die Soldaten nennen sie Pretty Perry und Randy Jack, aber nicht ihnen gegenüber.« Bill warf einen verstohlenen Blick zur hinteren Wand und beugte sich dann zu mir, um in vertrauensvollem Gemurmel weitere Informationen preiszugeben. »Offenbar bringt Perry mehr Zeit als üblich vor dem Spiegel zu, und Jack glaubt, es gut mit den Damen zu können, wobei die Soldaten mir sagten, dass die Ladys das nicht unbedingt so sehen.«

Der merkwürdige Wandel in Bills Gebärden und Stimme legte die Vermutung nahe, dass auch er schließlich der endemischen Krankheit zum Opfer gefallen war, die in Finch grassierte. Ich hatte sie mir bereits eingefangen, kurz nachdem wir ins Cottage gezogen waren, aber Bill hatte es irgendwie geschafft, sie sich vom Leib zu halten – bis jetzt.

»Du tratschst ja!«, sagte ich triumphierend.

»Bekenne mich schuldig«, sagte Bill kleinlaut. »Es passiert leicht, dass man angesteckt wird. Hier redet jeder immerzu über jemand anderen.«

»Wirklich?« Ich versuchte es nicht zu zeigen, aber Bills Worte erfüllten mich mit Hoffnung. Während ich den Tag damit zugebracht hatte, das öffentliche Gesicht der Kirmes zu beobachten, hatte er ihre private Seite erlebt. Er hatte ausreichend Gelegenheit gehabt, alle möglichen nützlichen Dinge über König Wilfred, Edmond Deland und die kleine Mirabel zu erfahren. »Hast du jemanden schlecht über König Wilfred reden hören?«

»Nein. Jeder scheint Calvin zu mögen.«

»Ist er bei den Frauen beliebt?«

»Keine Ahnung. Warum? Willst du dich etwa für die Rolle der Königin bewerben?«

»Ich habe bereits meinen König«, sagte ich lächelnd. »Haben sich viele Frauen für die Rolle der Königin beworben?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht mal, ob diese Position überhaupt zu besetzen ist. Calvins Budget sieht möglicherweise keine Königin vor.« Bill beschrieb eine ausladende Geste mit dem Arm. »Wie wär’s mit einer Führung?«

»So lange wir einen großen Bogen um die wattierten Hemden machen«, sagte ich skeptisch.

Während wir durch das Zelt gingen, ermahnte ich mich zur Geduld. Bills offensichtliches Desinteresse am Liebesleben von König Wilfred war zwar enttäuschend, aber nicht überraschend. Mein Mann war noch ein Neuling im Tratschspiel. Er benötigte noch einiges an Übung, um meinen Standards zu entsprechen.

Bill zeigte mir Sir Peregrines zerbrochene Lanze, erklärte mir die Wappensymbole auf Lucifers Sattel und wies darauf hin, welch hohes handwerkliches Können in den Kettenhemden steckte. Wir untersuchten gerade den verbeulten Schutzschild von Sir Jacques, als die Zeltbahn an der hinteren Wand ein Stück hochgehoben wurde und ein junger rothaariger Knappe hereinkam, einen Eimer mit Striegeln, Hufkratzern und weiteren Putzutensilien in Händen.

»Harold!«, rief Bill. »Darf ich dir meine Frau vorstellen. Harold le Rouge ist Sir Peregrines Schildknappe«, erklärte er und fügte leise hinzu: »Sein richtiger Name ist Tommy Grout.«

»Kein Wunder, dass er ihn geändert hat«, murmelte ich.

Harold verstaute den Eimer unter Sir Peregrines Sattelbock und kam dann herüber, um mich zu begrüßen. Nachdem wir einander offiziell vorgestellt worden waren und er aufgehört hatte, seine Kappe zu lüpfen und sich zu verbeugen, fragte Bill ihn, ob ich mir ein Messer aus dem Waffenarsenal des Königs borgen könne.

»Eurer werten Dame steht es frei, meines zu nehmen«, sagte Harold ohne zu zögern.

»Nein, das kann ich nicht«, rief ich verlegen aus.

»Ich habe noch einige, Mylady Ihr würdet mir eine große Ehre erweisen, wenn Ihr diese Kleinigkeit von mir annehmet.« Er löste das Messer samt Scheide von seinem Gürtel, beugte das Knie und hielt mir das Messer hin.

Ich nahm es dankbar an und erkannte auf den ersten Blick, dass es alles andere als eine »Kleinigkeit« war. Die Scheide war handgefertigt und mit Steppstickerei verziert, und der Horngriff des Messers in Messing eingefasst. Aber was noch bedeutender war: Die glänzende Klinge war beinahe fünfzehn Zentimeter lang und äußerst scharf. Es eignete sich bestens für den Zweck, den ich verfolgte.

»Danke, Harold«, sagte ich. »Ihr habt das Zeug zu einem galanten Ritter.«

»Ich hoffe, mich dieser Ehre eines Tages würdig zu erweisen.« Er richtete sich wieder auf. »Ich fürchte, ich muss Euch jetzt verlassen, Freunde. Mein Meister erwartet mich im Camp.«

»Wir begleiten Euch hinaus«, sagte Bill. »Unsere Söhne erwarten uns.«

»Ich bin froh, ihn nicht um eine Strumpfhose gebeten zu haben«, flüsterte ich Bill zu, während ich das Messer in meiner Umhängetasche verstaute.

»Harold sicher auch«, sagte Bill sanft.

Wir unterdrückten ein Lachen und folgten dem Knappen auf der hinteren Zeltseite hinaus und in einen kleinen Stallbereich mit zwei Pflöcken, zwei Wassertanks und mehreren Eimern, Seilen und Schaufeln. Die Pferdeanhänger von Anscombe Manor standen etwa zehn Meter entfernt am Ende eines Sandwegs, der vermutlich zur Oxford Road führte, und die Pferde grasten auf der benachbarten Weide.

Harold verabschiedete sich von uns – nach weiteren Verbeugungen und weiterem Kappelüpfen – und eilte in Richtung einer Pappelgruppe jenseits des Pferdeanhängers. Will, Rob, Alison und Billy saßen auf dem Weidezaun und sahen ihren Ponys beim Grasen zu, während Lawrence McLaughlin, Emma und die Pferdepfleger beim Zaun standen und sich unterhielten. Die Jungen trugen noch immer ihre historischen Gewänder, nur Emma hatte ihr blattgrünes Kleid mit einer ausladenden Schürze bedeckt. Als sie mich erblickte, machte sie die Jungen auf mich aufmerksam, die augenblicklich vom Zaun sprangen und auf mich zurannten.

»Mami, hast du uns gesehen?«, fragte Will.

»Hast du uns bei der Parade gesehen?«, wollte Rob wissen.

»Das wisst ihr doch«, ich umarmte beide, »ihr habt mich ja auch gesehen.«

»Wir haben dich auch gehört«, ließ Rob mich wissen.

»Du warst ganz schön laut«, sagte Will.

»Dann muss ich es wohl gewesen sein«, meinte ich, »wenn ihr mich über die Menge hinweg gehört habt.«

»Ja, das konnten wir«, bekräftigte Bill liebevoll.

»Perry sagt, wir reiten besser als Jack«, verkündete Rob.

»Und Jack sagt, wir reiten besser als Perry«, erklärte Will.

»Und was sagt Emma?«, fragte ich.

»Sie sagt, dass wir noch viel trainieren müssen«, sagte Rob.

»Das sagt sie doch immer«, meinte Will.

»Und sie hat immer recht«, sagte Emma, die hinter ihnen auftauchte. »Ihr habt eure Sache gut gemacht, dafür dass es das erste Mal war. Aber nächste Woche werden wir das Tragen der Flaggen weiter üben. Wir müssen die Hände ruhiger halten und den Trab gleichmäßiger.«

»Wir werden die Halunken aufspießen!«, schrie Rob.

»Die Pocken sollen sie kriegen, die Schurken!«, schrie Will.

Die Jungen galoppierten davon, um zu Fuß einen Tjost nachzuspielen, während ich Bill einen verwunderten Blick zuwarf.

»Sie waren den ganzen Tag in Gesellschaft von Soldaten«, erklärte er. »Da ließ es sich nicht vermeiden, dass sie ein paar neue Ausdrücke aufschnappten. Das macht die Geschichte für sie umso lebendiger.«

»›Die Pocken sollen sie kriegen, die Schurken‹? Ihre Lehrer werden Ohren machen, wenn sie den Satz auf dem Schulhof hören.« Ich schüttelte den Kopf, ehe ich mich zu Emma umdrehte, um sie von oben bis unten zu betrachten. »Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erlebe, da du dich aufbrezelst wie Lady Marian. Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich dich beim Festumzug sah.«

»Ich weiß«, sagte sie mit selbstzufriedenem Lächeln. »Es macht Spaß, die Menschen hin und wieder zu überraschen. Dein Gesichtsausdruck war Gold wert.«

»Im Vergleich zu dir und Bill komme ich mir schrecklich underdressed vor. Aber morgen werde ich wieder Boden gutmachen.« Mit einem Nicken deutete ich zur Koppel hinüber. »Warum habt ihr die Ponys noch nicht verladen?«

»Sie werden die Nacht hier verbringen«, sagte Emma. »Morgen nach der Vorführung bringen wir sie in den Reitstall zurück. Weniger Stress für alle Beteiligten.«

»Emma«, sagte Rob, der von seinem kurzen Tjost zurückkehrte, »hast du Mami und Daddy von dem Festgelage erzählt?«

»König-Wilfred-Festgelage«, stellte Will klar, der neben Rob auftauchte.

»Danke für die Erinnerung, meine Lords.« Emma zerwuschelte Robs Haar und wandte sich dann an Bill und mich. »König Wilfred hat uns alle zum Abendessen eingeladen. Ich habe zugesagt, und die anderen aus unserer Truppe auch, aber für euch konnte ich natürlich nicht sprechen.«

Bill sah mich an. »Sollen wir?«

»Du und die Jungen, ihr solltet unbedingt«, sagte ich.

Will und Rob jauchzten vor Freude und galoppierten davon, um die gute Nachricht mit Alison und Billy zu teilen. Ich beschränkte mich auf ein inneres Jauchzen und pries in Gedanken König Wilfred, der mir somit die Gelegenheit gab, allein zum Turnierplatz zurückzukehren.

»Willst du nicht mitkommen, Lori?«, fragte Bill. »Ich bin sicher, unser edler Monarch wird Platz für einen weiteren Gast an seiner Tafel haben.«

»Vielleicht nächstes Mal«, sagte ich und schob gleich eine Ausrede hinterher, die noch dazu stimmte: »Ich hätte keine Sandalen anziehen sollen. Meine Füße bringen mich um. Ich kann es kaum erwarten, sie in einem heißen Bad einzuweichen.«

»Du kannst es nur nicht erwarten, den männlichen Duft aus dem Zelt abzuwaschen«, sagte Bill neckend.

»Das auch. Im Übrigen glaube ich nicht, dass es dir und den Jungen schwerfallen wird, euch ohne mich zu amüsieren. Wo wird das Festgelage stattfinden?«

»Im Camp.« Bill deutete zu der Pappelgruppe. »Hinter den Bäumen. Ich habe es noch nicht gesehen, mir aber sagen lassen, dass es recht beeindruckend ist.«

»Du kannst mir heute Abend davon berichten«, sagte ich. »Ich will nur noch den anderen Hallo sagen, ehe ich gehe.«

Bill, Emma und ich schlenderten zum Zaun. Ich lobte die Kinder und wünschte ihnen und den Pferdepflegern ein schönes Fest. Als sie gemeinsam auf die Pappelgruppe zugingen, drehte ich mich um und hastete mit angehaltenem Atem in das Zelt. Ich lief den Mittelgang hinab, spähte durch einen Spalt im Zelteingang, um sicherzugehen, dass die Luft rein war, und sah zu meiner großen Enttäuschung schon von weitem, dass das Seil nicht mehr an der Quintana hing.

Eine böse Ahnung ließ mich auf den Turnierplatz eilen, und als ich vor der Galerie ankam, hatte ich eine unbändige Wut im Bauch. Der Sandsack lehnte am Zaun, doch das Seil war weg. Während ich mich durch das Zelt führen ließ und angeregt plauderte, hatte jemand sämtliche Spuren des Mordversuchs verwischt.

Ich war sicher, dass Edmond Deland der Übeltäter war. Gewiss gehörte es zu seinem Job, auf dem Turnierplatz für Ordnung zu sorgen, so wie er die Broad Street sauber gefegt hatte, nachdem die Pferde vorbeigezogen waren. Niemand würde also etwas gegen sein Tun einwenden oder seine Absichten hinterfragen, nachdem er die zwei nunmehr nutzlosen Seilenden in seinen Schubkarren geworfen und sie weggebracht hatte. Er konnte ungestraft wichtiges Beweismaterial entfernen und vernichten, weil niemand ahnte, dass es sich um solches handelte.

Ich hielt Ausschau nach Edmond, ohne damit zu rechnen, ihn hier noch zu sehen. Wenn er klug war, stand er jetzt an einem Lagerfeuer und sah dabei zu, wie meine wertvollen Beweise in Rauch aufgingen.

Ich seufzte entmutigt, bemerkte, dass meinen Kleidern noch immer ein Hauch mittelalterlicher Soldatenausdünstung anhaftete, und beschloss, es für heute gut sein zu lassen.

König Wilfred würde ohne meine Hilfe die Nacht überstehen müssen. Ich hatte das Bedürfnis, nach Hause zu gehen und mich neu zu sammeln. Vor allem aber, mit Tante Dimity zu sprechen.

 

Ich hatte gedacht, ich würde dem großen Besucherstrom entgehen, wenn ich die Kirmes eine Stunde vor Torschluss verließ. Unglücklicherweise hatten Hunderte weiterer Besucher dieselbe Idee. Eine Fahrt, die normalerweise zehn Minuten dauerte, verwandelte sich in einen vierzigminütigen Stop-and-go-Albtraum, wie man ihn auf einem Highway in Los Angeles hätte erwarten können.

Wie Lilian Bunting vorausgesagt hatte, war die Straße zu unserem Cottage von Autos verstopft, deren Fahrer dem Irrglauben aufgesessen waren, dass eine kleine Panoramastraße eine Abkürzung wäre. Schon vor langem hatte ich herausgefunden, dass in England eine Panoramaroute eine äußerst zeitintensive Angelegenheit war. Während ich mich Meter für Meter vorankämpfte und der plärrenden Musik aus den Autoradios, den Streitgesprächen und dem unaufhörlichen Heulen der Kinder aus den benachbarten Wagen lauschte, hoffte ich, dass die auswärtigen Autofahrer eine Lehre aus dieser Erfahrung ziehen und in Zukunft die Nebenstraße meiden würden.

Als ich schließlich im Cottage eintraf, begrüßte mich Stanley mit einem erbärmlichen Miauen, und ich kraulte ihn ausgiebig, ehe ich ihn fütterte und frisches Wasser in seinen Napf gab. Dann ging ich nach oben, um mein Kleid im Wäschekorb zu entsorgen und in ein nach Gardenien duftendes Schaumbad zu steigen. Dort blieb ich, bis das Pochen in meinen Füßen nachließ und das männliche Aroma aus dem Zelt nur noch eine entfernte Erinnerung war.

Erfrischt, zog ich saubere Shorts und ein langärmeliges T-Shirt an, ehe ich in die Küche zurückkehrte, um mir einen Salat zum Abendessen zu machen. Es war eine Weile her, dass ich mein letztes Stück Honigkuchen gegessen hatte, und ich wollte nicht, dass meine Unterhaltung mit Tante Dimity durch Magenknurren gestört wurde. Während ich den Salat putzte, brachte ich auch Ordnung in meine Gedanken. Wenn ich sie nicht in ruhiger, schlüssiger Weise darlegen konnte, würde Tante Dimity mich wohl kaum für voll nehmen.

Ich wusch gerade eine Hand voll Radieschen, die ich in meinem kleinen Gemüsegarten geerntet hatte, als durch das offene Fenster das Bimmeln von Glöckchen an mein Ohr drang. Augenblicklich fielen mir Jinks’ vage Andeutungen über Intrigen hinter den Kulissen wieder ein und ich überließ die Radieschen sich selbst, um in den Garten zu eilen. Ich brannte darauf, alles zu erfahren, was er mir über König Wilfred berichten konnte.

Jinks wartete auf dem Zaunübertritt auf mich, noch immer in sein Hofnarrenkostüm gehüllt.

»Kommen Sie herunter und essen Sie mit mir zu Abend«, sagte ich.

Er quittierte die Einladung mit einer Verbeugung, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Ich bedaure, aber heute Abend kann ich Ihrer Einladung leider nicht folgen, Lori. Mein Herr und Meister erwartet meine Anwesenheit bei dem Festgelage, aber ich wollte nicht den Eindruck erwecken, ich hätte Sie vergessen.«

»Können Sie nicht nach dem Essen wiederkommen?«, fragte ich.

»Das könnte ich, aber dann würden Sie bereits tief und fest schlafen. Der König und sein Hof werden bis in die frühen Morgenstunden zechen.«

»Das wohl kaum«, sagte ich und runzelte die Stirn, »morgen ist Sonntag. Die Kirmes wird geöffnet haben. Wenn sie die ganze Nacht durchzechen, werden sie morgen zu müde sein, um zu arbeiten.«

»Zechen ist ihre Arbeit«, sagte Jinks. »Glücklicherweise erholen sie sich schnell wieder vom Trinken, quasi in dem Moment, da sie damit aufhören.«

»Können wir uns morgen auf der Kirmes treffen? Sie haben sicherlich mal Pause.«

Ein verblüfftes Lächeln kräuselte Jinks’ schiefen Mund. »Ich kann mich nicht erinnern, wann eine schöne Frau sich zum letzten Mal nach meiner Gesellschaft gesehnt hat. Ich würde gern glauben, dass Sie meinem umwerfenden Aussehen nicht widerstehen können, aber da ich nicht darüber verfüge, müssen Sie sich aus anderen Gründen zu mir hingezogen fühlen. Was ist es?« Seine Augenbrauen wölbten sich fragend nach oben. »Machen Sie sich etwa immer noch Sorgen wegen der eingestürzten Brüstung?«

Wäre ich in Besitz des abgerissenen Seilstücks gewesen, hätte ich ihn womöglich in meinen Verdacht eingeweiht. Doch ich stand mit leeren Händen da und beschloss daher, meine Vermutungen für mich zu behalten.

»Ich mache mir wegen gar nichts Sorgen«, sagte ich fröhlich. »Die Kirmes fasziniert mich, das ist alles. Ich habe das Gefühl, als hätte ich eine neue Welt entdeckt. Deshalb hatte ich gehofft, mit jemandem wie Ihnen plaudern zu können, der diese Welt so gut kennt.«

»Ihre Enttäuschung trifft mich zutiefst.« Jinks rieb sein spitzes Kinn und schwieg einen Augenblick. »Morgen habe ich während des Ritterturniers Mittagspause. Wir könnten uns um zwei hinter der Shire Stage treffen. Ich bringe ein paar Köstlichkeiten mit, dann können wir ein gutes altmodisches Schwätzchen halten, während wir speisen.«

»Also, dann um zwei Uhr morgen Nachmittag.«

»Bis morgen.« Er warf mir eine Kusshand zu. »Adieu, schöne Maid.«

»Ciao, unverschämter Kerl.«

Er verschwand über den Zaunübertritt, und ich kehrte in die Küche zurück, um mein Abendessen fertig zu machen. Inzwischen war ich so hungrig, dass ich die Radieschen so wie sie waren hätte herunterschlingen können, doch ich bezwang meinen Hunger, schnitt sie in Scheiben, mischte sie mit dem Blattsalat und setzte mich an den Tisch, um meine lang ersehnte Mahlzeit zu mir zu nehmen. Gerade als ich eine Gabel voll blättrigen Grüns zu meinem wässrigen Mund führte, hörte ich, wie die Haustür geöffnet wurde.

»Lori?«, rief Bill. »Wir sind da.«

Schweren Herzens legte ich die Gabel zurück auf den Teller. Ein Blick auf die Wanduhr sagte mir, dass ich Bill und die Jungen vor nicht einmal zwei Stunden auf der Kirmes zurückgelassen hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum sie so früh nach Hause gekommen waren, doch nach einem letzten sehnsuchtsvollen Blick auf meinen Salat ging ich in die Diele, um es herauszufinden.

Meinen Liebesromanhelden dabei zu beobachten, wie er den Zwillingen die Reitstiefel auszog, war es beinahe wert, eine Mahlzeit zu verpassen. Die Jungen, in ihren Samttuniken prachtvoll anzusehen, saßen auf dem Boden und streckten die Beine in die Luft, während Bill, mit flatternder Straußenfeder am Barett, über sie gebeugt war. Seine Position verdeutlichte mir einmal mehr die Vorzüge von Männern in Strumpfhosen.

»Was macht ihr denn hier?«, fragte ich. »Warum seid ihr nicht beim Festgelage?«

»Lass es mich so formulieren: Es ist nicht gerade eine jugendfreie Veranstaltung. Ich werde dir später darüber berichten. Jetzt gehen Ihre Lordschaften und ich erst mal nach oben und nehmen ein dringend benötigtes Bad. Ich hoffe, es besteht die Möglichkeit, zu Hause ein Festmahl zu bekommen, wir sind nämlich am Verhungern.«

»Tötet das gemästete Kalb!«, brüllte Will und schwenkte seine kleine Faust in der Luft.

»Bier! Bier! Bier!«, rief Rob.

»Ach du lieber Gott!«, sagte ich matt.

»Während wir unser Bad nehmen«, kündigte Bill an, »werden die Jungen und ich uns ein wenig über gute Manieren unterhalten.«

»Eine ausgezeichnete Idee.« Ich deutete mit einer Kinnbewegung zur Küche. »Inzwischen bereite ich das Festmahl zu.«

Da ich es versäumt hatte, Vorräte von gemästetem Kalb anzulegen, gab es Lachspasteten und einen vorzüglichen gemischten Salat zum Abendessen. Will und Rob beklagten sich nicht, ebenso wenig verlangten sie Bier statt Milch. Sie sprachen mit einigermaßen gedämpften Stimmen, und obwohl sie aufgeregt über ihren Tag auf der Kirmes erzählten, kam ihnen kein einziger Fluch gegen irgendwelche Schurken oder Halunken über die Lippen. Ihre Rückkehr zu zivilisiertem Verhalten ließ erkennen, dass Bills kleine Ansprache nicht auf taube Ohren gestoßen war.

 

»Ich glaube nicht, dass wir weitere Festgelage besuchen werden«, sagte Bill.

Wir beide hatten es uns auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Die Jungen waren im Bett, in der Waschmaschine drehte sich ein Berg schmutziger Wäsche, und Bills Barett, das man nicht waschen konnte, lag auf dem Beifahrersitz des Range Rovers. Ich war nicht gewillt, mir die Cottageluft durch den speziellen Zeltduft verpesten zu lassen.

»Warum nicht?«, fragte ich. »Ich dachte, ihr würdet euch köstlich beim Bankett des Königs vergnügen.«

»Das dachte ich auch. Aber das Zeltlager ist … kein Platz für Kinder. Nicht für meine Kinder zumindest.«

»Wie meinst du das?«, drängte ich.

Bill schürzte die Lippen. »Erinnerst du dich an ›freie Liebe‹?«

»Vage.«

»Im Camp ist sie noch immer groß in Mode. Und sie beschränkt sich nicht nur auf die Privatsphäre von Zelten oder Wohnmobilen. Das Ganze spielt sich unter freiem Himmel ab, vor jedermanns Augen. Ich hoffe nur, dass ich mit den Jungen rechtzeitig die Kurve gekriegt habe. Jedenfalls will ich mir die Bilder, die sie in der Schule womöglich zeichnen werden, nicht ausmalen.«

»Sind die anderen aus dem Juniorteam auch so früh gegangen?«

»Ja. Wir beschlossen spontan und ohne Absprache eine Kehrtwendung, als der erste nackte Po in Sicht kam. Wir müssen wie eine Marschkapelle gewirkt haben.« Er legte den Kopf in den Nacken und lachte, doch das Lachen verwandelte sich rasch in ein Gähnen. »Ich weiß, Liebes, es ist erst neun, aber ich bin erschlagen. Kommst du mit zu Bett?«

»Bald, aber ich muss erst noch eure Kostüme zum Trocknen aufhängen, außerdem will ich Dimity von der Kirmes erzählen.«

Bill nickte. Er war einer der wenigen Menschen, die über Dimitys fortdauernde Gegenwart im Cottage Bescheid wussten, und verstand besser als irgendjemand, wie viel sie mir bedeutete.

»Vergiss nicht, Dimity von dem nackten Hintern zu berichten«, sagte er.

»Bestimmt nicht.«

Bill hatte es halb im Spaß gesagt, ich jedoch nicht. Ohne es zu wissen, hatte er mir einen Hinweis geliefert, der sich möglicherweise als wesentlich für das Puzzle erweisen sollte, das zusammenzufügen ich mich bemühte. Und ich hatte ganz bestimmt vor, mit Tante Dimity darüber zu sprechen.

An der Tür zum Arbeitszimmer trennten wir uns. Bill ging nach oben ins Schlafzimmer und ich auf dem kürzesten Weg zum blauen Notizbuch. Ich hatte ausreichend Zeit gehabt, meine Gedanken zu ordnen. Wenn ich sie noch viel länger für mich behielt, lief mein Kopf Gefahr zu explodieren.