15
»HINWEG MIT DIR, du jämmerliche, feige Finne!«
»Du wagst es, mich eine Finne zu nennen, du stammelnder, verdorbener Schleimer?«
»Ja, wahrlich, das tue ich. Denn so nennen dich alle ehrenwerten Männer, du schwachköpfige, hohläugige Madenpastete!«
»Malzwurm!«
»Taubenei!« Das Publikum hielt sich den Bauch vor Lachen, während sich ein übertrieben extravagant gekleidetes elisabethanisches Höflingspaar einen Beschimpfungswettbewerb auf der Shire Stage lieferte. Die farbenfrohe Palette an Ausdrücken rief mir in Erinnerung, wie farblos die englische Sprache im Laufe der letzten sechshundert Jahre geworden war. Es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, jemanden eine Finne zu nennen, geschweige denn eine Madenpastete. Trotzdem hoffte ich, dass diese Ausdrücke nicht Will und Rob zu Ohren kämen.
Die Höflinge unterbrachen ihren verbalen Schlagabtausch und baten Freiwillige auf die Bühne, um sich ihnen anzuschließen. In dieser kleinen Pause vernahm ich ein entferntes Bimmeln. Ich straffte die Schultern, nahm die freche Pose eines derben Frauenzimmers an und schlüpfte an den vollbesetzten Bänken vorbei hinter die Bühne. Dort saß ein Bauchredner mit einer Skelettattrappe und wartete auf seinen Auftritt. Wieder schien mein Trick zu wirken, denn weder der Bauchredner noch die Attrappe nahmen an meiner Anwesenheit Anstoß.
Jinks wartete ein paar Meter hinter der Bühne in der Nähe des Sichtschutzzauns, der das Kirmesgelände umgab, die Arme um einen großen mit einem Tuch bedeckten Picknickkorb geschlungen. Er lächelte, als er mich sah, und sagte dann leise, um die Aufführung nicht zu stören: »Seid gegrüßt, Mylady.« Er senkte den Kopf über den Korb und fügte hinzu: »Folgt mir, bitte.«
Er führte mich hinter eine Budenreihe und zu einem kleinen, beinahe unsichtbaren Tor im Zaun. Zweifelnd betrachtete ich es. Ich hatte nicht vorgehabt, das Gelände zu verlassen.
»Wo gehen wir hin?«, fragte ich.
»Weg von den Geräuschen des Volkes und den Gerüchen der Ziegen, Lämmer und Kälber«, antwortete er. »Versteht mich nicht falsch, schöne Dame. Aber ich bin kein Freund von bukolischen Schauplätzen. Mein Magen rebelliert allein schon beim Gedanken, in der Nähe des Streichelzoos zu Mittag zu speisen!«
Wir hätten die störenden Gerüche der Tiere ebenso gut vermeiden können, hätten wir uns zum Picknickplatz begeben, doch erhob ich keine weiteren Einwände, als Jinks das Tor öffnete, und betrat bereitwillig den angrenzenden Wald. Er hatte wohl das Bedürfnis, der Kirmes zu entkommen. Durch seinen Job hatte er mit unzähligen Menschen Kontakt, und an seiner Stelle hätte ich meine Mittagspausen ebenfalls an einem ruhigen Zufluchtsort verbracht. Auch hätte ich, wann immer es ging, meine Mahlzeiten unter freiem Himmel zu mir genommen statt in dem engen Wohnmobil.
Der Wald war mir vertraut, doch ließ ich Jinks den Vortritt. Nach einem Dutzend Schritten nahm er seine Narrenkappe vom Kopf, legte sie über den Korb und wartete, bis ich auf seiner Höhe war, um dann neben mir zu gehen. Ich vermisste das unaufhörliche Bimmeln nicht und er offensichtlich auch nicht. Während wir Seite an Seite gemächlich weitergingen, plauderten wir über die Putztrupps, die König Wilfred nach Finch entsandt hatte, die Alkoholkontrollen, die auf Horace Malverns Betreiben durchgeführt würden, und den Besucherstrom auf der Kirmes. Schließlich kam Jinks auf unser fehlgeschlagenes Treffen vom vorigen Abend zu sprechen.
»Ich möchte mich nochmals dafür entschuldigen, Sie gestern Abend versetzt zu haben.«
»Keine Ursache.« Ich zuckte die Achseln. »Ein Hofnarr muss tun, was ein Hofnarr tun muss.«
»Ein Hofnarr muss tun, was sein König ihm befiehlt«, sagte er lachend. »Normalerweise macht es mir nichts aus, aber gestern Abend tat es das. So gern ich mit den Jungs zeche, hätte ich meine Zeit lieber mit dir verbracht, Lori.«
»Lori?«, sagte ich, die Entrüstete mimend, nachdem er zum vertraulichen Du übergegangen war. »Wo ist ›Mylady‹ geblieben?«
»Sie ist hier, neben mir.« Er maß mich flüchtig von Kopf bis Fuß, ehe er fortfuhr: »Wenn ich frei habe, benutze ich die Kirmessprache für gewöhnlich nicht, aber wenn dir daran liegt, kann ich eine Ausnahme machen.«
»Meinetwegen musst du deine Rolle nicht weiterspielen«, versicherte ich ihm. »Ich würde verrückt werden, müsste ich vierundzwanzig Stunden am Tag die Leute unterhalten. Soll ich dich lieber Rowan statt Jinks nennen?«
»Das nicht«, sagte er. »Das würde zu viele schmerzliche Erinnerungen an meine Schulzeit wachrufen.« Er zuckte leicht zusammen, als wir über einen Baumstamm stiegen.
»Schmerzliche Erinnerungen?«, sagte ich neckend.
»Schmerzende Knie.« Er hielt inne, um sich das linke Knie zu reiben. »Während des Umzugs bin ich nach einem Flickflack nicht gut gelandet. Meine Gelenke sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.«
»Wem sagst du das? Aber glücklicherweise ist heute Sonntag. Dir bleibt die restliche Woche, um dich zu erholen.«
»Ich scheine immer mehr Zeit zu brauchen, mich zu erholen«, sagte er mit einem schiefen Lächeln.
»Wenn das so ist, dann lass mich doch einen Termin bei meiner Nachbarin für dich vereinbaren, bei Miranda Morrow. Sie ist eine ausgezeichnete Masseurin und Homöopathin. Wenn du dich in ihre Hände begibst, wirst du dich wieder kerngesund fühlen, ehe du dich’s versiehst.«
»Danke aus tiefsten Knien«, sagte er. »Unglücklicherweise werden sie nächste Woche weit weg von Finch sein. Sie fahren nämlich mit mir nach Cheltenham, wo ich den Sommer über unter der Woche in der Wohnung eines Freundes wohnen kann.«
»Da bin ich aber froh«, sagte ich.
»Du bist froh? Warum?«
»Ich habe dein Wohnmobil gesehen. Für Wochenenden ist es ja okay, aber einen ganzen Sommer wollte ich nicht darin verbringen.«
»Ich auch nicht, und deswegen habe ich Vorkehrungen getroffen.« Jinks blieb unvermittelt stehen. »Nun, was meinst du? Taugt dieser Platz für unser Picknick?«
Wir standen am Ufer eines glitzernden Bachs, der sich durch eine Lichtung schlängelte. Sonnenlicht rieselte durch das Blattwerk, das sich eine frühlingshafte Üppigkeit bewahrt hatte; das Wasser sprudelte und spritzte über moosbewachsene Steine und sorgte für eine natürliche Musik, die weit sanfter in den Ohren klang als der konstante Kirmeslärm und meine angespannten Nerven beruhigte. Zwischen dem langen Gras wuchsen Wildblumen, die die Luft mit zarten, süßlichen Wohlgerüchen erfüllten. In den Bäumen zwitscherten Vögel.
»Er ist wunderbar«, sagte ich. »Ist das dein geheimer Ort?«
»Unser geheimer Ort, von jetzt an«, sagte er.
»Wenn der Bishop’s Wood weiter entfernt von Finch läge, würde ich dir zustimmen. Aber ich vermute, dass die meisten meiner Nachbarn schon an diesem Platz gepicknickt haben. Zum Beispiel weiß ich, dass Miranda Morrow in diesem Wald Kräuter sammelt.«
»Dann müssen wir einfach so tun, als wäre er geheim. Wir tun so, als wären wir die ersten Menschen, die ihren Fuß hierhergesetzt haben. Wir werden Adam und Eva vom Bishop’s Wood sein.«
»Wenn ich eine Schlange sehe, bin ich hier weg«, erklärte ich.
Jinks stellte stöhnend den Picknickkorb auf die Erde und legte eine Hand ins Kreuz. Ich befahl ihm, sich auf einen umgefallenen Baum zu setzen und mir die schweren Arbeiten zu überlassen. Während er mit den Knöcheln seine schmerzenden Muskeln massierte, breitete ich die Decke auf dem Gras aus und packte die Köstlichkeiten aus, die Jinks aus dem Camp mitgebracht hatte: kalte Hühnerbrust, dunkelrote Erdbeeren, getrocknete Feigen, Honigkuchen, einen runden Brotlaib, ein großzügiges Stück Cheddarkäse und eine Flasche Riesling.
»Der Wein stammt aus meinem eigenen Keller«, verkündete er und ließ sich behutsam auf die Decke sinken. »Glaub mir, man kann der Zecherei mit Dunkelbier überdrüssig werden.« Er entkorkte die Flasche mit einem Korkenzieher, füllte zwei Plastikgläser mit Wein und reicht mir eines. »Einen Toast, Mylady?«
»Auf König Wilfred«, sagte ich und hob das Glas. »Lang möge er herrschen.«
»Auf den König«, sagte Jinks. Er stieß mit mir an und stellte sein Glas dann neben sich, um sich von der Hühnerbrust zu bedienen. Während er kaute, ließ er seine grünen Augen ein gutes Stück unterhalb meines Kinns wandern. »Ich hatte ganz versäumt, dich zu deinem Gewand zu beglückwünschen. Es steht dir ausnehmend gut.«
»Danke«, sagte ich ohne eine Spur Verlegenheit. Jinks arbeitete schon so lange bei Mittelalterfesten, dass er den Anblick von historischen Kleidern wie meinem gewohnt war. »Ich wollte mich eigentlich als Hofdame verkleiden, aber meine Schneiderin hatte nicht genügend Zeit, mir ein aufwendiges Gewand zu nähen, und deshalb gehe ich eben als Bauernmädchen.«
»Hofdamen sind öde«, sagte er abschätzig. »Als Bauernmädchen bist du besser dran. Vielleicht mit weniger Würde ausgestattet, aber bestimmt mit mehr Freiheiten, und ich wüsste, was ich vorziehen würde. In die Rolle der Bauernmädchen schlüpfen meistens die vollbusigen Mitglieder unserer Truppe, aber nicht immer. Und, wie man an deinem Beispiel so schön sehen kann, lassen sich mit einem gut sitzenden Mieder wunderbare Effekte erzielen.«
»Es ist nicht schlecht«, sagte ich und ließ den Blick verstohlen an mir herabwandern. »Bill hat mein Gewand noch nicht gesehen, aber ich denke, er wird es mögen.«
»Falls nicht, ist er ein größerer Narr als ich.« Jinks schaute einen Moment abwesend auf den Boden, dann blickte er wieder hoch, um mit seiner Analyse meines Aufzugs fortzufahren. »Historisch gesehen solltest du dein Haar nicht kurz tragen – sogar Nonnen hatten im Mittelalter langes Haar –, aber deine Locken sind einfach wunderbar, also lassen wir es durchgehen. Außerdem hast du einen alten Rennie-Trick benutzt …«
»Rennie?«, unterbrach ich ihn.
»Als Rennie bezeichnet man einen Hardcore-Renfest-Teilnehmer«, übersetzte er. »Einer, der jahraus, jahrein von einem Mittelalterfest zum nächsten reist, für den es eher eine Lebensart ist als ein Hobby. Du bist eine weltliche Besucherin, eine Außenstehende, Teil des Publikums, aber tatsächlich käme niemand auf die Idee, wenn er dich in diesem Aufzug sieht. In deinem Fall besteht der klassische Rennie-Trick darin, dass du dein kurzes Haar unter einer Haube verbirgst, und damit hast du genau die richtige Entscheidung getroffen.«
»Das ist das Verdienst meiner Schneiderin. Sie hat das Kostüm entworfen.«
»Aber du bringst es so wunderbar zur Geltung.«
»Genug«, sagte ich und drohte ihm mit einer Hühnchenkeule. »Ich bin froh, zu wissen, dass dir mein Kostüm gefällt, und bin mir bewusst, dass Komplimente zu deiner Rolle gehören, aber dein Maß an Schmeicheleien gegenüber einer verheirateten Frau ist hiermit ausgeschöpft.«
»Gibt es denn ein Maß dafür?«, fragte er unschuldig.
»Ganz bestimmt, und jetzt ist es voll. Lass uns das Thema wechseln, okay? Ist es wahr, dass jemand Calvins Krone gestohlen hat?«
Jinks verschluckte sich an seinem Riesling und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Dann starrte er mich ungläubig an. »Du hast von der Krone gehört? Ich sag ja: Auf einem Mittelalterfest verbreiten sich Neuigkeiten im Nu.«
»Klingt ganz nach Finch. Also, stimmt es? Wurde die Krone gestohlen?«
»Sie wird vermisst«, sagte Jinks vorsichtig. »Ob sie gestohlen wurde oder einfach verlegt, wird sich noch herausstellen. Niemand hat in Cals Wohnmobil eingebrochen, also würde ich eher auf Verlegen tippen.«
»Wie kann Calvin seine Krone verlegt haben? Zumal sie mit den Juwelen seiner Mutter besetzt ist?«
»Bei meiner Treu«, sagte Jinks, dessen Augen sich vor Entzücken weiteten, »du bist wahrlich auf dem Laufenden.«
»Ich halte die Ohren offen«, sagte ich bescheiden, »und warte immer noch gespannt auf deine Antwort. Wie konnte Calvin etwas verlegen, was ihm so viel bedeutet?«
»Nach einer durchgezechten Nacht kann es einem leicht passieren, dass man etwas verlegt, was nicht direkt an den Körper festgebunden ist.« Jinks streckte sich seitlich aus, stützte den Kopf in die Hand und knabberte an einer Feige. »Heute Morgen, bevor die Kirmes öffnete, haben wir nach der Krone gesucht, sie aber nicht gefunden.«
»Du scheinst dir keine Sorgen deswegen zu machen.«
»Nein, das tue ich nicht.« Er steckte den Rest der Feige in den Mund. »Streiche und Schabernack gehören zum Campleben, Lori. Ich rechne fest damit, dass die Krone nächstes Wochenende wieder auftaucht, auf dem Kopf eines Ponys womöglich.«
»Glaubst du, dass der Unfall mit der Quintana auch auf einem Streich beruhte?«, fragte ich.
»Nein«, sagte er ernster. »Unsere Leute mögen zwar einen recht derben Humor haben, aber sie würden sich davor hüten, an den Geräten des Turnierplatzes herumzufummeln. Das ist zu gefährlich. Die Ursache für den Quintana-Unfall war zweifelsfrei ein defektes Seil.«
»Bist du dir da sicher? Hat es jemand nach dem Unfall untersucht?«
»Ja, natürlich. Edmond hat es zum Camp gebracht …«
»Edmond hat das Seil zurückgebracht?«, fiel ich ihm ins Wort.
»Sicher. Er ist unser Mädchen für alles. Es gehört zu seinem Job, den Turnierplatz nach der Show in Ordnung zu bringen. Als er fertig war, kam er mit dem Seil zum Camp, wo wir es gemeinsam in Augenschein nahmen.« Jinks’ Augen zogen sich zusammen, während er mich neugierig musterte. »Warum interessierst du dich so sehr für das Seil, Lori?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte ich und ließ den Kopf sinken, um seinem durchdringenden Blick auszuweichen. »Mir scheint nur, dass Calvin seit der Kirmeseröffnung eine ungewöhnliche Pechsträhne hat.«
»Und du glaubst … was?«, fragte Jinks.
Ich nahm Harold le Rouges Messer aus der Scheide und schnitt eine Scheibe von dem Cheddarkäse ab.
»Lori«, sagte Jinks mit ungläubigem Ton, »du glaubst doch nicht etwa, dass jemand unseren geliebten Monarchen um die Ecke bringen will?«
Ich spürte, wie der ganze obere Teil meines Körpers errötete.
»Du warst bei einer Reihe von Unfällen dabei oder hast davon erfahren, und nun folgerst du daraus, dass ein … ein Thronanwärter versucht … Königsmord zu begehen?« Jinks rollte sich auf den Rücken und schüttete sich aus vor Lachen. »Läutet die Alarmglocken! Haltet die Augen offen! Schreit Zeter und Mordio! Niederträchtige Schurken haben es auf das Leben des Königs abgesehen!« Er lachte leise vor sich hin, bis er schließlich tief einatmete und amüsiert seufzte. »O Lori, du gehörst in meine Welt. Du hast genau die richtige Fantasie!«
Ich hob rasch den Kopf. »Ich fantasiere nicht!«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Ich konnte nicht länger an mich halten. »Drei Stunden vor Eröffnung der Kirmes höre ich, wie jemand mit einer Handsäge hantiert – eine Person und eine Handsäge –, und kurz darauf werde ich Zeugin, wie ein Teil der Brüstung herabstürzt. Und zwar mitten in der Eröffnungszeremonie, als sich Calvin darauflehnt. Wenige Stunden später wird er um ein Haar von einem fliegenden Sandsack enthauptet, und als ich mir das Seil anschaue, sieht es so aus, als hätte jemand es zur Hälfte angeschnitten. In derselben Nacht verschwindet Calvins Krone, und am nächsten Morgen stellt man fest, dass jemand die Kanone manipuliert hat und … und …« Ich schlug mit der Faust auf die Erde. »Ich bilde mir nichts ein!«
»Nein, nein, natürlich tust du das nicht.« Jinks richtete sich stöhnend auf und streckte mir beschwichtigend eine Hand entgegen. »Aber wer sollte unserem fröhlichen Monarchen Schaden zufügen wollen? Cal ist der beste Chef der Welt. Jeder liebt ihn.« Er ließ die Hand sinken, und seine Stimme wurde zu einem gönnerhaften Schnurren. »Wäre es möglich, dass du ein bisschen zu viel in die Dinge hineininterpretierst?«
»Es … wäre möglich«, gestand ich steif.
»Die Säge zum Beispiel«, fuhr er fort. »Ist es tatsächlich so verwunderlich, dass du sie gehört hast? Die Bauarbeiter waren die ganze Nacht damit beschäftigt, an verschiedenen Stellen letzte Hand anzulegen. Die Farbe am Torhaus war noch feucht, als die Eröffnungszeremonie begann, und der Wehrgang war alles andere als fertig. Die Brüstungsteile wurden durch provisorische Streben gestützt. Calvin hätte wissen müssen, dass er sich nicht mit seinem Gewicht darauflehnen konnte.«
»Alle Brüstungsteile waren lose?«, sagte ich und runzelte zweifelnd die Stirn. »Du hast mir doch erzählt, dass der Wehrgang absolut sicher sei.«
»Ich wollte nicht, dass du deinen ersten Tag auf der Kirmes damit verbringst, dir Sorgen zu machen, ob das Torhaus hält oder jeden Augenblick in sich zusammenstürzen könnte. Die Wahrheit ist, dass einige Arbeiten noch in Gang waren.«
»Aber die Sache mit der Quintana ist eine ganz andere«, sagte ich. »Jemand könnte das Seil manipuliert haben, nachdem die Ritter zur Eröffnungszeremonie gegangen waren und der Turnierplatz verlassen dalag.«
»Der Turnierplatz liegt nie verlassen da.« Jinks lächelte nachsichtig. »In der Nähe des Zeltes hält sich immer eine Schar Mädchen auf, die auf die Gelegenheit warten, mit den Knappen, Soldaten oder Rittern zu flirten. Tödliche Waffen scheinen sie magisch anzuziehen.«
»Mein Mann hat nichts von einer Schar junger Mädchen erwähnt«, sagte ich.
»Ein weiser Mann«, murmelte Jinks.
»Wie meinst du das?«
»Ehefrauen sind nicht immer begeistert, wenn es um Groupies geht«, sagte er vorsichtig und blickte gen Himmel.
»Oh«, sagte ich, während ich mir Bills Strumpfhose in Erinnerung rief. »Ich verstehe.«
»Wie auch immer«, fuhr Jinks rasch fort, »eine Quintana gäbe eine höchst unzuverlässige Waffe ab. Es ist nicht möglich vorauszuberechnen, wann genau das Seil reißt; es müsste genau im richtigen Augenblick nachgeben, damit der Sandsack auf ein bestimmtes Ziel zuschießt. Ich wüsste nicht, wie man das bewerkstelligen sollte.«
»Vielleicht will der Saboteur dem König nur Angst einjagen.«
»Niemand hat versucht, den König zu ängstigen«, sagte Jinks bestimmt. »Als wir die Transportkiste untersuchten, in der das Seil ankam, haben wir mehrere Nägel entdeckt, die nicht vollständig im Holz steckten. Die Enden ragten ein gutes Stück in die Kiste hinein. Niemand hat das Seil angeschnitten, Lori. Es wurde während des Transports in einer notdürftig zusammengenagelten Kiste beschädigt.«
»Und was ist mit der Kanone?«, fragte ich.
Jinks schürzte seine schiefen Lippen. »Wir glauben, dass sich jemand einen Spaß erlaubte. Einen dummen, gefährlichen Spaß, aber eben einen Spaß.«
Ich runzelte die Stirn. »Du hast mir gerade erzählt, dass ›Rennies‹ nicht dazu neigen, Risiken einzugehen.«
»Wir glauben nicht, dass ein Mitglied unserer Truppe dafür verantwortlich ist«, sagte er grimmig. »Zwei halbwüchsige Jungen – Kirmesbesucher, keine Mitarbeiter – wurden gestern Nachmittag in der Nähe der Kanone gesehen. Man hat sie aufgefordert zu verschwinden, aber möglicherweise sind sie später wieder zurückgekommen. Wir vermuten, dass sie es waren, ein Lausbubenstreich.« Er nahm sich ein Stück Honigkuchen. »Im Übrigen war nicht der König die Zielscheibe. Wäre jemand dabei verletzt worden, wäre es das Artillerieteam gewesen. Glücklicherweise sind sie zu gewissenhaft, um eine Feuerwaffe in Gang zu setzen, ohne sie vorher zu inspizieren.«
Wir schwiegen eine Weile. Während Jinks genüsslich sein Dessert aß, ließ ich mir seine Argumente durch den Kopf gehen. Ich hätte sie durchaus als beruhigend empfunden, wenn er wirklich für alle Ereignisse eine Erklärung geliefert hätte, aber das war augenscheinlich nicht so. Im Gegensatz zu der verbreiteten Meinung war König Wilfred nicht überall beliebt. Er hatte zumindest einen Todfeind. Mochte auch das gesamte Torhaus eine notdürftig zusammengeschusterte Konstruktion sein, so war doch nur ein Teil der Brüstung eingestürzt. Vielleicht hatte Edmond eine behelfsmäßige Strebe angesägt. Und was das Seil anging, möglicherweise hatte er es noch einmal manipuliert, bevor er es zum Überprüfen abgegeben hatte – der saubere Schnitt, den ich gesehen hatte, war jedenfalls von einem Messer verursacht worden und nicht von einem Nagel.
Ich warf Jinks einen verstohlenen Blick zu, dann sah ich zu dem glitzernden Wasser, das über moosige Steine floss. Nein, ich konnte ihn unmöglich auf Edmond und Mirabel ansprechen. Wenn ich ihn in das Liebesdreieck einweihte, würde er mich nur wieder auslachen, und ich würde ihm den Hals umdrehen müssen. Ich atmete tief ein und erinnerte mich daran, dass ich einem Mörder auf die Schliche kommen und nicht einen Mord begehen wollte.
»Eine Erdbeere für deine Gedanken«, sagte Jinks und hielt mir eine hin.
»Du hast genug von meinen Gedanken gehört, für heute reicht es«, sagte ich.
»Nimm sie trotzdem.« Er legte die Erdbeere in meine Hand. »Als ein Friedensangebot. Du siehst sehr erhitzt aus.«
»Es ist nur …« Ich zuckte hilflos die Achseln. »So ein Mittelalterfest hat es ganz schön in sich … so viele neue Eindrücke.«
Ein süßes Lächeln kräuselte Jinks’ Lippen. Er ließ sich auf den Rücken sinken, schlug die Beine übereinander, legte den Kopf in die verschränkten Hände und blickte in die Baumwipfel empor.
»Vorhin hast du gesagt, dass die Kirmes dich an Finch erinnert«, sagte er. »Ein Mittelalterfest ist in mancher Hinsicht wie ein kleines Dorf, aber wie sollte es auch anders sein? Wir sind Schauspieler. Von Emotionen getrieben. Wir haben unsere kleinen Streitereien und manchmal auch lang währende Fehden, aber wir haben auch ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und sind uns zutiefst bewusst, wie glücklich wir uns schätzen können, unsere jeweiligen Begabungen in dieser anregenden Umgebung entfalten zu können. Wenn es einen Thronanwärter gibt, bringt er den König nicht um. Er bewirbt sich für diese Rolle bei einem anderen Mittelalterfest. Oder er gründet ein eigenes.« Jinks gluckste leise, dann drehte er den Kopf zu mir. »Wir nehmen unsere Arbeit ernst, Lori, sind uns aber gleichzeitig bewusst, dass es ein Spiel ist.«
Jinks schien mir, auf möglichst nette Art, sagen zu wollen, dass mich die Kirmes so sehr gefangen genommen hatte, dass ich nicht mehr zwischen Fantasie und Wirklichkeit unterscheiden konnte. Das Gleiche hatte Edmond zu Mirabel gesagt, aber meine Reaktion war eine ganz andere als ihre. Ich zielte nicht mit vergifteten Worten auf Jinks’ wohlmeinenden Geist. Stattdessen beschloss ich zu beweisen, dass er falsch lag.
»Danke.« Ich machte eine ausladende Geste mit der Hand. »Für all das. Ich habe es wirklich genossen, deine Mittagspause mit dir zu teilen.«
»Ich hoffe, du genießt die Kirmes ebenso«, sagte er.
»Ich würde sie noch mehr genießen, wenn ich das Rezept für diese Honigkuchen bekäme«, sagte ich und sah ihn augenzwinkernd an.
»Das dürfte kein Problem sein.« Stöhnend setzte er sich auf. »Du weißt gar nicht, wie sehr ich es hasse, was ich jetzt sagen muss, Lori, aber ich muss zu meiner Arbeit zurück.«
»Ich sollte ebenfalls zur Kirmes zurückkehren. Außerdem muss ich mir überlegen, wie ich es meinen Söhnen am besten erkläre, dass ich nicht bei ihrem Auftritt auf dem Turnierplatz zugeschaut habe.«
»Sag ihnen, dass du einen Königsmord untersuchen musstest«, schlug er neckend vor. »Sie werden beeindruckt sein.«
»Gute Idee.« Schließlich sollten Mütter ihren Kindern immer die Wahrheit erzählen, sagte ich mir und lächelte still in mich hinein.