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UNSERE WEGE TEILTEN sich an dem fast unsichtbaren Tor. Jinks ging in Richtung der Great Hall, wo der König so ziemlich jeden zum Ritter schlug, der es sich wünschte, einschließlich Frauen, Kinder, kleine Hunde, und ich kehrte zum Kristallkugelstand zurück. Diesmal bereitete es mir keine Schwierigkeiten, ihn zu finden. Ich folgte einfach Peggy Taxmans Stimme und bog dann in die Gasse in der Nähe ihres Standes ein.

Die Verkäuferin war erfreut, mich wiederzusehen, möglicherweise auch nur deshalb, weil sie keine anderen Kunden hatte. Ihr »Rennie«-Name war, wie ich herausgefunden hatte, Mistress Farseeing, und sie war genauso gesprächig, wie ich es gehofft hatte. In wenigen Minuten erfuhr ich, dass sie mit ihrem Mann Hubert und einem Cockerspaniel namens Mr Wink in der Feversham Lane in Glastonbury lebte; dass sie von zu Hause aus ein Wahrsagezubehörgeschäft betrieb; dass ihren drei erwachsenen Kindern – Hubert junior, Gwen und Lance – ihre Leidenschaft für Okkultes peinlich war; und dass Edmond Deland eines der kleinsten Zelte im Camp bewohnte.

»Kaum größer als ein Handtuch«, sagte sie kichernd, »aber so gepflegt wie Lord Belvederes Bart. Im Zelt des lieben Edmond findet man auch nicht ein Staubkörnchen.«

»Sie mögen ihn, nicht wahr?«, sagte ich und rief mir die freundlichen Worte in Erinnerung, die die anderen Standverkäufer ihm zugeworfen hatten, als er über die Kirmes stapfte.

»Ja, das stimmt«, sagte sie. »Armer Kerl. Er leidet schrecklich, aber er trägt seinen Kummer mit Würde.«

»Kummer?«

»Herzensangelegenheit.« Mistress Farseeing verschränkte die Arme vor der Brust und beugte sich mit ihrer Haube zu mir. »Seine Liebste verschmäht ihn und erweist einem anderen ihre Gunst. Eine Geschichte so alt wie die Welt und doch so schmerzhaft wie ein Otternbiss.«

Ich hätte das Thema gern noch verfolgt, doch Mistress Farseeing richtete ihre Aufmerksamkeit auf eine schwarz gewandete junge Frau, die auf ihrer Haut eine staunenswerte Anzahl von Tätowierungen und Piercings zur Schau trug, sodass man fürchten musste, ihr Körper sei an einer der vielen Einstichstellen möglicherweise undicht. Da ich keine Neigung zeigte, an diesem Stand Geld auszugeben, hatte ich Verständnis für Mistress Farseeings Überlaufen und verabschiedete mich mit einem warmen Nicken.

Die Zeit für ein Schwätzchen war ohnehin um. Ich war bereit, zu handeln. Tante Dimity hatte mich ermahnt, handfeste Beweise zu finden, um meine Behauptung zu untermauern, und nach meinem Gespräch mit Jinks ahnte ich, wo ich danach suchen musste. Meine nächste Anlaufstelle würde das Camp sein.

Die Kanone schien eine Sackgasse zu sein – Teenagerstreiche interessierten mich nicht –, die abhandengekommene Krone schien mir dagegen verheißungsvoller. Jinks bezweifelte den Raub der Krone und glaubte stattdessen, dass sie von einem Mitglied der Truppe »geborgt« worden sei, der vorhatte, sie auf scherzhafte Weise zurückzuerstatten – auf dem Kopf eines Ponys zum Beispiel.

Ich hielt es für sehr viel wahrscheinlicher, dass Edmond die Krone gestohlen hatte. Nachdem seine ersten beiden Mordversuche fehlgeschlagen waren, war es für ihn eine Genugtuung, seinen Rivalen wenigstens symbolisch zu entthronen. Doch da im Wohnmobil des Königs nicht eingebrochen worden war, vermutete ich, dass Edmond impulsiv gehandelt hatte statt mit Berechnung.

Mir die Szene vorzustellen bereitete mir keine Schwierigkeiten. Im Geiste sah ich König Wilfred vom Festbankett in Richtung seines Wohnmobils torkeln, nachdem er eine Nacht lang mit seinen Kumpels gezecht hatte. Er hatte sich hinabgebeugt, um beispielsweise ein Strumpfband zu befestigen, und dabei war ihm die Krone vom Kopf gerutscht. Während er zu betrunken war, um ihr Fehlen zu bemerken, war der junge Mann, der ihn beschattete, nüchtern.

Edmond hatte die Gelegenheit ergriffen, dem König einen Schlag zu versetzen – diesmal keinen physischen, sondern einen psychischen –, indem er die Krone aufhob und damit in den Schatten der Nacht zurückhuschte. Er nahm sie mit in sein Zelt und versteckte sie zwischen seinen Sachen, wo sie bleiben würde, bis ein findiger Mensch vorbeikäme und sie fände.

Dieser findige Mensch würde ich sein. Tante Dimity würde stolz auf mich sein, wenn ich bewies, dass Edmond die Krone von König Wilfred gestohlen hatte. Ich würde in das Camp schleichen, sein Zelt ausmachen und es auf den Kopf stellen. Das Seil war mir entwischt, umso mehr war ich entschlossen, der Krone habhaft zu werden.

Als der Stadtschreier die Leute in Hörweite informierte, dass es halb vier Uhr war, raffte ich meine Röcke und beschleunigte meine Schritte. In neunzig Minuten würde die Kirmes ihre Pforten schließen und die Mitarbeiter des Festivals würden in das Camp zurückkehren. Ich musste Edmonds Zelt durchsuchen, bevor er auftauchte.

Ich huschte über den Picknickplatz, am Turnierplatz und der königlichen Empore vorbei, die von einer Horde kichernder Bauernmädchen eingenommen worden war, die, wie ich vermutete, auf der Lauer lagen, bis ein Soldat vorbeikam, ein Knappe oder ein Ritter oder irgendein anderer Mann, der sich in Strumpfhose sehen lassen konnte. Ich warf ihnen einen vernichtenden Blick zu, lief dann zum anderen Ende des Zeltes, wo ich kurz stehen blieb, um mit den Augen die Koppel und den Stallbereich abzusuchen.

Angelus, Lucifer, Thunder, Storm und Pegasus sowie die Ponys der McLaughlin-Jungen grasten friedlich auf der Koppel, doch ihre Besitzer waren nirgends zu sehen. Ich fragte mich flüchtig, wo das Team von Anscombe Manor abgeblieben war, und lief dann zu der Pappelgruppe. Die hohen, schlanken Bäume standen auf einer kleinen Anhöhe oberhalb einer großen Weide, auf der einmal Mr Malverns größte Viehherde gegrast hatte. Die Kühe hatten auf die etwas kleinere Koppel jenseits der imposanten Hecke ausweichen müssen, während ihr altes Revier in eine veritable Metropole verwandelt worden war.

Mir wurde bang ums Herz, als ich den komplexesten Campingplatz in Augenschein nahm, den ich je gesehen hatte. Er war bevölkert mit Zelten aller Größen, Formen und Farben. Die meisten gehörten zum Typ des freistehenden Nylonzelts, das auf der ganzen Welt von Freiluftanhängern benutzt wurde, doch dazwischen sah ich Tipis, Jurten, Kuppelzelte, einfache Armeezelte, zwischen Holzpflöcken aufgespannte Planen, elegante Pavillons, wie aus Arabian Nights entsprungen, und geräumige Segeltuchungetüme mit Vinylfenstern und überdachten Veranden.

Nicht weit entfernt vom Zeltdschungel standen Campingbusse in Reih und Glied. Sie waren nach Größe angeordnet, von den kleinsten Modellen ähnlich Jinks’ Campingbus bis zu dem größten, der so gigantisch war, dass man verrückt sein musste, wenn man mit ihm auf den englischen Landstraßen zu fahren versuchte. Ich beschloss, dass das letzte Wohnmobil in der Reihe Calvins sein musste, nicht nur wegen seiner königlichen Proportionen, sondern auch weil es das einzige mit einer Kanone davor war.

Da meine Chancen, Edmonds Zelt in weniger als neunzig Minuten zu finden, gegen null gingen, beschloss ich, erst einmal die Kanone zu inspizieren. Obwohl ich rein gar nichts über Feldartillerie wusste, fühlte ich mich gezwungen, irgendetwas zu untersuchen, und die Kanone war das Naheliegendste. Ich war circa zehn Schritte davon entfernt, als mich eine schroffe Stimme anrief.

Ich drehte mich um und sah in das graubärtige Gesicht des finster dreinblickenden Lord Belvedere hinauf. Er war gute dreißig Zentimeter größer als ich, und seine rechte Hand ruhte auf dem Heft eines Schwertes, das beängstigend scharf glänzte. Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete ich, er würde mich entweder umrennen oder aber zum Duell fordern.

Mit seinem Habichtblick maß er mich von Kopf bis Fuß, um dann mit donnernder Stimme zu sagen: »Wer sind Sie, und was suchen Sie hier?«

Es kam gar nicht in Frage, eine so grimmig dreinblickende Autoritätsperson anzulügen, also rückte ich so schnell wie möglich mit einem großen Teil der Wahrheit raus.

»Mein Name ist Lori Shepherd, und ich wohne Tür an Tür mit Horace Malvern … das heißt nicht direkt Tür an Tür, aber unser Grundstück grenzt an seins …«, stammelte ich, mit schriller, hektischer Stimme.

»Sie hören sich aber nicht englisch an«, knurrte er und musterte mich misstrauisch.

»Das kommt daher, weil ich keine Engländerin bin. Ich komme ursprünglich aus den Vereinigten Staaten, wohne aber seit Jahren in der Nähe von Finch. Mein Mann und ich und unsere beiden Söhne leben in einem Cottage unweit von hier. Vielleicht sind Sie ihnen begegnet? Mein Mann heißt Bill Willis – ich habe meinen Namen bei unserer Heirat nicht geändert –, und unsere Söhne heißen Will und Rob. Sie reiten beim …«

»… Umzug und beim Turnier mit«, beendete er meinen angefangenen Satz. Er schien ein wenig aufzutauen, nahm aber seine Hand nicht vom Schwertgriff. »Was machen Sie hier, in der Nähe der Kanone?«

Ich schluckte schwer. »Ich habe gehört, dass es heute Morgen eine Fehlzündung gab …«

»Es gab keine Fehlzündung«, unterbrach Lord Belvedere mich irritiert, »sie zündete überhaupt nicht.«

»Warum nicht?« Als ich sah, dass sich der Blick Seiner Lordschaft schon wieder verfinsterte, fügte ich rasch hinzu: »Es ist so, dass mir alle möglichen Gerüchte zu Ohren kamen, und ich würde den Leuten im Dorf gern berichten, was wirklich geschehen ist, damit sie nächstes Wochenende keine Angst haben, die Kirmes zu besuchen.«

»Sie können den Gerüchteköchen sagen, dass die Kanone vollkommen einsatzbereit ist«, sagte Lord Belvedere. »Heute Morgen kam sie nicht zum Einsatz, weil irgendein Vollidiot Projektile ins Rohr gesteckt hat.«

»Sind denn nicht immer Projektile im Rohr?«, fragte ich.

»Ganz gewiss nicht«, sagte Lord Belvedere mit beleidigter Miene. »Diese Kanone wird nicht als Angriffswaffe benutzt. Ihr Zweck ist es, ein weit hörbares Geräusch zu erzeugen. Wenn das Rohr nicht inspiziert, sondern mit dem Projektil gezündet worden wäre, dann wäre die Kanone wahrscheinlich explodiert und hätte die Kanoniere getötet oder aber schwer verletzt.«

»Großer Gott«, sagte ich und warf einen nervösen Blick zu der Kanone.

»Zum Glück sind unsere Männer ausgebildet«, fuhr Lord Belvedere fort. »Vor jeder Salve führen sie eine Routinekontrolle durch. Dieser dumme und gefährliche Streich wurde Gott sei Dank rechtzeitig entdeckt. Sobald die Projektile entfernt waren, wäre die Kanone wieder einsatzbereit gewesen, aber Mr Malvern war so wütend, dass wir auf ihren Einsatz verzichteten.«

»Es hört sich so an, als wüsste dieser … Vollidiot, der das getan hat, nicht allzu viel über Artilleriegeschütze und ihre Handhabung«, sagte ich. »Ansonsten wäre ihm klar gewesen, dass man seinem Streich auf die Schliche kommen würde, noch bevor er sich vom Acker hätte machen können … ähm, wörtlich gesprochen.«

»Ganz genau«, sagte Lord Belvedere.

»Was für Projektile hat er denn benutzt?«

»Da die Untersuchung der Angelegenheit noch nicht abgeschlossen ist, kann ich leider nichts dazu sagen.« Lord Belvedere hob eine stahlgraue Augenbraue. »Konnte ich Ihre Neugierde befriedigen, Madam?«

»Ja, das konnten Sie. Sehr liebenswürdig von Ihnen.« Ich drehte mich zum Zeltlager um. »Ich habe noch nie etwas Derartiges gesehen. Jinks erzählte mir …«

»Sie kennen Jinks?«, sagte Lord Belvedere.

»Ich habe ein wenig mit ihm geplaudert. Sein Camper steht auf der Weide, die an unseren hinteren Garten angrenzt.«

»Ach ja, natürlich.« Lord Belvedere nickte, als hätten ihn meine Worte an etwas erinnert. »Er braucht Platz, um seine Überschläge zu üben.«

»O ja, das braucht er«, sagte ich und wagte ein Lächeln. »Hier gibt es nicht einmal genügend Platz für eine Wüstenrennmaus. Ich glaube, ich hätte Schwierigkeiten, in diesem Durcheinander mein eigenes Zelt zu finden.«

»Es ist kein Durcheinander«, sagte Lord Belvedere. »Es ist eine mehrschichtige Gemeinschaft.« Endlich nahm er seine Hand vom Schwertgriff und bedeutete mir, ihm zu folgen. »Kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen.«

Gemeinsam gingen wir den Weg zu der Anhöhe zurück. Als wir oben waren, drehten wir uns um und betrachteten das Camp. Lord Belvedere erklärte mir den Aufbau des Lagers, bis es mir gelang, ein Muster in dem scheinbaren Chaos zu entdecken.

Die Zelte waren tatsächlich in Blöcken angeordnet, abhängig von den Rollen, die ihre Bewohner auf der Kirmes spielten. Es gab das Camp der Pendler, die nur über das Wochenende blieben, dann das »Rennie-Camp«, also das der eingefleischten Mittelalterfans, das Camp der Darsteller, das Camp der Standverkäufer, das der Ritterturnierteilnehmer und schließlich einen gemischten Bereich, der einfach nur »das andere Camp« genannt wurde. Der Wohnmobilbereich wurde als »Elektrozeile« bezeichnet, weil die größeren Fahrzeuge über eigene Generatoren verfügten.

Hygiene stand im Camp offensichtlich nicht an erster Stelle, denn der nächste Waschsalon befand sich fünfzehn Kilometer entfernt in Upper Deeping, und die sanitären Anlagen beschränkten sich auf vier mobile Duschkabinen und zwei Dutzend chemische Toiletten. Lord Belvedere versicherte mir jedoch, dass die meisten Mitglieder der Truppe ihre eigenen Waschvorrichtungen mitbrächten. Doch beim Gedanken, den ganzen Sommer – oder auch nur ein Wochenende lang – mein Haar unter einer perforierten Plastiktüte voll kalten Wassers zu waschen, schauderte es mich.

»Ich nehme an, dass Sie auch einige Handwerker hier haben, die dringend notwendige Reparaturen an den Kulissen vornehmen«, sagte ich unschuldig. »Wo sind die untergebracht?«

»Im Händlercamp.« Er zeigte auf eine Ansammlung kleinerer Zelte zur Linken eines großen mehrfarbigen Zeltpavillons.

Ich ließ den Blick über den Bereich schweifen und versuchte, mir den direktesten Weg dorthin einzuprägen.

»Tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen«, sagte Lord Belvedere. »Gleich beginnt die Schlusszeremonie.«

»Jetzt schon?«, sagte ich, und meine Enttäuschung war nicht gespielt. Ich war meinem Ziel zu nahe, um an eine Umkehr zu denken. »Ist es in Ordnung, wenn ich mich ein wenig im Camp umsehe? Ich verspreche, niemanden zu stören.«

»Und anfassen sollten Sie auch nichts«, ermahnte er mich. »Sie könnten sich verletzen, und unsere Versicherungskosten sind bereits hoch genug.«

»Ich werde nichts berühren«, versprach ich. »Also kann ich mich ein wenig umschauen, bitte?«

Lord Belvedere strich sich nachdenklich über die Stirn und erlaubte seinem Habichtblick zum ersten Mal, von meinem Gesicht abwärts zu streifen. »Natürlich, meine Liebe. Schließlich sind Sie eine Nachbarin. Und eine sehr hübsche noch dazu.« Er verbeugte sich galant. »Bis bald.«

»Bis bald.«

Während ich zum Camp ging, sandte ich Sally Pyne und ihrer Nähkunst einen stummen Dank.