22
ICH SASS AUF König Wilfreds vergoldetem Thron und sah von der Galerie aus zu, wie Horace Malvern und die fünf Soldaten, die sich als wahre Tierbändiger entpuppten, die Herde vom Turnierplatz und in gemächlichem Schritt in Richtung ihrer südlich gelegenen Weide trieben. Ich war nicht wirklich überrascht, als es mir dämmerte, dass die fünf tatkräftigen Männer, deren geistesgegenwärtigem Einsatz wir es zu verdanken hatten, dass die Rinderherde keinen größeren Schaden anrichtete, genau dieselben waren, die mich so lüstern vor dem Pavillon mit dem schwarzen Drachen angegrinst hatten. Allmählich hatte ich das Gefühl, nichts könnte mich mehr erschüttern.
Mein Mann, der Privatdetektiv, saß auf einem einfachen Höflingsstuhl und telefonierte auf seinem Handy. Ich hatte es aufgegeben, sein Gespräch zu belauschen, waren doch die einzigen Worte, die er bisher geäußert hatte, »Ja«, »Nein« und »Gut«. Damit konnte ich nicht allzu viel anfangen.
Calvin, der von der panischen Herde in Angst und Schrecken versetzt worden war, hatte sich in sein Wohnmobil zurückgezogen, um einen Kräutertee zu trinken und seine Nerven zu beruhigen. Sir James und der muskulöse Höfling, dessen Rennie-Name Lord Llewellyn of Llandudno war, hatten ihn begleitet. Ich hatte den leisen Verdacht, dass sie als seine Leibwachen fungierten.
Die Zuschauer waren ins Camp zurückgekehrt, und Mirabel hatte Edmond ins Krankenhaus nach Upper Deeping gefahren. Also hatten Bill und ich, nachdem auch noch die Kühe wieder weg waren, den Turnierplatz für uns. Bill hatte Horace Malvern, Calvin, Sir James und Lord Llewellyn gebeten, in einer halben Stunde zum Podium zurückzukommen. Dann würde er vermutlich jeden von uns vollends verwirren, indem er alles aufklärte. Mir blieb nichts anderes übrig, als Vermutungen anzustellen, da er sich geweigert hatte, mir auch nur ansatzweise eine Erklärung zu liefern.
»Warum sollte er mich ins Vertrauen ziehen?«, murmelte ich verdrießlich. »Ich bin ja nur seine Frau.«
»Hast du etwas gesagt, Lori?«, fragte Bill und legte die Hand auf die Hörermuschel.
»Ja. Aber du willst es bestimmt nicht hören.«
»Okay«, sagte Bill und wandte sich wieder seinem Telefonat zu.
Es machte mir nichts aus, dass Bill seine Aktivitäten vor mir geheim gehalten hatte, zumindest nicht viel. Mehr als alle anderen verstand ich, dass es manchmal nötig war, die Wahrheitsfindung sorgsam zu verschleiern. Doch nun, da seine Nachforschungen abgeschlossen schienen, hätte ich es doch sehr geschätzt, wenn er mich vorab in seine Entdeckungen eingeweiht hätte. Ich brannte darauf zu erfahren, ob ich mit irgendeiner meiner Vermutungen richtiggelegen hatte.
Mein Liebesdreieck war vor meinen Augen in sich zusammengestürzt. Mirabel war nicht König Wilfreds Zeitvertreib gewesen, sondern war dem klassischen Bad Guy auf den Leim gegangen, dem Lüsternen Jack. Wenn Edmond jemandem nach dem Leben getrachtet hätte, dann dem widerlichen Ritter und nicht dem fröhlichen Monarchen. Noch immer war ich mir einigermaßen sicher, dass jemand es auf Calvins Leben abgesehen hatte, mir war jedoch schleierhaft, wer dahintersteckte oder welche Motive der Bösewicht hatte. Ich erwog ernsthaft, Bill sein Handy so lange über den Schädel zu hauen, bis er mir die ersehnten Antworten gab, beschloss aber, dass es eine schändliche Art der Vergeltung gewesen wäre dafür, dass er mir das Leben gerettet hatte.
Schließlich beendete Bill sein geheimnisvolles Telefongespräch und bat mich, ihm zu helfen, einige Stühle im Kreis anzuordnen. Als wir auch den schweren Thron verrückt hatten, waren die anderen wieder zurückgekehrt. Bill wartete, bis die Malverns, Sir James, Lord Llewellyn und ich Platz genommen hatten, ehe er sich auf den Boden setzte.
»Wie Sie wissen«, begann er, »ist es kürzlich auf der König-Wilfred-Kirmes zu mehreren unglücklichen Zwischenfällen gekommen. Die Brüstung am Torhaus gab nach, und beinahe wäre Calvin sechs Meter in die Tiefe gestürzt. Dann riss das Seil an der Quintana, und um ein Haar hätte der Sandsack Calvin am Kopf getroffen. Jemand machte sich an der Kanone zu schaffen und richtete sie auf das Torhaus, just auf die Stelle, an der Calvin bei der Eröffnungszeremonie steht. Als Nächstes verschwand die Krone, die Calvin so liebte. Nach dem königlichen Festmahl erkrankte Calvin so schwer, dass er ins Krankenhaus gebracht werden musste. Und heute hat jemand eine Rinderherde aufgescheucht und auf den Turnierplatz getrieben, wo Calvin eine neue Szene der Rittershow einübte. Erkennen Sie einen roten Faden in der von mir skizzierten Ereigniskette, Calvin?«
»Ich scheine bei diesen Vorfällen eine Rolle zu spielen«, gab Calvin zu, während er mit seiner pummeligen Gestalt unbehaglich auf dem Thron herumrutschte. »Aber könnte es sich nicht auch um eine Unfallserie handeln?«
»Theoretisch ja«, sagte Bill. »Aber es waren keine Unfälle.«
»Dann war es eben Unfug«, meinte Calvin. »Jemand hat sich einen Scherz erlaubt. Eine Serie von Streichen, die nicht richtig aufgegangen sind.«
»Es hat aber niemand gelacht«, sagte Bill entschieden. »Ihr Onkel hat sich solche Sorgen um Ihre Sicherheit gemacht, dass er Sie drängte, Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen, aber Sie haben das abgelehnt. Dann hat er Sie gebeten, die Vorfälle den Behörden zu melden. Wieder haben Sie abgelehnt. Als letzten Ausweg kam er zu mir. Er bat mich, meine Kontakte zu nutzen und Internetrecherchen anzustellen, um den Hintergrund Ihrer Mitarbeiter zu überprüfen.« Bill sah mich an. »Er bat mich auch, niemandem etwas zu sagen, weil er nicht wollte, dass Sie etwas davon erfuhren.«
Widerwillig schenkte ich ihm ein einsichtsvolles Nicken. Ich konnte Bill nichts vorwerfen, hatte er doch nur Horace Malverns Anweisungen befolgt. Außerdem war ich mir voll und ganz bewusst, dass ich eine unverbesserliche Tratschtante war. Hätte er sich mir anvertraut, hätte ich wahrscheinlich Emma ins Vertrauen gezogen, die wiederum ihren Mann, der womöglich etwas gegenüber Mr Barlow fallen gelassen hätte, der wiederum gegenüber … und so weiter und so fort. Da der örtliche Flurfunk inzwischen über Antennen auf dem Kirmesgelände verfügte, in Gestalt von Peggy Taxman und all den anderen örtlichen Kirmesfans, hätten Neuigkeiten über Bills Aktivitäten Calvins Ohren schneller erreicht als ein fliegender Sandsack.
Calvin runzelte die Stirn. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Bill, aber ich heiße es nicht gut, dass Sie meine Mitarbeiter einer Hintergrundüberprüfung unterziehen.«
»Es geht mir hier nicht um Ihre Zustimmung«, sagte Bill gleichmütig. »Es geht mir nur darum, Ihr Leben zu retten.« Er schlenderte zum Geländer der Empore und blickte in Richtung Pudding Lane. »In vielerlei Hinsicht gleicht die König-Wilfred-Kirmes eher einem Dorf als einem Geschäftsunternehmen. Den ganzen Tag und die ganze Nacht kommen und gehen die Handwerker nach Belieben. Sie haben Zugang zu allen Teilen der Kirmes und des Camps. Niemand fragt jemanden nach dem Grund seines Aufenthalts, weil die ganze Unternehmung auf Vertrauen beruht. Wenn jemand frühmorgens am Torhaus-Wehrgang arbeitet, nimmt man im Allgemeinen an, dass er einen guten Grund dazu hat, ob er nun ein Kulissenbauer ist oder nicht.«
»Ich kann die Leute bei einem Mittelalterfest nicht nach der Stechuhr arbeiten lassen«, wandte Calvin ein. »Bei Künstlern funktioniert das nicht. Aber jeder packt mit an, weil wir alle im selben Boot sitzen. Wenn es untergeht, gehen wir alle unter, also legen wir uns in die Riemen und rudern gemeinsam ans Ufer.«
»Ich verstehe die Philosophie«, sagte Bill. »Unser Täter versteht sie übrigens auch. Tatsächlich zählte er sogar darauf. Nur so war er in der Lage, seine Sabotageakte und den Diebstahl zu begehen, weil er wusste, dass er zu den merkwürdigsten Zeiten an den merkwürdigsten Orten erscheinen konnte, ohne dass jemand misstrauisch wurde.«
Sir James ergriff das Wort. »Was Bill sagen will, Calvin, ist, dass jeder der über hundert Kirmesmitarbeiter verdächtig war. Hintergrundüberprüfungen brauchen Zeit. Es hätte ihn Monate gekostet, um den Täter zu finden, hätten wir den Kreis der Verdächtigen nicht eingegrenzt.«
»Wir?«, sagte ich und sah ihn fragend an.
»Lord Belvedere, Lord Llewellyn und ich haben Erfahrung in der Verbrechensermittlung. Bis zu unserer Pensionierung vor ein paar Jahren waren wir bei Yard tätig.«
»Bei Yard?« Ich riss die Augen auf. »Bei Scotland Yard?«
»Richtig«, sagte Sir James. »Wir nehmen seit vielen Jahren an historischen Aufführungen teil, und als Calvin auf uns zukam, beschlossen wir, seinem neu gegründeten Mittelalterfest eine Chance zu geben.«
»Warum haben Sie dann nicht die Hintergrundprüfungen übernommen?«, fragte ich.
»Wir hatten keine Zeit dafür«, antwortete Sir James. »Außerdem sind wir aufgrund unserer Rollen zu bekannt auf der Kirmes. Wenn wir bei gewissen Aufführungen oder Proben gefehlt hätten, hätte das den Täter womöglich alarmiert.«
»Mehr noch, ihr hättet das Publikum enttäuscht«, warf Calvin ein. »Regel Nummer eins bei einem Mittelalterfest: Ja nicht die Besucher enttäuschen!«
»Wie auch immer«, sagte Sir James und bedachte den König mit einem ungeduldigen Blick, »Lord Belvedere untersuchte das Beweismaterial und kam zu dem Schluss, dass in der Tat keiner der vorgeblichen Unfälle ein Unfall war. Gleichzeitig befragten Lord Llewellyn und ich ausgiebig die Mitarbeiter. Dabei kam heraus, dass immer wieder eine Person zur passenden Zeit am passenden Ort gesehen worden war.« Er wandte sich mit einem Nicken an Bill. »Wenn Sie fortfahren möchten, Sir.«
»Über diese Person«, sagte Bill, »holte ich also Erkundigungen ein; ich führte Online-Recherchen durch, sprach mit Freunden und Kollegen, ließ gewisse Beziehungen spielen« – er unterbrach sich und nahm einen tiefen Atemzug –, »bis ich schließlich einige bedeutungsvolle Fakten zutage förderte.« Er lehnte sich mit dem Rücken gegen das Geländer und verschränkte die Arme. »Calvin? Wie sind Sie an das Geld für die Kirmes gekommen?«
»Als ich in Amerika war, habe ich mein Erbe in einigen sehr lukrativen Papieren angelegt«, erwiderte Calvin stolz. »Und die bringen eine ansehnliche Rendite.«
Bill nickte. »Haben Sie auch eine Lebensversicherung abgeschlossen, als Sie in Amerika waren?«
»Ja, das habe ich.«
Horace Malvern stöhnte und fasste sich an die Stirn, doch Bill fuhr ungerührt fort.
»Haben Sie Ihre Entscheidungen allein getroffen, Calvin, oder hatten Sie einen Finanzberater?«
»Ich hatte selbstverständlich einen Berater«, sagte Calvin mit leutseligem, selbstironischem Grinsen. »Mit Zahlen hab ich’s nicht so.«
»Kennen Sie einen Mann namens Rowan Grove?«, fragte Bill.
Ich fuhr hoch, augenblicklich erinnerte ich mich an eine gewisse Szene in unserem Garten, und eine Stimme sagte: Ein unansehnliches Kind mit einem dämlichen Namen lernt schnell, sich mit Worten statt mit Fäusten zu verteidigen. Ich starrte Bill an. Ich hatte das Gefühl, als hätte er mir ein Glas Eiswasser ins Gesicht geschüttet.
»Nie von dem Typ gehört«, erklärte Calvin.
»Wie seltsam«, sagte Bill, »denn dieser Name erscheint auf einigen der Papiere, die Sie unterschrieben haben. Rowan Grove verwaltet Ihr Wertpapierportfolio. Rowan Grove hat Zugang zu Ihren Bankkonten. Rowan Grove ist der einzige Begünstigte Ihrer Lebensversicherungspolice. Es dürfte Sie interessieren, dass Rowan Grove als Ihr Finanzberater eingetragen ist.«
»Das kann nicht sein«, sagte Calvin. »Ich bin diesem Burschen nie begegnet. Jinks ist mein Finanzberater.« Er strahlte uns der Reihe nach an. »Ein verdammt cleverer Junge, der alte Jinks. Als ich ihn kennenlernte, machte er gerade seinen Doktor in Betriebswirtschaft. Als er sein Herz für Ren-Feste entdeckte, hängte er freilich alles an den Nagel, aber er hat immer noch ein Händchen für Geld. Ohne ihn wäre mein Vermögen nicht halb so groß.«
»Calvin«, sagte Bill sanft. »Jinks’ bürgerlicher Name ist Rowan Grove.«
»Wie bitte?«, sagte Calvin, als hätte er ihn nicht richtig verstanden.
»Wenn Sie sterben, wird Jinks in den Genuss Ihrer Lebensversicherungsprämie kommen, eine ansehnliche Summe.« Bill sprach langsam und vorsichtig, als erläuterte er die Situation einem Kind. »Darüber hinaus wird er Zugriff auf Ihr gesamtes Vermögen haben. Es würde mich nicht weiter wundern, wenn sich herausstellte, dass er all die Jahre Geld von Ihren Konten abgezweigt hat.«
»Jinks hat mir erzählt, er habe keine Ahnung von Calvins Vermögensverhältnissen«, sagte ich.
»Er hat gelogen«, sagte Bill.
»Schauen Sie«, sagte Calvin ungehalten und blickte Bill trotzig an, »wenn Sie behaupten, Jinks hätte etwas mit dieser vermaledeiten Pechsträhne zu tun, die ich in den letzten Tagen hatte, irren Sie sich gewaltig. Ich kenne ihn, seit ich damals bei dem Ren-Fest in Wisconsin Brathähnchen verkauft habe. Wir sind zusammen durch ganz Amerika gereist – haben uns die Nächte um die Ohren geschlagen, im Freien genächtigt und sind am nächsten Morgen wieder früh aufgestanden, um beim Festival aufzutreten. So ein Leben schweißt einen zusammen, aber das kann ein Außenstehender nicht nachvollziehen. Jinks ist für mich wie ein Bruder.«
»Er hat nicht auf Ihr Wohl getrunken«, sagte ich, halb zu mir selbst.
»Hä?«, sagte Calvin und drehte sich zu mir um.
»In dem Moment habe ich es nicht verstanden, aber jetzt …« Ich blickte in Calvins besorgtes Gesicht und zwang mich weiterzureden. »Als ich am Sonntag mit ihm zu Mittag aß, habe ich einen Toast auf Ihre Gesundheit ausgesprochen.« Ich hob ein imaginäres Glas. »›Auf König Wilfred. Lang möge er herrschen.‹« Als mir die Bedeutung des Moments klar wurde, ließ ich die Hand wieder sinken. »Jinks erhob sein Glas gleichfalls, aber er trank nicht davon.«
»Vielleicht hatte er keinen Durst«, sagte Calvin.
»Auf jemandes Wohl anzustoßen hat nichts mit Durst zu tun«, murmelte ich, unfähig seinem Blick zu begegnen.
»Ich fürchte, Jinks hat Sie für seine eigenen Zwecke benutzt, Calvin«, sagte Bill. »Er gewann Ihr Vertrauen und nutzte es dann aus.«
»Sieh es endlich ein, Cal«, sagte Mr Malvern ungehalten und starrte seinen Neffen streng an. »Wenn du den Löffel abgibst, wird Jinks eine Stange Geld bekommen. Wenn das kein Mordmotiv ist, dann weiß ich auch nicht.«
Sir James nickte. »Es gibt Augenzeugen, die gesehen haben, wie er sich an der Brüstung zu schaffen machte, das Seil anschnitt, deine Krone stahl und Steine in die Kanone tat …«
»Steine?«, platzte ich heraus. »Die berüchtigten ›Projektile‹ waren also Steine?«
»Moosige Steine«, bestätigte Sir James. »Sie stammten wahrscheinlich aus einem Bach oder Fluss in der Nähe.«
»Oder von dem Bächlein unweit unseres Picknickplatzes.« Ich konnte kaum glauben, was ich sagte. Mein Blick wanderte zu Bill, in der Hoffnung, dass er meine Vermutung widerlegte, doch er hatte mir den Rücken zugewandt und spähte die Pudding Lane hinauf. »Aber Jinks kann Calvin nicht vergiftet oder die Kuhherde aufgescheucht haben. Er ist seit Sonntagabend, nachdem die Kirmes geschlossen hatte, nicht mehr hier gewesen.«
»Das ist richtig«, sagte Calvin, und sein Engelsgesicht hellte sich wieder auf. »Er ist in Cheltenham.«
»Er ist zurückgekommen«, sagte Bill, den Blick noch immer auf die Gasse gerichtet. »Wenn Sie uns nicht glauben, Calvin, dann fragen Sie Jinks doch selbst. Hier ist er.«
Ich drehte mich auf meinem Stuhl um und folgte Bills Blick. Lord Belvedere und Jinks hatten das Ende der Pudding Lane erreicht und kamen auf die königliche Galerie zu. Lord Belvedere trug eine Baumwollhose und ein einfaches weißes Hemd mit Buttondown-Kragen. Jinks war mit demselben Batik-T-Shirt und der zerrissenen Jeans bekleidet, die er bei unserer ersten Begegnung anhatte, als er mit einem Überschlag im Sandkasten der Zwillinge gelandet war.
»Guten Abend zusammen!«, rief er und lächelte sein schiefes Lächeln. »Seine Lordschaft hat mich aus dem Pub in Finch aufgescheucht, damit ich an diesem Treffen teilnehme, und ich hoffe, es war die Mühe wert.«
»Finch?«, sagte Calvin matt. »Ich dachte, du wärst in Cheltenham.«
»Da war ich auch. Aber ich bin früher zurückgekommen. Wenn ich zu lange unter Weltlichen weile, werde ich unruhig.« Mit einem Satz war er auf der Galerie. »Also … was gibt’s? Bist du endlich schlau geworden und hast mir eine Hauptrolle beim Schwertkampf zugedacht?«
»Wir haben uns gerade über die Finanzlage der Kirmes unterhalten«, sagte Bill.
»Nicht gerade mein bestes Fach«, sagte Jinks liebenswürdig, »aber wenn ihr den Rat eines Laien wollt …«
»Nein, das tun wir nicht«, unterbrach ihn Bill. »Wir wollen den Rat eines Fachmanns … eines gewissen Rowan.«
Jinks’ Lächeln gefror, und seine grünen Augen schossen von einem Gesicht zum anderen. Dann nahm er die Unterlippe zwischen die Zähne, beugte den Kopf und gluckste leise vor sich hin.
»Oje«, sagte er. »Jetzt ist der Hofnarr der Angeschmierte. Man hat mich mit dem Finger im Marmeladenglas erwischt, stimmt’s?«
»Ich wünschte, es wäre nur das«, sagte Bill.
»Sag ihnen, dass es nicht wahr ist«, flehte Calvin ihn an. »Sag ihnen, dass sie sich geirrt haben.«
»Ach nein, das haben sie nicht«, sagte Jinks sanft. »Sieh mal, ich konnte doch nicht zulassen, dass du dein Geld bei diesem lächerlichen Unternehmen vergeudest, alter Freund. Auf einem Ren-Fest zu arbeiten ist eine Sache, aber selbst eines zu leiten? Hast du eigentlich den Hauch einer Vorstellung, wie viel du bereits zum Fenster hinausgeworfen hast?« Er hob den Kopf und begegnete Calvins flehendem Blick. »Ich habe keine Rentenversicherung, Cal. Meine Knie sind kaputt, aber es gibt keine hübschen Altersheime für Akrobaten, die schlappgemacht haben. Ich habe nicht nur in deine Zukunft, sondern auch in meine investiert. Ich mag dich, Cal, aber ich konnte doch nicht zulassen, dass du meinen Pensionsfonds aufs Spiel setzt.«
»Nein«, sagte Calvin leise.
»Wenn es dich tröstet«, sagte Jinks, »ich habe nicht vorgehabt, dich zu töten. Ich wollte nur die Leute in deiner nächsten Nähe erschrecken. Damit hoffte ich, dass sie dich überzeugen würden, die Kirmes zu schließen, nicht nur um dich zu schützen, sondern auch deine Mitspieler und die Besucher. Unfälle schaden dem Geschäft.«
Sir James räusperte sich ungehalten. »Du hast erklärt, warum du die Unfälle inszeniert hast. Wärst du jetzt bitte so nett, uns zu erzählen, warum du die Krone gestohlen hast?«
Jinks warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Sie ist Cals Talisman. Ich war mir sicher, er würde abdanken, sobald seine kostbare, maßgefertigte und mit den Juwelen seiner Mama geschmückte Krone abhandengekommen war, aber nein, er hat unermüdlich weitergemacht. Regel Nummer eins bei einem Ren-Fest: Ja nicht die Besucher enttäuschen!«
Lord Llewellyn stand schwerfällig auf und ergriff zum ersten Mal das Wort. »Nun denn, Sir, wenn Sie bitte mit mir kommen würden.«
»Natürlich komme ich mit dir.« Jinks zwinkerte schelmisch. »Aber erst musst du mich fangen.«
Lord Llewellyns muskulöser Arm schoss nach vorn, doch Jinks wich ihm flink aus, sprang mit einem Salto rückwärts vom Podium und flüchtete in die Pudding Lane. Bill nahm seine Verfolgung auf, und alle anderen liefen hinter ihm drein, während Calvin die Nachhut bildete. Jinks’ Gelächter eilte uns voraus, während wir die Pudding Lane entlangpreschten, die Broad Street überquerten und in Richtung Torhaus weiterliefen.
Bill erreichte den Torhausplatz kurz vor mir, doch als ich gleichzog, blieb er abrupt stehen. Er bedeutete mir zu warten, während er mit den Augen die Stände absuchte, die den Platz säumten.
»Jinks!«, rief er. »Es hört sich vielleicht wie eine Floskel an, aber wir haben Sie tatsächlich umzingelt. Man wird Sie fassen, sobald Sie einen Fuß außerhalb des Kirmesgeländes setzen.«
Ich blickte über die Schulter zu den pensionierten Scotland-Yard-Detectives, dem Farmer in mittleren Jahren und dessen übergewichtigen Neffen. Alle fünf standen gebeugt und nach Atem ringend da, als hätten sie soeben die Ziellinie eines Marathons überschritten. Ich bezweifelte, dass sie eine allzu große Gefahr für Jinks’ Freiheitsdrang darstellten.
»Polizei«, brachte Lord Belvedere schließlich hervor und fing meinen zweifelnden Blick auf. »Draußen. Am Zaun aufgestellt. Hab sie mitgebracht.«
Ich nickte ihm zu, und als ich mich wieder dem Platz zuwandte, sah ich, wie eine geschmeidige Gestalt aus der Lücke zwischen zwei Buden hervorschoss.
»Bill!«, schrie ich. »Er ist hinter dir.«
Bill wirbelte herum, doch Jinks rannte an ihm vorbei, sprang zum Torhaus und kletterte an der künstlichen Steinmauer des Westturms empor. Ich hörte das Klirren eines Schlüsselbunds, sah Calvin an mir vorbeilaufen, vermochte das Geräusch jedoch nicht einzuordnen, bis ich sah, wie er die Tür aufschloss, durch die ich am Samstag versucht hatte zu gelangen.
»Haltet ihn auf!«, schrie ich, aber es war zu spät.
Ehe irgendjemand reagieren konnte, war Calvin im Turm verschwunden und hatte die Tür hinter sich zugeworfen. Bill lief ihm nach und rüttelte am Türknauf, doch die Tür war verschlossen. Er warf mir einen ratlosen Blick zu, ehe er rückwärts in die Mitte des Platzes ging und nach oben schaute. Lord Belvedere, Sir James, Lord Llewellyn, Horace Malvern und ich traten zu ihm und starrten wie gelähmt zum Turmdach. Über uns kletterte Jinks über die Zinnen in die Plattform des Westturms, er landete auf den Füßen und streckte die Arme aus.
»Zahlenmäßig unterlegen, der Weg verstellt!«, rief Jinks grinsend zu uns herab. »Aber keine Angst, ich habe einen Ruhestandsplan!« Er sprang wieder auf eine Zinne und balancierte wie ein Seiltänzer auf einem Bein.
»Seien Sie kein Narr!«, rief Bill.
»Aber ich bin ein Narr!«, erwiderte Jinks und schwankte leicht, während er von einem Fuß auf den anderen hüpfte. »Fragen Sie Ihre Frau. Ich habe mein Bestes versucht, sie zu verführen, aber vor lauter Lachen kam sie nicht dazu, mich ernst zu nehmen. Frauen nehmen mich nie ernst. Die Geschichte meines Liebeslebens würde auf einen Stecknadelkopf passen.«
Ich hörte ein klägliches Ächzen, gefolgt von einem dumpfen Geräusch, das über das verlassene Kirmesgelände hallte, und plötzlich erschien Calvins plumpe Gestalt auf dem Turm. Er beugte sich hinab, vermutlich um die Falltür wieder zu schließen. Dann richtete er sich auf und sah Jinks an.
»Du kommst jetzt mit mir hinunter, alter Mann«, sagte er freundlich. »Ansonsten wirst du dich noch verletzen.«
»Nein«, sagte Jinks glucksend, »ich werde mich umbringen.«
»Sei nicht albern. Seine Majestät dein Lehnsherr erlaubt es nicht. Und ich erst recht nicht.«
»Tut mir leid, Cal.« Jinks’ manisches Grinsen verschwand, und er sah Calvin fest an. Dann ließ er sich fallen.
Im selben Moment streckte sich Calvin blitzschnell vor und schlang beide Arme um Jinks’ Knie. Der versuchte sich mit allen Kräften zu befreien, doch Calvin zog ihn mit der Kraft eines Sumokämpfers über die bezinnte Brüstung zurück, stellte ihn auf die Füße und versetzte ihm einen Faustschlag ins Gesicht. Bewusstlos sackte Jinks vor Calvins Füßen zusammen.
Einen Moment lang blickte dieser schwer atmend auf Jinks hinab, dann beugte er sich über die Zinne und warf Bill die Schlüssel zu.
»Seien Sie so gut und kommen Sie herauf«, sagte er. »Ich brauche Hilfe, um den armen Kerl hinunterzuschaffen.«