11. Kapitel
Am Sonntagnachmittag saßen Rupe und einige Viehhüter auf einem hohen Zaun und beobachteten, wie ein Zureiter ein widerspenstiges Wildpferd zu zähmen versuchte. Es war kastanienbraun, auffallend hochgewachsen und wunderschön. Doch es gebärdete sich wie der Teufel und bescherte dem schwarzbärtigen Zureiter eine echte Herausforderung.
Austin hatte immer behauptet, daß Marty Donovans weicher irischer Akzent die Pferde verzaubere, doch an diesem Tag mußte er sich sein Geld sauer verdienen. Das Pferd bäumte sich zornig auf, stampfte mit den Hufen und keilte mit den Hinterbeinen aus, als Marty es fesseln wollte; doch der Zureiter bewies Geduld. Ebenso wie das Tier war er mit Staub und Schweiß bedeckt. Er sprang beiseite, um den gebleckten Zähnen zu entkommen, und wich bis an den Zaun zurück, wobei er ununterbrochen auf den Braunen einredete.
»Komm schon, braver Junge. Ganz langsam, mein Guter. Und was für ein Hübscher du bist …«
Marty arbeitete sanft; er gehörte zu den wenigen Zureitern, die Austin auf Springfield geduldet hatte. Er setzte seine Peitsche ein, um Lärm zu verursachen, nicht Schmerz. Und wenn er mit der Arbeit fertig war, blieben seine Pferde gezähmt. Bei brutalen Zureitern hingegen, die halbgezähmte Tiere übergaben, verfielen diese, sobald sich eine Gelegenheit ergab, in ihre alten Gewohnheiten zurück.
Marty wahrte Distanz zum Tier, dessen wilde, wachsame Blicke ihn im Auge behielten, während es jetzt, ruhiger geworden, im Kreis trabte. Gelegentlich ließ es sein Temperament an den Zaunlatten aus, wobei die Viehhüter herunterfielen und sich auf allen vieren davonmachen mußten, um den Hufen zu entkommen.
Da sich dieses Verfahren noch eine Weile hinziehen würde, beschloß Rupe, inzwischen nach Cleo zu sehen. Er glitt vom Zaun hinunter und lief den Hügel hinauf zum Haus. Die Gouvernante saß mit einem Buch auf der schattigen Seitenveranda. Sie trug ein fließendes, weißes Musselinkleid, ein dazu passendes Seidenband hielt die dunklen Locken zusammen. Bei ihrem Anblick machte Rupes Herz einen Sprung; er mußte an sich halten, um nicht auf sie zuzustürmen und sie in seine Arme zu reißen.
Einen Moment schloß er die Augen, als wolle er diese allzu heftigen Gefühle verdrängen. Er begehrte Cleo, doch es ärgerte ihn, sich seine Liebe für sie eingestehen zu müssen. Darüber hinaus fiel es ihm schwer, zwischen sexuellem Verlangen und echter Liebe zu unterscheiden.
Seufzend wandte er sich ab und ging zum Haus.
Rupe duschte, rasierte sich und bürstete sein blondes Haar, das laut Louisa die Schere vertragen hätte. Cleo mochte es jedoch, wenn er es länger trug. Er zog ein frisches Hemd an, enge Moleskin-Hosen, unter denen sich seine kräftigen Schenkel abzeichneten, und kurze Reitstiefel, die eher modisch als praktisch waren. Dann schlenderte er wie zufällig über die Veranda.
»Was liest du da?«
»Dickens. Die Pickwickier. Kennst du das Buch?«
»Verschone mich damit. Wir haben dieses Zeug in der Schule lesen müssen. Magst du Dickens wirklich?«
»Ja, du etwa nicht?«
Er wollte die Frage schon bejahen, nur um ihr eine Freude zu machen, doch das ging gegen seine Natur. »Nein, mir war dieses gefühlsduselige Gewäsch einfach zuviel. Wir hielten es für Weiberkram.«
Cleo lachte. »Für einen Haufen wilder Internatsschüler ist es das wohl auch. Was liest du denn gern?«
»Weiß ich nicht mehr. Ich hab’ ein paar gute Bücher gelesen, aber mir fällt nicht mehr ein, von wem sie waren. Im übrigen solltest du an einem so schönen Nachmittag nicht hier sitzen. Wie wär’s mit einem Spaziergang? Ich zeige dir die Vögel.«
Cleo war sichtlich erfreut. »Wirklich? Hannah sagte, da draußen seien Abertausende von ihnen, doch es sei ziemlich weit weg.«
»Für Hannah schon. Sie findet den Weg von der Küche zur Molkerei schon weit. Wenn wir die Abkürzung durch den Obstgarten nehmen, ist es nur ein Katzensprung. Früher kamen die Vögel viel näher ans Haus, aber sie haben sich zurückgezogen, weil hier so viel Trubel ist.«
»Schön, gehen wir.«
Als sie aufstand, fiel sein Blick auf ihre Schuhe. »Der Fluß geht allmählich zurück, das Ufer dürfte schlammig sein. Vögel mögen Sumpfgebiete, aber du wirst dir deine schönen Schuhe ruinieren.«
»Einen Moment, ich ziehe rasch andere an.«
Im Handumdrehen kehrte sie in schwarzen Stiefeln zurück. Daß sie nicht zu ihrem luftigen Kleid paßten, schien sie nicht weiter zu stören. Rupe gefiel diese Einstellung, zumal er selbst es inzwischen bereute, seine schicken Stiefel angezogen zu haben. Immerhin lohnte es den Einsatz, wenn er Cleo auf diese Weise vom Haus weglotsen konnte. Außerdem war es nicht überall sumpfig; die Wiesen am Fluß waren trocken und vor allem sehr, sehr abgelegen.
In diesem Moment schoß Teddy um die Ecke.
»Cleo, wo gehst du hin?«
»Die Vögel ansehen.«
»Darf ich mitkommen?«
»Nein«, erwiderte Rupe, »lauf zu deiner Mutter.«
»Sie schläft. Bitte, bitte, nehmt mich mit.«
»Natürlich darfst du mit«, sagte Cleo. »Wir machen uns einen schönen Nachmittag.«
Teddy ging so langsam, daß Rupe ihn die meiste Zeit Huckepack tragen mußte. Als sie in Hörweite der gefiederten Besucher waren, setzte er ihn ab. Sie folgten einem Weg, der durch die Büsche auf einen hohen Hügel führte, von dem aus man den Fluß überblicken konnte. Dort suchten Hunderte von Vögeln eifrig nach Futter. Enten segelten über den breiten Fluß, Schnepfen kratzten am Ufer herum, Kraniche pickten anmutig im seichten Wasser. Obwohl die zahllosen Tiere soviel Lärm veranstalteten, wirkte die Szene friedvoll.
Die Stille wurde nur von Teddys aufgeregten Fragen unterbrochen.
»Was machen sie? Was fressen sie da? Warum fliegen sie nicht weg? Wo sind ihre Nester?« Und so ging es immer weiter.
Cleo war beeindruckt von Rupes geduldigen Antworten. »Sie fischen, fressen Insekten oder Pflanzen. Die meisten sind Sommervögel, die aus dem hohen Norden kommen und im Winter zurückfliegen. Sie verstecken ihre Nester in den Büschen.«
Er deutete auf einen Eisvogel, dessen Kopf und Schwingen grün leuchteten. Aufmerksam beobachtete er den Fluß, bereit, jeden Moment herunterzustoßen und sich den ersten Fisch zu schnappen, der sich an die Oberfläche wagte. Teddy stellte noch mehr Fragen, doch irgendwann wurde er es leid und stocherte mit einem Stock im Gebüsch nach Vogelnestern.
»Faß sie nicht an, wenn du welche findest«, warnte ihn Cleo.
»Zeig sie uns lieber. Wir warten hier auf dich.«
Rupe ergriff ihren Arm, dann setzten sich beide ins Gras.
»Einen Moment, was ist mit mir? Du schenkst Teddy deine ganze Aufmerksamkeit.«
»Ach, du Ärmster«, erwiderte sie belustigt.
Er küßte sie sanft und liebevoll, und Cleo reagierte leidenschaftlich, angeregt von der romantischen Umgebung. Die Nachmittagssonne tauchte die Wolken in ein tiefes Rosa. Cleo glühte vor Liebe.
»Du siehst heute wunderschön aus«, flüsterte Rupe ihr ins Ohr.
»Vielen Dank.« Ihre Stimme war kaum zu hören. Sie wollte den Zauber des Augenblicks nicht zerstören.
Rupe drückte sie an sich, fuhr ihr mit den Lippen sanft über Gesicht und Hals. »Willst du mich heiraten, Cleo?«
»Ja«, hauchte sie atemlos, »ja.«
Er hatte sie tatsächlich gefragt! Dieser Mann würde bald ihr Ehemann sein. Aufgeregt küßten sie einander, rollten durchs Gras, lachten übermütig. Verliebt und bald verheiratet. Er zerzauste ihr Haar, kitzelte sie, strich über ihre Brüste unter dem weichen Musselin. Dann glitt er mit der Hand unter ihr Kleid und berührte ihre warmen Schenkel, doch Cleo hielt seine Hand fest.
»Nein, Rupe, Teddy könnte uns sehen.« Sie setzte sich abrupt auf. »Teddy! Wo ist er eigentlich?«
»Ach, er stochert da drüben mit seinem Stock herum«, sagte Rupe, der sich von seinem Neffen keineswegs beim verliebten Spiel stören lassen wollte.
Doch Cleo war schon aufgesprungen. »Wo?« Sie lief herum und rief nach dem Jungen.
Zögernd erhob sich nun auch Rupe. »Teddy? Wo bist du! Verdammt, er ist in den Busch gelaufen!«
»Er könnte auch unten am Flußufer sein.«
»Nein, dann hätten wir ihn doch gesehen.«
Cleo antwortete nicht. Sie wußte, daß sie ihn keinesfalls gesehen hätte, und bezweifelte stark, daß Rupe dazu in der Lage gewesen wäre. Auch am Ufer war keine Spur von Teddy zu entdecken. Aus den Büschen erklangen Rupes Rufe. Cleo geriet allmählich in Panik. Der Fluß war tief und reißend. Wenn er nun hineingestürzt war? Sie stolperte das Ufer auf und ab und rief unablässig seinen Namen.
»Kein Grund zur Sorge«, schrie Rupe ihr zu, »der kleine Mistkerl hat sich nur verkrochen. Ich finde ihn schon.«
Während er weiter oben suchte, taumelte Cleo hysterisch weinend das schlammige Ufer entlang, wobei sie sich an Ästen und Grasbüscheln festklammerte. Teddy hätte hier leicht ins Wasser fallen können. Ein Stück weiter machte der Fluß eine Biegung und strömte auf die Koppeln in der Nähe des Hauses zu. Cleo lief weiter. Noch immer hörte sie Rupes Stimme aus dem Busch über ihr, die nach seinem Neffen rief.
Schließlich kletterte sie wieder die Uferböschung hinauf, verfing sich dabei in einem Dornbusch und riß ihr Kleid mit einer heftigen Bewegung los. Sie war von oben bis unten mit Schlamm bedeckt.
»Hast du eine Spur von ihm gefunden?« fragte sie beinahe flehend. »Da unten ist er nicht.«
»Nein!« erwiderte Rupe zornig. »Aber er muß hier irgendwo sein.«
Cleo klammerte sich an ihm fest. »Meinst du, er ist in den Fluß gefallen? Es wäre doch immerhin möglich!« Ihre Stimme klang schrill vor Angst.
»Bleib ruhig, Herrgott noch mal! Er weiß sehr gut, daß er nicht an den Fluß darf.«
»Aber wir sind doch selbst mit ihm hergekommen!«
»Ich meinte doch das Wasser! Er weiß, daß er nicht zu nah ans Wasser darf. Lauf zu der Lichtung da drüben, ich komme von der anderen Seite. Er muß irgendwo dort im Gebüsch stecken. Wenn er erst einmal gerodetes Land erreicht, läuft er vermutlich zum Haus zurück.«
Cleo wollte eigentlich noch einmal das Ufer absuchen, hätte Teddy in seinem rotkarierten Hemd jedoch gar nicht übersehen können. Also gehorchte sie und stürzte in den Busch. Als sie den Pfad erreichte, fing sie an zu laufen. Das wilde Buschland am Fluß war keine halbe Meile breit, und sie hatten die Strecke auf dem Hinweg im Nu zurückgelegt, doch nun kam sie ihr endlos vor.
Als sie endlich aus den Büschen auftauchte, blieb sie keuchend stehen, legte die Hand über die Augen und suchte im Licht der untergehenden Sonne die Koppel ab. Keine Spur von Teddy. Konnte er überhaupt so weit gekommen sein?
»Lieber Gott«, schluchzte sie, »ich hoffe es so sehr.«
Rupe folgte ihr auf dem Pfad. Er war wütend und schimpfte wie ein Rohrspatz, doch seine Angst war nicht zu überhören.
»Der kleine Mistkerl. Wo kann er bloß stecken? Wir nehmen den anderen Weg, in Richtung der Vögel. Du gehst hier entlang, ich bleibe in Flußnähe. Er muß doch hier irgendwo sein.«
»Und wenn er nun doch in den Fluß gefallen ist?«
»Dann hätte er gerufen, und wir hätten ihn gehört.«
»Nicht, wenn er schon zu weit weg war!« kreischte sie. »Er könnte ertrunken sein!«
Cleo schluchzte unbeherrscht. Rupe packte und schüttelte sie. »Hör auf damit! Deine Tränen bringen uns nicht weiter.«
Sie hielt sich am Rande des Buschlandes und machte immer wieder einige Schritte hinein, wobei sie den Signalruf »Kui« ausstieß. Sie hoffte auf eine Antwort, da Teddy stolz war, diesen Ruf zu beherrschen. Nichts. Nachdem sich die Vögel zerstreut hatten, senkte sich tiefe Stille über den Busch.
Rupe setzte seine Suche am hochgelegenen Flußufer fort, von dem aus sie die Vögel beobachtet hatten und wo er Cleo – vor einer Ewigkeit, wie es ihm nun schien – um ihre Hand gebeten hatte. Er verfluchte sich, weil sie Teddy sich selbst überlassen hatten.
Vorsichtig näherte er sich dem Ort, an dem er Teddy das letzte Mal mit seinem Stock gesehen hatte. Er selbst hatte den Zweig von einem Baum abgebrochen, geschält und seinem Neffen gegeben, der damit wie die Schwarzen herumstöbern konnte. Teddy hatte sich sehr über den Stock gefreut.
Rupes Angst wuchs. Er umkreiste die Stelle, an der er mit Cleo im Gras gelegen hatte, und näherte sich auf Umwegen dem Fluß, wie man es von einem übermütigen Kind zu tun erwarten könnte, das den Erwachsenen einen Streich spielen will.
Dann sah er ihn! Teddys Stock steckte in einer Erdfurche, unmittelbar neben einem steil abfallenden Uferstück.
Rupe rührte ihn nicht an; er beugte sich nieder, um das Ufer zu untersuchen. Ein Grasbüschel, an dem frische Erde haftete, war abgerissen, doch er bewahrte einen klaren Kopf. Das konnte auch Cleo bei ihrer gehetzten Suche gewesen sein.
Aber nein, dazu hätte sie sich im Wasser befinden müssen. Beinahe unwillig richtete er seine Aufmerksamkeit auf den schmalen Schlammstreifen zwischen Fluß und Gras und erkannte die Krallenspuren auf der glatten, glänzenden Oberfläche des Schlamms. Dort war jemand hinuntergerutscht.
Er wollte sich einreden, es seien die Spuren eines Tieres, vielleicht, eines Schnabeltieres. Aber ein Schnabeltier hätte Fußspuren hinterlassen, keine Krallenabdrücke. Oder waren es Kratzspuren von Kinderhänden?
Die Wahrheit traf ihn wie ein Schlag, doch er wollte sie sich noch immer nicht eingestehen. Er sprang auf, schrie nach dem Jungen und stürzte dann die Uferböschung entlang. Er lief schneller und sicherer als Cleo, raste um die Biegung und warf sich halb wahnsinnig vor Angst in den Fluß, als könne er den Jungen im wirbelnden Wasser tatsächlich aufspüren.
Die Strömung spülte ihn beinahe bis ans andere Ufer; die Wassermassen rauschten wild über den höhlenartigen Tiefen dahin und schossen ungezügelt auf die sechzig Meilen entfernte Mündung in einen größeren Fluß zu.
Als Rupe nicht zurückkehrte, bekam Cleo Angst. Die untergehende Sonne hatte den Himmel scharlachrot gefärbt und verströmte ihr letztes, unheilvoll wirkendes Licht, bevor sie verschwand. Cleo wartete eine Ewigkeit, rief nach ihm und Teddy, fürchtete sich vor einer Rückkehr in den Busch. Sie rang hilflos die Hände und ging ruhelos auf und ab.
Sie hörte die trauervollen Rufe der Brachvögel und das Kreischen eines Vogelschwarms, der aus den Bäumen aufstieg. Zwei Emus liefen über die Koppel. Alle Vögel kehrten heim, es war schon spät. Sehr spät. Louisa würde wütend sein, denn Teddy hätte eigentlich um fünf Uhr baden sollen.
Alle möglichen Erklärungen für Rupes Ausbleiben schossen ihr durch den Kopf. Er könnte verletzt sein. Könnte Teddy gefunden haben, der transportunfähig war. Vielleicht war der Junge von einer Schlange gebissen worden. Vielleicht … Sie wußte es nicht und konnte nicht länger warten. Sie mußte Hilfe holen.
Hannah war entsetzt, als Cleo bei Einbruch der Dämmerung völlig aufgelöst und schlammbedeckt in die Küche stürzte. Die Köchin rief nach Victor, doch der war in seinem Büro, und so kam Louisa angelaufen.
»Was ist passiert?« Sie warf einen Blick auf die Gouvernante und schrie los. »Was ist passiert? Sieh dich nur an! Wo ist Teddy? Wie konntest du es wagen, ihn ohne mein Wissen mitzunehmen? Ich habe ihn überall gesucht, bis mir einer der Viehhüter sagte, er hätte dich und Rupe gesehen …«
Sie hielt inne, als Cleo unter Tränen einige Worte stammelte. »Was ist los? Wo ist Teddy?«
Doch Cleo war zu keiner vernünftigen Antwort fähig.
Louisa versetzte ihr eine Ohrfeige. »Ich will wissen, was passiert ist, sofort! Hör auf zu heulen.«
»Teddy«, wimmerte sie, »wir können ihn nicht finden. Er ist weg. Und Rupe auch. Ihn konnte ich auch nicht mehr finden.«
»Wo ist das passiert?«
»Unten am Fluß. Wir haben uns bloß die Vögel angesehen. Und Teddy ist weggelaufen …« Sie brach erneut in Tränen aus, doch Louisa hatte genug gehört. Sie lief zur Hintertür und läutete die große Notfallglocke, mit der sie jeden Mann in Hörweite alarmieren konnte.
Als erster kam Victor angelaufen, der die Lage rasch erfaßte und seiner Frau nacheilte, die schon in Richtung Obstgarten gerannt war.
»Warte, Louisa.« Er hielt sie fest. »Ganz ruhig.«
»Sie haben Teddy verloren!« schrie sie. »Laß mich los!«
»Nein, mit Pferden sind wir schneller. Wir brauchen Laternen, es wird bald dunkel.«
Er konnte sie überreden, kurz in der Küche zu warten, und sprach mit den Männern, die sich bereits an der Hintertür versammelt hatten. Cleo hing wie ein Häufchen Elend über dem Tisch.
Louisa trat hinter sie. »Wenn meinem Sohn etwas zugestoßen ist, bringe ich dich um. Hast du mich verstanden?« brüllte sie. »Ich bringe dich um! Was hast du getan? Mit Rupe geschmust? Warum mußtet ihr Teddy unbedingt mitnehmen?«
»Nun mal sachte«, sprach Hannah beruhigend auf sie ein, »alles wird gut. Rupe kümmert sich um Teddy. Cleo hat sich bestimmt nur verlaufen und Angst bekommen. Ich mache Tee.«
Doch Louisa hatte kein Interesse an Tee. Als Victor mit ihrem Pferd auftauchte, sprang sie förmlich in den Sattel und sah angstvoll zum Abendhimmel auf. Sie ritten um den Obstgarten herum und galoppierten hinter dem Trupp Viehhüter über die Koppeln. Rasch näherten sie sich dem Buschgebiet, hinter dem der Fluß lag.
Als sie abstiegen, hatten sich die Männer bereits verteilt. Victor und Louisa liefen zum Pfad, der zum Ufer führte.
Der plötzliche Aufruhr schreckte kleine Tiere in den Büschen auf; Vögel flatterten aufgeregt aus den Baumkronen hoch, als die Männer geräuschvoll in ihr Revier eindrangen.
Teddys Eltern waren dem Wahnsinn nahe. Sie stolperten hilflos am Ufer entlang und riefen nach ihrem Sohn. Ihre Stimmen mischten sich unter die klagenden Rufe der Vögel über den dunklen Fluten.
Victor fand Rupe, der einsam, den Kopf in den Händen vergraben, am Ufer hockte.
Er schrie ihn an und riß ihn grob auf die Füße. »Wo ist Teddy? Was ist passiert? Du bist klatschnaß. Ist er in den Fluß gestürzt? Wo ist er, du Schwein? Hast du ihn hineinfallen lassen?«
»Ich weiß es nicht«, schluchzte Rupe. »Ich kann ihn nicht finden. Ist er nicht nach Hause gekommen?«
»Natürlich nicht, du Idiot! Red keinen Unsinn. Wo ist er?«
Victor war derart außer sich, daß er seinen Bruder schüttelte und ohrfeigte, bis Jack Ballard dazwischentrat.
»Ich rede mit ihm, Victor. Kümmere du dich um deine Frau.«
Laternen wurden entzündet. Sie weiteten die Suche auf das gesamte Flußufer bis zum Haus aus und durchkämmten auch die andere Richtung so weit, wie ein Kind zu Fuß hätte laufen können.
Alle wußten, wie unwahrscheinlich es war, daß sich der Junge diesseits des Flusses im Busch verirrt hatte. Der Grüngürtel war zu schmal und wich bald offenem Weideland. Am gegenüberliegenden Ufer dagegen wucherte der Busch wild und ungehemmt. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn zu roden, weil es genügend Weiden auf dem Besitz gab. Da der Fluß die größte Gefahr darstellte, konzentrierten sich die Männer auf die Ufer und hielten ängstlich Ausschau nach einem kleinen Körper, der dort angespült worden wäre.
Nachdem Rupe seinen Schock überwunden hatte, schloß er sich dem Suchtrupp an. Vielleicht war Teddy ja doch nur umhergewandert, müde geworden und irgendwo eingeschlafen. Kinder taten so etwas doch häufig.
Jack Ballard brachte Louisa, die kurz vor einem Zusammenbruch stand, auf Victors Anweisung ins Haus zurück.
»Sie werden ihn finden«, sagte er und schob sie in die Küche.
»Die Jungen finden ihn, Louisa. Kommen Sie rein, ich hole Ihnen einen Brandy. Sie zittern ja.«
Cleo wartete voller Angst auf sie. Ihre bange Frage erübrigte sich.
Louisa sank auf einen Stuhl, umklammerte mit zitternden Händen das Brandyglas und trank es in einem Schluck leer.
Als sie wieder zu Atem gekommen war, beugte sie sich über den Tisch und sagte drohend: »Verlaß auf der Stelle mein Haus! Raus!«
Schluchzend sprang Cleo auf und floh aus der Küche.
»Ganz ruhig«, sagte Hannah und legte den Arm um Louisa.
»Das arme Mädchen ist schrecklich durcheinander.«
»Durcheinander?« kreischte Louisa. »Sie hat auch allen Grund dazu! Jack, sie kann heute nacht noch bleiben, aber dann will ich sie nicht mehr sehen. Morgen früh bringt jemand sie nach Cobbside. Von dort aus kann sie selber zusehen, wie sie weiterkommt, diese Schlampe!«
Jack nickte. »Gut, ich werde mich darum kümmern. Möchten Sie sich ein bißchen hinlegen? Hannah kocht Ihnen eine schöne Tasse Tee.«
»Nein, ich bleibe hier! Sie gehen zurück, ich warte bei Hannah.«
Sie suchten die ganze Nacht, dehnten das Suchgebiet immer weiter aus, durchkämmten schließlich sogar das Haus und sämtliche Nebengebäude in der schwachen Hoffnung, das Kind könne auf irgendeinem Weg zurückgekehrt sein.
Jack schickte einen Mann zum alten Jock, um einen schwarzen Fährtenleser zu holen, obgleich die Gegend inzwischen vermutlich derart zertrampelt war, daß keine Spuren mehr zu erkennen sein würden.
Jock Walker war entsetzt angesichts dieser Katastrophe und machte sich gleich selbst auf den Weg. Er brachte Simon mit, einen hochgewachsenen Aborigine. »Er ist unser bester Fährtenleser und wird den Jungen finden, sobald es hell ist«, versicherte er.
Die müden Männer fanden sich auf der Farm ein, um etwas zu essen und heißen Tee zu trinken. Sie ruhten sich kurz aus und machten sich bei Tageslicht mit neuer Hoffnung auf die Suche. Nur Rupe blieb zurück; er konnte es nicht mehr ertragen, weiterzusuchen. Man brachte Simon zu ihm; er mußte ihm erklären, wo er den Jungen zuletzt gesehen hatte, und ihn mit Victor zum Fluß begleiten.
Wie Jack erwartet hatte, schüttelte der Fährtenleser beim Anblick der durcheinanderlaufenden Fußspuren von über zwanzig Leuten den Kopf. Er suchte das steile Ufer ab, während Victor und Rupe wie gebannt warteten.
Rupe wußte, daß der Stock noch immer in der Furche steckte, wagte aber nicht, sie darauf aufmerksam zu machen. Am liebsten hätte er ihn gepackt und in den Fluß geworfen, damit er ihn nicht mehr sehen mußte, war aber vor Angst und Schuldgefühlen wie gelähmt.
Simon hockte sich hin und untersuchte sorgfältig den Hügel, auf dem Rupe und Cleo gesessen hatten; glücklicherweise verkniff er sich einen Kommentar. Dann suchte er schrittweise die Büsche und den Boden ab.
»Leider sind die Männer überall gewesen«, sagte Victor.
Simon sah hoch. »Männer sind groß, sehen nur nach oben. Hier liegen Dreckklumpen. Kleine Linien am Boden. Jemand hat mit Stock gegraben, unten in Erde. Wer war das?«
Alle Augen richteten sich auf Rupe. Er krümmte sich innerlich. Jock, Victor und Jack Ballard fixierten ihn, ohne sich der Tragweite dieser Frage bewußt zu sein. Dann wieder Simon:
»Wer hatte Stock zum Graben?«
»Teddy«, flüsterte Rupe. »Er hat damit herumgestochert.«
Simon nickte und machte sich wieder an die Arbeit. Langsam, beinahe unerbittlich, wie es Rupe schien, nahm er die Spuren des Stocks auf. Er drang bei seiner Suche tiefer in den Busch vor, den Abhang hinunter, seufzte bei Hindernissen, bewegte sich aber unentwegt weiter, bis er unten am Ufer auftauchte.
Dort hockte er sich hin und deutete auf etwas.
»Was ist los?« schrie Victor. Der Stock ragte nur etwa dreißig Zentimeter aus der Erde.
Simon bedeutete ihnen stehenzubleiben, während er den Stock Zentimeter für Zentimeter einkreiste, ohne ihn jedoch zu berühren.
Rupe wußte, daß der schwarze Fährtenleser bald das getrocknete Grasbüschel und die Kratzspuren entdecken würde, sofern letztere noch zu sehen waren. Er betete, Simon möge eine andere Schlußfolgerung daraus ziehen, flehte Gott um Hilfe an. Hoffte entgegen aller Wahrscheinlichkeit, daß jemand herbeistürzen und rufen würde, daß man Teddy gefunden habe. Diese Quälerei war einfach unerträglich.
Simon schüttelte traurig den Kopf. Er sah unverwandt aufs Wasser hinaus, bis sein Blick schließlich auf Victor fiel. Er hatte Tränen in den Augen. »Ich denke, Teddy genau hier rein, Boß.«
Die Brodericks waren entsetzt; alle waren entsetzt. Victor ließ den Fluß mit einem Schleppnetz absuchen. Er wollte nicht eher aufgeben, bis sie Teddys Leiche gefunden hätten, doch dies war eine schwierige Aufgabe. Der Fluß steckte voller Baumstümpfe, Stämme und Farnblätter, die vom Hochwasser mitgeschwemmt worden waren und sich in der felsigen Tiefe verfangen hatten. Die Männer durchkämmten das Wasser, während Victor ihnen vom Ufer aus Anweisungen zurief, doch alle wußten, daß die Strömung den kleinen Körper leicht davongetragen haben konnte.
Als Rupe sich an der Suche beteiligen wollte, griff Victor ihn blindlings mit einem Handbeil an, und nur Jack Ballards rasches Eingreifen verhinderte eine weitere Tragödie. Er entriß seinem Boß die Waffe und ließ ihn von zwei Männern festhalten, während er Rupe wegführte.
»Komm schon, geh nach Haus. Du solltest dich besser ausruhen.«
»Oh Gott, es tut mir so leid«, schluchzte Rupe, während Jack ihn auf ein Pferd verfrachtete und über die Koppel führte. »Was soll ich machen? Was kann ich denn sagen?«
Jack wußte darauf auch keine Antwort. Er brachte Rupe in die Personalküche, wo dieser sich zitternd am Herd des chinesischen Kochs niederließ, der für die Verpflegung der Männer zuständig war. Hoffentlich war es Hannah wenigstens gelungen, die bedauernswerte Mutter des Jungen ins Bett zu bringen.
Aber nein, sie saß noch immer völlig erschöpft in der Küche und weigerte sich, ihren Posten zu verlassen.
»Er ist nicht ertrunken, oder?« fragte sie Jack flehend. »Doch nicht Teddy, bitte Jack, sagen Sie, daß es nicht wahr ist. Heute morgen hat er noch mit seiner Eisenbahn gespielt, und ich sagte, daß ihm sein Daddy ein paar Waggons basteln würde. War das heute? Nein, es muß gestern gewesen sein!« Sie fing an zu schreien. »Wie lange ist er jetzt schon verschwunden? Die ganze Nacht allein im Dunkeln!«
Jack wandte sich mit fester Stimme an Hannah. »Bring Mrs. Broderick auf ihr Zimmer, sofort! Sie muß sich hinlegen.«
»Sie will aber nicht!« erklärte Hannah verzweifelt.
»Oh, doch.« Jack ließ nicht mit sich reden. Mit vereinten Kräften schleppten sie Louisa nach oben, doch als sie an Cleos Tür vorbeigingen, kreischte sie erneut los. »Ist sie noch immer hier? Ich will, daß sie verschwindet!«
Jack traf Cleo in ihrem Zimmer an, wo sie nervös zwischen gepackten Koffern saß. »Irgend etwas Neues von Teddy? Ich habe noch nichts gehört, ich werde wahnsinnig hier oben.«
Jack tätschelte ihre Schulter. »Kopf hoch, meine Liebe. Leider gibt es keine guten Nachrichten. Sieht aus, als wäre er ertrunken. Ich sage es Ihnen nur ungern, aber Sie sollten besser von hier fortgehen. Niemand gibt Ihnen die Schuld, die Missus weiß nicht, was sie redet …«
»Natürlich geben sie mir die Schuld«, weinte Cleo. »Ich werde es mir ja auch nie verzeihen können. Ich werde gehen, Jack, aber ich wünschte, ich könnte Louisa sagen, wie furchtbar leid es mir tut.«
»Dazu würde ich Ihnen im Moment nicht raten«, erwiderte er. »Kommen Sie mit runter, dann überlegen wir gemeinsam, was zu tun ist.«
Er suchte Rupe in der Personalküche auf. »Ich habe eine Aufgabe für dich.«
»Was denn?«
»Louisa ist furchtbar wütend auf Cleo, wir müssen sie von hier wegbringen. Ich kann sie aber nicht allein nach Cobbside schicken, in dieses gottverlassene Kaff. Bring sie bitte nach Toowoomba, such ihr ein anständiges Hotel und sorg dafür, daß sie von da nach Brisbane weiterreisen kann.«
»Wieso ich?« knurrte Rupe. »Willst du mich etwa gleich mit loswerden?«
»Keine schlechte Idee. Du bist immerhin mit ihnen zum Fluß gegangen.«
»Es war ihre Aufgabe, auf Teddy aufzupassen. Ich dachte, sie wüßte, wo er steckt.«
»Du wolltest wissen, wie du helfen kannst. Gegenseitige Beschuldigungen bringen Teddy nicht zurück, und du hast gesehen, in welchem Zustand sich seine Eltern befinden. Laß ihnen Zeit, zur Besinnung zu kommen, Rupe.«
Dieser rührte sich noch immer nicht. Der Koch, der Streit witterte, stahl sich aus der Küche.
»Ich bitte dich doch nur, Cleo nach Toowoomba zu bringen. Das ist doch nicht zuviel verlangt.«
Wäre es nicht um sie gegangen, hätte Rupe bereitwillig die Gelegenheit ergriffen, dieser schrecklichen Situation zu entfliehen. Doch er wollte sie nie wieder sehen oder mit ihr sprechen, da er sich mittlerweile eingeredet hatte, alles sei allein ihre Schuld gewesen. Worüber sollten sie sich auf diesem langen Ritt denn unterhalten? Daß sie Teddy vergessen hatten? Daß er ertrunken war? Schon der Gedanke an eine solche Unterhaltung versetzte ihn in Panik.
Schließlich sagte er: »Du scheinst meine Gefühle nicht zu verstehen. Teddy war mein Neffe. Ich habe ihn auch geliebt.«
Er konnte seine Stimme nicht mehr beherrschen und schrie:
»Warum läßt du mich nicht einfach in Ruhe!«
»Du willst Cleo also nicht hinbringen?«
»Nein, das werde nicht tun.« Er seufzte. »Jock war eben hier. Er sattelt die Pferde und nimmt Simon mit. Ich werde für eine Weile bei ihm bleiben.« Er zuckte hilflos die Achseln.
»Wenn sie mich hier schon nicht haben wollen.«
»Ich nehme an, damit muß ich mich zufriedengeben. Aber ich dachte, Cleo sei dein Mädchen.«
Auf dem Rückweg zum Haus stieß Jack auf Spinner. »He, komm mal her! Kennst du die Tirrabee-Farm?«
»Ja, langer Weg. Harry jetzt Boß da.«
»Das stimmt. Ich möchte, daß du dir ein gutes Pferd nimmst, zu Harry reitest und ihm ausrichtest, daß wir ihn hier brauchen.«
Spinner verdrehte die Augen. »Soll ich vom armen Teddy erzählen?«
»Ja, und bring ihn unbedingt mit. Und zwar schnell.«
»Gut, Boß, ich erledige das.«
Da Rupe sich weigerte, Cleo nach Toowoomba zu bringen, und sie kaum allein dorthin reiten konnte, ließ Jack den Gig vorfahren. Er wies einen Viehhüter an, die Dame nach Cobbside zu bringen. Mehr konnte er nicht für sie tun.
»Gehen Sie ins Pub«, wies er sie an. »Dort wird man sich um sie kümmern, bis die Kutsche kommt. Brauchen Sie Geld?«
»Nein danke, Jack. Aber ich möchte Rupe sehen, bevor ich fahre.«
»Er ist nicht hier, Cleo. Vermutlich ist er zu Victor hinübergeritten«, log Jack. »Es tut mir wirklich leid, aber unter diesen Umständen sollten Sie … Louisa Zeit lassen. Sie weiß im Moment einfach nicht, was sie sagt.«
»Oh doch, das weiß sie genau.«
Er brachte sie zum Gig. Es war ein trauriger, einsamer Abschied. Nicht einmal Hannah und die Mädchen kamen heraus, um ihr Lebewohl zu sagen.
»Schicken Sie uns Ihre Adresse«, sagte Jack. »Die Polizei wird Ihre Aussage benötigen.«
Er sah dem Wagen nach, als er den Kiesweg und auf die Straße hinauffuhr, vorbei an der Reihe hoher Kiefern, die Austin vor langer Zeit gepflanzt hatte.
Gut, daß du das nicht mehr miterleben mußtest, Austin, dachte er im stillen. Es hätte dir das Herz gebrochen.
Er hatte seine Pflicht erfüllt, indem er Cleo und Rupe aus der Reichweite der verzweifelten Eltern entfernte. Vor allem Victor war in einer gefährlichen Verfassung. Doch schon bald würden die beiden erklären müssen, was an diesem Sonntagnachmittag geschehen war. Wie es dazu kommen konnte, daß sie Teddy aus den Augen verloren.
Unter den Männern herrschte die Ansicht vor, sie hätten geschmust und den Jungen darüber vergessen.
»Jesus«, murmelte Jack mit einem Blick zum großen Haus hinüber, »was wird passieren, wenn Rupe seinem Bruder in die Hände fällt?« Er hoffte, daß Harry keine Zeit verlieren und umgehend nach Springfield kommen würde.
Dann fiel ihm Charlotte ein.
Teddy war ihr Enkel, sie mußte benachrichtigt werden.
Die Männer kehrten kopfschüttelnd vom Fluß zurück und wurden von der nächsten Schicht abgelöst. Noch immer keine Spur von dem Jungen. Sein Vater war dem Wahnsinn nahe und drohte jeden niederzuschießen, der ans Aufgeben dachte.
»Oh Herr, verleih unserem Harry Flügel«, flehte Hannah, die sich mit Jack daran gemacht hatte, ein angemessenes Telegramm an Charlotte aufzusetzen.
»Wie können wir es ihr schonend beibringen?« fragte sie ihn besorgt.
»Ich weiß es nicht. Mit Worten habe ich es nicht so.«
»Ich mußte noch nie ein so schlimmes Telegramm abschicken«, schluchzte Hannah.
»Aber sie muß es erfahren.«
»Mehr als zwölf Wörter kosten Zuschlag.«
»Pfeif auf die Kosten!«
Nach mehreren erfolglosen Versuchen hatte Hannah ihre Botschaft beisammen und übertrug sie auf ein sauberes Stück Papier. Müssen leider mitteilen, daß Teddy Unfall hatte. Mit freundlichen Grüßen, Hannah.
Sie sah auf das Blatt herunter. »Mehr kann ich nicht tun. Wir wissen ja nicht, was genau mit ihm geschehen ist.«
»Er ist gewiß ertrunken.«
»Mag sein, aber ich schicke kein Telegramm, wo das drinsteht. Es ist zu grausam. Die arme Frau wird es noch früh genug erfahren.«
Nur Minuten später brach ein Mann mit dem Zettel nach Cobbside auf.
Charlotte erhielt das Telegramm am nächsten Morgen um neun Uhr im Hotel, kurz nachdem das Büro geöffnet hatte. Da Telegramme als Unglücksboten bekannt waren, spitzten ihre neuen Bekannten die Ohren, als sich die Nachricht im Hotel verbreitete. Die Damen standen besorgt vor ihrer Tür, klopften schließlich leise an und fragten, ob sie etwas für sie tun könnten.
Charlotte saß wie betäubt da, dieses eine Mal dankbar für ihre Anteilnahme.
»Ich muß nach Hause«, rief sie aus. »Meinem Enkel ist etwas zugestoßen. Ein Unfall – was soll das heißen? Es muß schlimmer sein. Sonst würde sie doch nicht schreiben ›müssen leider mitteilen‹. Ich muß sofort nach Hause.«
Sie war völlig aufgelöst und versuchte schluchzend zu packen. Doch selbst in dieser Lage bewahrte Charlotte Broderick Haltung. Sie war es gewohnt, Befehle zu erteilen, und nun kam ihr diese Fähigkeit zupaß. Eine Dame wurde angewiesen, ihre Koffer zu packen, eine andere ausgeschickt, Fern Broderick zu informieren. Eine dritte buchte für sie eine Zugfahrt erster Klasse im nächsten Zug nach Toowoomba.
Um zwölf Uhr mittags überreichten die Damen ihr einen Picknickkorb für die lange Reise, den sie mit Dank entgegennahm. Auch Fern war da, um sich von ihr zu verabschieden. »Laß mich wissen, was passiert ist. Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm. Dienstboten geraten leicht in Panik. Ich schicke ein Telegramm, damit sie wissen, daß du kommst.«
»Das ist nicht nötig«, erwiderte Charlotte steif. Sie hatte große Angst und fragte sich, weshalb man es Hannah überlassen hatte, sie zu benachrichtigen. Sie kannte die Köchin. Diese Frau geriet nicht so schnell aus der Fassung. Worum es bei diesem Unfall auch immer ging, es mußte schlimm sein.
»Aber dann können sie jemanden nach Toowoomba schicken, um dich abzuholen«, versuchte Fern zu erklären.
»Ich sagte nein. Ich werde in einem Hotel übernachten und eine Kutsche mieten, die mich nach Springfield bringt. Keine Sorge, Fern, ich kenne den Weg nach Hause.«
An diesem Abend erhielt Mrs. Charlotte Broderick, die im Bezirk wohlbekannt war, das beste Zimmer im Hotel Victoria von Toowoomba. Der Wirt, der sich durch ihre Anwesenheit geehrt fühlte, schickte ihr eine erstklassige Mahlzeit aufs Zimmer, die sie jedoch kaum anrührte.
Das gleiche galt für eine junge Frau, die ebenfalls im Hotel wohnte. Cleo Murray war zu erschüttert, um Hunger zu empfinden.
Am nächsten Morgen schleppte sie ihren Koffer zum Bahnhof, wo sie wie ein Häufchen Elend auf den Zug nach Brisbane wartete.
Was war mit Teddy geschehen? Sie kannte noch immer nicht die ganze Wahrheit.
Und was war mit Rupe? Warum war er nicht zu ihr gekommen? Er hätte wenigstens nach ihr sehen können. Wollte er sie etwa nicht mehr heiraten?
Sie wußte es nicht.
Im Zug weinte sie um Teddy und betete für ihn.
Dies tat auch Charlotte. Sie dachte ununterbrochen an ihn, während sie schäumend vor Wut in der Eingangshalle des Hotels saß. Die Kutsche stand wegen einer gebrochenen Achse nicht zur Verfügung. Noch schlimmer war, daß der Hotelbesitzer keinen anderen Fahrer ausfindig machen konnte, da in der Stadt gerade Jahrmarkt war. Natürlich hätte sie Freunde bitten können, sie nach Springfield zu fahren, doch in dieser Situation schien es ihr unpassend, Gäste mitzubringen. Da sie keine Lust hatte, unter Menschen zu gehen, blieb sie im Hotel und weigerte sich hartnäckig, Victor zu benachrichtigen. Statt dessen telegrafierte sie Ada Crossley in Lochearn, schilderte ihr die Situation und bat um Neuigkeiten über Teddys Unfall.
Nur wenige Stunden später erhielt sie Adas knappe Antwort: »Bleib, wo du bist. Ich komme selbst.« Kein Wort von Teddy.
Charlotte, die jetzt noch besorgter war als zuvor, blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Sie wollte sich einreden, daß Ada es erwähnt hätte, wenn der Junge ernsthaft verletzt gewesen wäre. Aber warum hatte sie dann ihre Frage nach ihm unbeantwortet gelassen? Charlotte machte sich Vorwürfe, ihr Telegramm zu ungenau formuliert zu haben. Es war so schwierig, die richtigen Worte zu finden. Da sie erst am nächsten Tag mit Ada rechnen konnte, verbrachte sie quälende Stunden in ihrem Zimmer, wo sie auf- und ablief und den fröhlich feiernden Jahrmarktsbesuchern draußen lauschte.