13. Kapitel
Das kleine Haus auf Tirrabee bot dagegen ein Bild des Friedens. Aus dem Schornstein kräuselte sich Rauch empor, das rote Dach schimmerte anheimelnd in der Nachmittagssonne, und die Bäume ringsherum quollen über von rosa und weißen Blüten. Im spärlichen Gras hinter dem Zaun scharrten und pickten Hühner, drängte sich ein neugieriges Ferkel zwischen sie und beschnüffelte ihr Futter. Ein alter Schäferhund, der im Gebüsch geschlafen hatte, stürzte hervor und empfing die beiden Reiter, die am Tor abstiegen, mit wachsamem Gebell. Connie trat auf die Veranda hinaus.
Sie weinte, als sie auf Harry zulief, doch er strahlte übers ganze Gesicht. »Kein Grund für Tränen, Liebste. Sie haben Teddy gefunden. Er ist quietschfidel und schon wieder ganz schön frech.«
Sie trat einen Schritt zurück. »Was? Wie? Spinner hat doch gesagt …«
»Ich weiß, und es tut mir schrecklich leid, daß du dir solche Sorgen gemacht hast, aber es war falscher Alarm. Gib deinem Ehemann einen Kuß und sag, daß du ihm verzeihst.«
Sie küßte ihn zärtlich, schluchzte erneut, lächelte und versuchte, sich zu beherrschen, da Harry nicht allein gekommen war.
»Du erinnerst dich doch an Jack Ballard, Connie? Von Springfield?«
»Natürlich. Entschuldigen Sie, Jack, ich habe Sie nicht sofort erkannt. Harry, wieso hast du mir nicht telegrafiert, daß es Teddy gutgeht? Ich bin fast verrückt geworden vor Trauer.«
»Weil wir jetzt hier sind. Ein Telegramm hätte länger gebraucht als wir. Es ist eine lange Geschichte, die ich dir erzählen werde, wenn du uns hineinläßt.«
»Du lieber Himmel! Das Wohnzimmer ist völlig durcheinander. Clara bringt mir gerade bei, wie man einen Quilt macht, und nun liegen überall Stoffetzen herum.«
»Clara ist die Frau eines Viehhüters«, erläuterte Harry. »Sie hat Connie sehr geholfen, und auf ihren Mann kann man sich auch verlassen. Er war früher Zimmermann, suchte aber nach einer Stelle mit Unterkunft, da hat es ihn hierher verschlagen. Wir könnten ihn befördern, ihm etwas mehr Verantwortung übertragen.«
Connie runzelte verwundert die Stirn, als sie hörte, daß Harry mit einem Besucher Personalfragen besprach. Wollte er Jack vielleicht als Vorarbeiter einstellen? Aber das würde für diesen doch einen Abstieg bedeuten; außerdem konnte dieser Besitz keinesfalls einen Verwalter und einen Vormann ernähren. Doch für den Augenblick gab es wirklich Wichtigeres zu bedenken: Was sollte sie ihnen bloß zu essen vorsetzen?
»Erzähl mir von dir«, sagte Harry liebevoll, als sie hineingingen. »Geht es dir gut? Du siehst aus wie das blühende Leben.«
»Vielen Dank«, antwortete sie lächelnd, »ich fühle mich auch ganz ausgezeichnet. Überhaupt keine Probleme.«
Ihre Sorge um das Essen war unbegründet gewesen. Die beiden Männer übernahmen in der Küche die Regie und bestanden darauf, daß Connie sich hinsetzte und mit ihnen plauderte. Sie brieten riesige Portionen Steak mit Ei und Zwiebeln und kochten einen großen Topf Kartoffeln. Dabei erfuhr sie die Geschichte von Teddy und Nioka und hörte von Charlottes Unglück, der Entlassung der Gouvernante und der tiefen Kluft zwischen Victor und Rupe.
»Mehr konnte ich nicht tun«, erklärte Harry, während er Salz, Pfeffer und Worcestershire-Sauce, einen Laib Brot und Butter auf den Tisch stellte. »Das müssen sie schon untereinander ausmachen. Wieder mal«, fügte er lachend hinzu.
Erst nach dem Essen, bei Kaffee und Käse, berichtete Harry im Detail von den Ereignissen, die zum Teil selbst Jack Ballard neu waren.
»Moobuluk hattest du bisher gar nichts erwähnt.«
»Ich weiß nicht mal, wer das ist«, warf Connie ein.
»Er ist ein Zauberer, alt wie die Berge. Besser gesagt, er war es.«
»Ein Zauberer?« lachte Connie. »An dieses Zeug glaube ich nicht.«
Jack nickte. »Mag sein, aber bei den Schwarzen genießen sie großes Ansehen.«
»Sie wissen viel über Mutter Natur, von dem wir keine Ahnung haben.«
Connie ergriff seine Hand. »Wenn du es sagst, Liebling. Erzähl weiter. Du hast also mit diesem alten Burschen gesprochen, bevor du Nioka gefunden hast. Was ist so seltsam daran? Er wußte offenbar, daß sie da war und Teddy bei sich hatte.«
»Wahrscheinlich«, gab Harry zu, doch damals war es ihm nicht so erschienen. Er kam nun zum wichtigsten Teil der Geschichte, der Connie vermutlich nicht gefallen würde: dem Schicksal der schwarzen Kinder.
Er berichtete ausführlich von seinen Gesprächen mit Moobuluk, der Sorge des alten Mannes um die vermißten Jungen, seiner Angst, die anderen Kinder könnten auf die gleiche Weise spurlos verschwinden.
Jack zündete seine Pfeife an. »Da brat mir einer ’nen Storch. Deshalb ist die Horde also so plötzlich aufgebrochen. Sie haben kein Wort darüber verloren.«
»Sie hatten Angst.«
»Wie traurig«, sagte Connie mitfühlend. »Die armen Eltern. Stell dir vor, jemand würde uns das Kleine wegnehmen.«
»Unseren Sohn«, sagte Harry geistesabwesend.
»Du bist mir vielleicht einer! Woher willst du wissen, daß ich einen Sohn bekomme? Genausogut könnte es ein hübsches Mädchen werden.«
»Und Minnie hat sich umgebracht?« fragte Jack bestürzt.
»Ja. Deshalb ist Nioka auch zurückgekommen. Sie sucht nach ihrem Sohn und den beiden anderen Kindern. Sie ist stärker als die anderen und will sie um jeden Preis wiederhaben. Genau wie Moobuluk.« Er holte tief Luft. »Ich mußte ihm versprechen, sie zu suchen.«
»Wieso denn gerade du?« fragte Connie.
»Woher soll ich das wissen? Vermutlich, weil ich gerade zur Stelle war. Zur rechten Zeit am rechten Ort.« Er wirkte gereizt, da er lieber nicht über dieses Thema gesprochen hätte. »Ich schätze, es war eine Art Handel. Die Jungen gegen Teddy.«
»Hat er dir gedroht?« wollte Jack wissen.
»Nein.«
Doch Connie gab sich damit noch nicht zufrieden. »Als du Nioka gefunden hast, war sie schon dabei, Teddy zurückzubringen. Sie hat deine Hilfe eigentlich nicht gebraucht. Wie du sagtest, ist sie eine starke Frau und hätte ihn sicher heimgebracht.«
»Und Teddy niemals etwas zuleide getan«, fügte Jack hinzu.
»Ich glaube, er hat dich reingelegt, Harry. Dieser alte Windhund wußte, daß sie ihn zurückbringen würde, und hat dich unter Druck gesetzt, solange er es noch konnte.«
Harry war klar, daß das so nicht stimmte, doch es hatte keinen Sinn, dies erklären zu wollen. Also wandte er sich einem unverfänglicheren Thema zu. »Ich habe es nicht nur Moobuluk versprochen, sondern auch Nioka. Ihr dürft nicht vergessen, daß sie Teddy das Leben gerettet hat. Rupe und Cleo haben ihn in den Fluß fallen lassen, und er wäre zweifellos ertrunken, wenn Nioka nicht gewesen wäre. Wir stehen tief in ihrer Schuld.«
»Victor und Louisa stehen in ihrer Schuld«, korrigierte Connie. Sie begann allmählich zu verstehen, was vorgegangen war, und wandte sich an Jack. »Verzeihen Sie, ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber weshalb sind Sie hier? Nur zu Besuch?«
»Nein. Harry hat gesagt, er braucht mich, weil er eine Weile weg muß …«
Hilfesuchend sah Jack zu Harry hinüber, da er nichts Genaueres über dessen Pläne wußte.
»Du willst schon wieder weg?« fragte Connie vorwurfsvoll.
»Es geht nicht anders. Ich muß die Kinder suchen.«
»Wieso denn du? Du hast damit doch nichts zu schaffen, Harry. Du warst nicht einmal dabei, als dieser Geistliche und seine Frau sie mitgenommen haben. Dich trifft keine Schuld. Victor, Louisa und deine Mutter sind dafür verantwortlich, laß sie doch nach ihnen suchen.«
»Sie hielten es damals für das Beste«, sagte Jack schuldbewußt.
»Das Beste?« stieß die werdende Mutter hervor. »So etwas habe ich ja noch nie gehört. Man holt Kinder von ihren Müttern weg und bringt sie in irgendein entsetzliches Waisenhaus. Gibt es nicht schon genügend echte Waisen in diesem Land? Soweit ich weiß, werden sie auch nicht allzu gut behandelt.«
»Da steckt nun einmal die Regierung hinter«, erklärte Jack. Harry ließ die beiden diskutieren. Er hatte Victor ohne nähere Angabe von Gründen gebeten, ihm den Vormann für eine Weile zu überlassen, und sein Bruder hatte seiner Bitte nur zu gern entsprochen, da er Harry nach wie vor als einen von Teddys Rettern betrachtete.
Auch Jack hatte sich über die Abwechslung gefreut, die für ihn einem Urlaub gleichkam. Während des langen Ritts nach Tirrabee hatte Harry die Gelegenheit ergriffen, aus Jacks langjähriger Erfahrung Nutzen zu ziehen, die seine eigenen Kenntnisse bei weitem übertraf. Er würde sich die Farm genau ansehen und ihn beraten.
Harry wußte, daß man die schwarzen Jungen in eine Schule gebracht hatte, die von der Kirche des Heiligen Wortes geführt wurde – das immerhin hatte ihm Louisa sagen können. Er mußte nur nach Brisbane fahren, die Kinder abholen, mit dem Zug nach Toowoomba bringen, dort ein Fahrzeug mieten und sie wohlbehalten in Springfield abliefern. Er schätzte, dieses Vorhaben würde acht bis zehn Tage in Anspruch nehmen. Die unbequeme Reise durch den Busch war zwar lästig, doch er hatte es nun einmal versprochen.
Obwohl Harry einen tüchtigen Mann mitgebracht hatte, der auf der Farm nach dem Rechten sehen und auch ihr beistehen konnte, war Connie noch immer nicht begeistert von diesem Plan.
»Sie wissen doch, wo die Kinder sind, also laß sie hinfahren! Victor ist genau der Richtige dafür, oder Rupe. Damit können sie Nioka ihre Dankbarkeit beweisen. Sie tragen die Schuld, also müssen sie den Schaden wiedergutmachen.«
Sie stritten bis spät in die Nacht. Harry war sehr aufgewühlt. Er wußte, daß dies ein besonders ungünstiger Zeitpunkt war, um Connie allein zu lassen. Als er sie in die Arme nahm, war ihm, als verlange Moobuluk eigentlich zuviel von ihm.
Doch irgendwo tief in seinem Inneren meldete sich eine andere Stimme zu Wort, die mehr war als nur sein Gewissen. Er träumte, er sähe Niokas Mutter, die muskulöse, schwarze Frau, die allen Kindern – schwarzen wie weißen – ungeheure Angst eingejagt hatte, wenn sie ihnen die Leviten las und dabei mit der Keule gegen den Boden hämmerte. Er sah, wie sie Victor und Rupe beiseite stieß und auf ihn deutete, während sie mit Austin sprach, besser gesagt, ihn anschrie. Ihm die Schuld gab. Austin wirkte unbeeindruckt; er wandte sich an Harry und sagte etwas Unverständliches.
Beim Aufwachen begriff er, daß Victor oder Rupe einfach nicht mit dem Herzen dabei wären und die Kinder deswegen vielleicht gar nicht finden würden.
Vor seinem Aufbruch hatte er mit Charlotte gesprochen und versucht, sie zu beschwichtigen. Sie war noch immer wütend auf ihre Familie und über den Sturz, der ihr den gebrochenen Arm eingetragen hatte. Er hatte schnell das Thema gewechselt und sich nach den schwarzen Kindern erkundigt. Seine Mutter erklärte, Austin habe tatsächlich eingewilligt, daß diese Leute die Jungen mitnahmen, und der Kirche sogar eine beträchtliche Summe gespendet. Sie hatte nichts Schlimmes darin gesehen und wie alle anderen geglaubt, es sei zum Besten der Kinder. Sie konnte sich nur noch an den Namen des Paares erinnern, der Name der Kirche fiel ihr nicht mehr ein. Louisa hatte ihm dann weitergeholfen.
Während er kalt duschte, dachte Harry über seinen Traum nach. Es überraschte ihn nicht sonderlich, daß die schwarze Frau im Traum seinen Vater angebrüllt und dieser sich ungerührt gezeigt hatte.
Schließlich hatte auch er es für das Beste gehalten. Harry spürte, daß er demjenigen, der ihm als nächstes mit diesem Spruch käme, vermutlich eine Ohrfeige verpassen würde. Immerhin hatte Connie das ebenso empfunden wie er. Wenn sie nur verstehen könnte, warum er sich verpflichtet fühlte, die Jungen zu suchen. Er stieg aus der Dusche und trocknete sich ab. Ihm war klar, daß er nur dann aufbrechen konnte, wenn Connie dem zustimmte. Sie hatte sich nach ihrem damaligen Streit nie wieder beklagt, weder über den Umzug nach Tirrabee noch über ihren geänderten Lebensstil. Für seine Reise nach Springfield hatte es einen triftigen Grund gegeben, doch konnte er sie noch einmal auf dieser abgelegenen Farm allein lassen? Hatte er überhaupt das Recht dazu?
Am nächsten Tag führte er Jack Ballard über den Besitz, und Connie schüttete unterdessen Clara Nugent ihr Herz aus. Bei mehreren Tassen Tee lauschte diese fasziniert der Geschichte, und unterbrach Connie mit zahllosen Fragen, die diese bereitwillig beantwortete.
Dann verkündete sie: »Es reicht. Warum sollte mein Ehemann noch mehr Zeit darauf verwenden, diese dummen Situationen zu bereinigen, in die seine Familie ständig gerät? Stell dir vor, wie furchtbar dieser Ritt nach Springfield für ihn gewesen sein muß, und dann trifft er seinen Neffen quietschfidel an.«
»Das hat sich doch aber erst später herausgestellt.«
»Du weißt schon, wie ich es meine. Jedenfalls ist es hochgradig lächerlich. Sein Vater hat ihn aus dem Testament gestrichen. Seine Mutter wollte sein Erbe retten, doch seine Brüder lassen nicht mit sich reden. Und nun will er tatsächlich ihre Probleme mit den Schwarzen aus der Welt räumen. Heute morgen hat er sogar gesagt, er bezweifle, daß seine Brüder ihr Versprechen gegenüber Nioka halten würden. Nun, sie wohnt dort, sie muß selbst dafür sorgen, daß sie es tun.«
Clara sah die Frau an, die ihre Freundin geworden war. Connie mochte ein wenig verrückt und eine hoffnungslose Hausfrau sein – sie konnte nicht einmal richtig Betten machen –, doch es machte Spaß, mit ihr zusammenzusein. Clara war noch nie einem Menschen wie ihr begegnet.
Häusliche Kalamitäten konnten sie nicht schrecken. War das Essen angebrannt, plünderte sie mit ihrem Mann lachend den Vorratsschrank. Sie lachte überhaupt viel, meist über ihre eigene Unfähigkeit, was ansteckend wirkte. Sie strahlte soviel Wärme und Fröhlichkeit aus, daß auch die Männer grinsten, wenn sie erschien, und ihr am liebsten galant die Mäntel vor die Füße gelegt hätten, damit sie sich ihre Schuhe nicht schmutzig machte.
»Ich wette, sie war mal ein richtiges Gesellschaftstier«, bemerkte Claras Mann einmal.
»Wie kommst du denn darauf?« fragte Clara interessiert.
»Oh, sie hat das gewisse Etwas. Hat die Männer bestimmt innerhalb kürzester Zeit um den Finger gewickelt.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Clara sah keinen Grund, deswegen neidisch zu sein. Sie war auch hübsch mit ihren langen, sonnengebleichten Haaren und der hochgewachsenen Figur; zudem konnte sie ausgezeichnet reiten. Sie machte nicht viel Aufhebens darum, doch sie hatte sogar Preise beim Kunstreiten gewonnen. Die Auszeichnungen bewahrte sie in einem mit Satin ausgeschlagenen Kasten auf.
Mrs. Broderick hatte tatsächlich das gewisse Etwas und war darüber hinaus eine gebildete Frau, die kistenweise Bücher besaß. Clara dachte manchmal, sie würde während ihrer Lektüre nicht einmal bemerken, wenn das Dach über ihrem Kopf abbrannte. Und nun gab sie diese Bücher an die Frau des Viehhüters weiter, als sei dies das Normalste von der Welt.
Clara hatte nicht nur eine Freundin gewonnen, mit der sie über die ausgefallensten Dinge sprechen konnte, sondern durch sie auch Gefallen an Büchern gefunden, die sie in einem ungeheuren Tempo verschlang.
Clara zwang sich, ihre Gedanken wieder auf das augenblickliche Thema zu lenken, denn Connie wollte ihre Meinung über Harrys Vorhaben hören.
»Ich halte den Boß für einen sehr großzügigen Mann.«
»Im Augenblick kann er sich das nicht erlauben. Uns fehlt es an Bargeld.«
Clara sah aus dem Fenster, ohne die dicken Staubwolken zu bemerken, die vom Westwind aufgewirbelt wurden. »Großzügigkeit hat nicht nur mit Geld zu tun. Mein Vater pflegte zu sagen, ein großes Herz sei die wichtigste Tugend. Er war Lehrer, ein guter, wie es heißt, obwohl er für uns Kinder nicht viel getan hat. Der Alkohol, weißt du. Mit Mum und Dad ging es bergab …«
Doch Connie hörte ihr nicht zu. Sie hatte nur die ersten Worte aus dem Mund dieser gütigen Frau wahrgenommen und war beschämt. Clara schien etwas an Harry bemerkt zu haben, das ihr selbst entgangen war. In der Vergangenheit hatten sie beide schlimme Fehler begangen, standen einander nun aber näher als je zuvor. Sie liebten sich und hatten dennoch eine ganze Nacht mit Streiten vergeudet. Was bedeuteten schon ein oder zwei Wochen, wenn Harry fühlte, daß es seine Aufgabe war, die Kinder heimzubringen? Wo war denn ihre Großherzigkeit? Hatte sie sich nicht in der Diskussion mit Jack Ballard leidenschaftlich für sie eingesetzt, Regierungspolitik hin oder her? Jemand mußte sie nach Hause holen.
Als Harry allein zurückkam, zog sie ihn ins Schlafzimmer und umarmte ihn. »Du bist ein liebenswerter Mann, Harry Broderick.«
Als das Thema eine Weile später wieder aufkam, sah sie ihn augenzwinkernd an: »Sagte ich, du dürftest nicht gehen? Ich meinte natürlich, du solltest nicht gehen müssen.«
»Ich muß aber«, entgegnete er aufrichtig. »Und ich liebe dich, Connie.«
Die Bahnlinie von Toowoomba zur Bergarbeiterstadt Ipswich verlief nur wenige Meilen am Eingeborenen-Reservat vorbei, von dessen Existenz Harry allerdings nichts wußte. Nur wenige Weiße kannten diese Einrichtung – die Farmer im Umkreis beklagten sich jedoch über die Wahl des Ortes. Sie wehrten sich dagegen, daß man Hunderte von Schwarzen, wenn auch auf einem abgeriegelten Gebiet, in ihrer Mitte zusammenpferchte. Leider bemerkten sie es zu spät, denn die Bürokraten in Brisbane hatten die Umsiedlung heimlich, still und leise über die Bühne gebracht. Eine deutsche Pioniersfrau, die jenseits von Nerang lebte, verfaßte einen von Trauer erfüllten Brief an die Courier Mail, in der sie die Regierung der übertriebenen Härte bezichtigte. Diese träfe nicht nur die Schwarzen, die mit Gewalt von ihrem Territorium vertrieben würden, sondern auch die kleine weiße Gemeinde, deren Angehörige die Aborigines als Freunde betrachteten. Sie erklärte, die Pionierfamilien schuldeten den einheimischen Schwarzen ungeheuer viel. Sie seien ihnen in den schweren Jahren, in denen sie erst lernen mußten, sich von der fremden Erde zu ernähren, freundlich und hilfsbereit begegnet. Die Frau bat flehentlich um ihre Rückkehr, doch der Brief wurde nie veröffentlicht. Vielleicht, so dachte sie später, sei ihr Englisch nicht gut genug gewesen.
Es gab auch Farmer, die das Reservat mit Erstaunen betrachteten. Sie lagen nicht im Streit mit den Aborigines und stellten sich nur die offensichtliche Frage: Diese Ebenen boten hervorragendes Ackerland, doch wie sollten so viele Menschen auf einem so kleinen Gebiet überleben können? Ursprünglich hatten sie angenommen, daß dies ein landwirtschaftliches Projekt sei, wurden aber bald schon eines Besseren belehrt, als immer mehr schwarze Familien in diese Gegend gebracht wurden. Es entstanden dort auch keine Farmen, sondern eine Vielzahl von winzigen Gemüsegärtchen, Hütten, Suppenküchen und Lagerschuppen, in denen die Bewohner mit Hilfe eines komplizierten Gutscheinsystems Nahrung erhielten. Eingeschmuggelter Schnaps diente als Währung und Trostbringer gleichermaßen.
Harry, der die Zusammenhänge nicht kannte, sah nur ein dichtbevölkertes Gebiet und dachte bei sich, daß die Farmer und Viehzüchter wohl deshalb mehr Land für sich beanspruchten. Toowoomba und Ipswich wuchsen rasch. In wenigen Jahren würden dies eigenständige Städte sein, und der Westen würde weitere Siedlerströme aufnehmen müssen. Nur ganz im Norden des Landes, der mit seinen ungeheuren Entfernungen abschreckend wirkte, würden die riesigen Farmen überdauern können.
In Ipswich angekommen, ging er ins Railway Hotel, trank einige Gläser Bier und stieg wieder in den Zug, um seine Mission in Brisbane zu erfüllen. Vielleicht konnte ihm ja der anglikanische Erzbischof den Weg zur Kirche des Heiligen Wortes weisen.
In seinem neuen Zuhause hatte Jagga viele Spielkameraden. Es tat ihm nicht leid, sich von seinen komischen Kleidern zu trennen; vor allem der Abschied von den Schuhen, die Maggie alsbald zu Geld machte, fiel ihm leicht. Sie gab ihm zu essen, wenn sie nüchtern war; ansonsten aß er, was sich gerade bot. Meist ergatterte er etwas in den klapprigen, offenen Schuppen, die sich an die elenden Hütten lehnten. Nur wenige Menschen übernachteten in diesen Unterkünften; sie wurden lediglich als Regenschutz benutzt, denn die meisten Bewohner schliefen lieber im Freien.
Bald schon lernte Jagga, Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Überall herrschte Kampf: zwischen den einzelnen Clans; den Leuten, die Gemüsen anbauten, und jenen, die es stahlen; unter Betrunkenen; zwischen Männern und Frauen … es nahm einfach kein Ende. Die Kinder bewarfen angebliche Feinde mit Steinen und wurden daraufhin gejagt und geschlagen. Jagga entwickelte sich zu einem drahtigen Straßenbengel, der die besten Verstecke für seine geschenkten oder gestohlenen Vorräte kannte. Von Mrs. Smith und ihrer Köchin hatte er recht gut Englisch gelernt und trieb sich nun oft bei der Lagerverwaltung herum, wo er dem Leiter, Mr. Jim, zuhörte, der inzwischen fünf Angestellte befehligte. Schließlich fanden sie eine Aufgabe für ihn. Er wurde ihr Botenjunge, der durch das Chaos sauste und Personen aufspürte, die die Beamten nicht mehr wiedererkannt hätten. Dafür erhielt er gelegentlich eine Orange oder einen Lutscher, manchmal auch Essensreste, was den Neid seiner Freunde weckte. Die Kinder bezeichneten ihn als Spion und schlugen nach ihm, doch er lernte schnell, sich mit der einzigen Waffe zu wehren, die er besaß: Er drohte ihnen, Mr. Jim davon zu berichten, der sie ins Gefängnis sperren würde. Dieses geheimnisumwitterte Gebäude war erst kürzlich gebaut wurden, um Betrunkene und Unruhestifter aufzunehmen.
Jagga war ein Überlebenskünstler. Das Ehepaar Smith war gut zu ihm gewesen, so daß er keine Angst vor den weißen Bossen kannte, und das kam ihm hier zugute. Er konnte sich nicht mehr an seine frühen Jahre auf Springfield erinnern und spürte nur eine unbestimmte Sehnsucht nach seiner Mutter Nioka, doch er hatte einen Traum. Wann immer neue Leute ins Lager kamen, stand Jagga am Tor und betrachtete aufmerksam die Kinder. Er gab nie die Hoffnung auf, daß Bobbo und Doombie eines Tages in sein Leben zurückkehren würden, seine eigentliche Familie.
Nur wenige Wochen, nachdem die Aufseherin Giles das Armenhaus verlassen hatte, herrschte unter den Damen vom Wohltätigkeitsverein helle Aufregung, da ihre Nachfolgerin alles andere als geeignet war – eine grobe Frau ohne Erfahrung in der Krankenpflege, die außer ihrer täglichen Inspektionsrunde nur wenige Pflichten übernahm. Sie pochte auf ihren Status, anstatt sich um die Mißstände zu kümmern, die sie offenbar gar nicht zu bemerken schien. Wenn die Damen nach ihr fragten, war sie oft gerade nicht im Dienst, und das zu den unterschiedlichsten Tageszeiten. Beschwerden beim Direktor landeten nur wieder bei der Frau, die sie betrafen, da er sich angeblich nicht für sie zuständig fühlte. Zudem wurde getuschelt, daß sie eine persönliche Freundin dieses Herrn sei und er ihr diesen Posten verschafft habe.
Pläne zur Schließung dieser Einrichtung verstaubten in den Schubladen des Wohnungsbauministeriums, nachdem sie endlos zwischen dem Gesundheitsministerium, der Wohlfahrtsbehörde und den Ämtern, die für die regierungseigenen Einrichtungen zuständig waren, hin und her geschickt worden waren.
Schließlich geschah wie durch ein Wunder doch etwas. Der Direktor und seine Aufseherin wurden beide entlassen. Ein Verwalter wurde eingesetzt, und mit ihm kam eine strenge, junge Aufseherin. Beide waren entschlossen, ein Zeichen zu setzen, und stürzten sich in die praktische Arbeit. Kammerjäger desinfizierten das Gebäude, Zimmerleute und Maler folgten. Dank einer Initiative der Damen und mehrerer Kirchenkomitees rollten ganze Wagenladungen mit frischer Bettwäsche und Decken vor dem Armenhaus an.
Für die Insassen bedeutete dies eine ungeheure Hilfe, und die Mitarbeiter waren überaus zufrieden, doch ein bescheidener Angestellter hatte keinen Grund zur Freude. Der neue Verwalter schien keinen Assistenten zu brauchen, da die männlichen Angestellten seiner Ansicht nach nur unnötigen Platz beanspruchten. Die Frauen konnten kochen, putzen, nähen und bekamen weniger Gehalt. Daher behielt er nur ein paar Männer da.
Buster war auf einmal wieder arbeitslos und suchte seine Schwester Molly auf, um ihr die traurige Nachricht zu überbringen.
Die ehemalige Aufseherin nahm es gelassen auf. »Das ist Pech, aber du darfst dich jetzt nicht gehenlassen und wieder nach der Flasche greifen. Du kannst bei mir und Doombie leben. Und hier im Vorort gibt es mehr als genug Gelegenheitsarbeiten für dich.«
»Aber wie sollen sie dort ohne mich zurechtkommen?« sorgte sich Buster. »Da sind die beiden Krüppel, die ich immer in die Sonne hinausgetragen habe, und die alte Mrs. Sparkes, die zu fett ist, um etwas zu tun, und Polly, die Verrückte, die vor allen außer mir Angst hat. Ich habe ihr immer das Essen gebracht. Was sollen sie nun ohne mich anfangen?«
»Still jetzt. Die neuen Leute sind nett, sie werden sich darum kümmern. Du hast deine Arbeit sehr gut gemacht, ich bin stolz auf dich …«
»Ehrlich?« fragte er strahlend. »Ich dachte, das hätte nie einer bemerkt.«
»Ich schon. Ich wußte deine Arbeit zu schätzen, und das ist die Hauptsache. Wir haben unsere Pflicht getan.«
»Das mag wohl stimmen.«
Weitaus mehr sorgte Molly sich um Doombie, den beide sehr liebten. Sie traute sich in diesem Moment nicht, ihrem Bruder zu gestehen, daß sie für sein Leben fürchtete, da er zwar ein zufriedenes, aber kränkliches Kind war.
Nach einer Weile fiel es auch Buster auf. »Warum läßt du ihn nicht zum Spielen rausgehen?«
»Er kann auf den Hof, wenn er möchte, aber im Augenblick ist er zu müde dazu.«
»Er ist immer müde. Und so mager. Der Junge wächst, du mußt ihm genug zu essen geben.«
Das hatte Molly getan. Doombie bekam das Beste vom Besten – Milch, Eier, dicke Suppe, Koteletts und soviel Gemüse, wie sie nur auftreiben konnte. Er aß gern, nahm aber einfach nicht zu. Morgens setzte sie ihn in eine Decke gewickelt auf einen Stuhl unter die Bäume, am Nachmittag konnte er im winzigen Wohnzimer spielen. Sie hoffte, er werde von selbst hinausgehen, wenn ihm danach war, doch er wirkte immer zu erschöpft dazu.
Zunächst glaubte sie, er vermisse seine Eltern. Sie fand heraus, daß sein ›Dadda‹ Gabbi Gee oder so ähnlich hieß, doch der Junge schien beim Sprechen über ihn nicht sonderlich bekümmert zu sein. Molly begriff, daß er einen großen Teil seines früheren Lebens vergessen hatte. Daher bemühte sie sich, ihm einen Ersatz zu schaffen: Wenn sie abends zu Hause war, hielt sie ihn in ihren Armen, bis er einschlief, erzählte ihm alle seine Lieblingsmärchen. Machte sie ihre Runden als Hebamme, legte sie ihn mit ein paar Bilderbüchern in ihr Bett. Bei ihrer Rückkehr fand sie ihn immer schlafend vor, umgeben von den billigen, kleinen Büchern, im Arm den Teddybär, den sie in einer Spendenkiste gefunden hatte. Doombie liebte diesen Bären heiß und innig, und sie erfreute sich stets aufs neue an diesem friedlichen Bild, da sie sich Sorgen machte, wenn sie ihn länger allein lassen mußte.
Busters Einzug hob ihre Stimmung. Nun konnten sie sich gemeinsam um das zauberhafte Kind mit dem krausen, schwarzen Haar, der dunklen Haut und dem gewinnenden Lächeln kümmern. Seine Krankheit – sie war sicher, daß er an einer Krankheit litt – schien ihn, von der Müdigkeit einmal abgesehen, nicht weiter zu belasten. Er steckte immer voller Fragen, wollte wissen, wer die Leute in den Büchern waren und weshalb sie so alberne Dinge taten. Sein kleiner Verstand pickte unlogische Stellen sofort heraus, verkündete sie Buster stolz. Warum erkannte Rotkäppchen denn nicht den Unterschied zwischen der Großmutter und einem Wolf?
»Er ist wirklich schlau«, stimmte Buster zu. Er fühlte sich ungeheuer geschmeichelt angesichts Doombies Freude darüber, daß er ›für immer‹ zu ihnen gezogen war. Da das Haus nur zwei Schlafzimmer besaß, schlief er auf der hinteren Veranda, und Doombie rief oft nach ihm, um sich zu vergewissern, daß er auch wirklich da war. Die beiden Geschwister gehörten zu den eher zurückhaltenden Menschen und sprachen nie über ihre Gefühle, doch Buster wußte, daß seine Schwester den Jungen wie einen Sohn liebte. Für ihn bedeutete die Vaterrolle eine völlig neue und wertvolle Erfahrung. Doombie liebte ihn und zeigte es auch ganz offen. Er fühlte sich wohl in Busters Gesellschaft, saß oft auf seinem Schoß, folgte ihm überallhin. Molly zog sie schon damit auf.
»Natürlich, Männer halten doch immer zusammen. Dagegen komme ich als Frau gar nicht an. Ich darf nur für euch kochen und waschen.«
Dankbar begriff Buster allmählich, daß er, obgleich ein mittelloser Ex-Trinker und gescheiterter Boxer, um seinetwillen geliebt wurde. Doombie bewunderte seinen Freund, der sich zum willigen Sklaven des Kindes machte und ängstlich bemüht war, ihm zu gefallen.
Doch Mollys Sorgen wurden größer. Sie sprach mit einem Arzt über das Kind und konnte ihn überreden, sich Doombie anzusehen, obwohl er schwarz war. Sie wußte, daß sie die Tatsache vorher erwähnen mußte, um eine peinliche Situation zu vermeiden. Da Molly jedoch als ausgezeichnete Hebamme bekannt war, konnte er ihr diese Bitte nicht abschlagen.
Seine Diagnose bestätigte ihre Befürchtungen: Der Junge hatte die Schwindsucht. Vermutlich hatte er sich im Armenhaus damit angesteckt. Der Arzt verschrieb Medikamente, die Molly bereits von einem befreundeten Apotheker erhalten hatte, riet zu Ruhe und viel gutem Essen. Außerdem schlug er einen Klimawechsel vor, der Junge brauche frische Luft. Molly war darüber verärgert.
»Was denn für frische Luft? Wir leben weder in der Stadt noch im Kohlenrevier. Wo könnte er bessere Luft bekommen als hier? Wir sind nur ein paar Meilen vom Meer entfernt.«
Der Arzt zuckte hilflos die Achseln. Sie hatte ja recht. Er hatte früher in London praktiziert, wo man den vielen Tuberkulosekranken den Rat zu geben pflegte, in die Schweizer Alpen zu fahren. Doch hier lebten selbst die Ärmsten in einem gesunden Klima.
»Geben Sie ihm gut zu essen, viel mehr kann man nicht tun«, sagte er. »Und rufen Sie mich, wenn es ihm schlechter gehen sollte. Dann muß er möglicherweise ins Krankenhaus.«
Doch bei seinen Worten fiel ihm ein, daß die Krankenhäuser keine schwarzen Kinder aufnahmen. »Andererseits glaube ich, daß Sie ihn ebensogut hier pflegen können, Molly. Oder sogar besser. Kinder bekommen oft Angst in einem Krankenhaus.«
Buster wollte es einfach nicht verstehen. »Wie konnte so etwas mit Doombie nur passieren? Du verstehst doch etwas von Krankenpflege, du mußt wissen, wie man ihn gesund machen kann. Er kommt doch wieder in Ordnung, oder? Er ist noch so klein. Diese Krankheit kann er doch gar nicht haben.«
»Doch«, sagte sie sanft, »du hast gehört, was der Arzt gesagt hat. Wir wissen nun, was zu tun ist. Ich dachte, wir könnten einen Wagen mieten und ein paar Stunden an die See fahren. Doombie war noch nie am Meer.«
»Genau, das machen wir! Das wird ihn aufmuntern.« Er wäre am liebsten sofort zu dem Jungen hineingestürzt, doch Molly hielt ihn zurück, da sich das Kind nicht zu sehr aufregen durfte.
Das Flußboot Marigold hatte schon bessere Tage gesehen, war aber immer noch der ganze Stolz seines Besitzers Theo Logan, der sich gern als ›Captain‹ ansprechen ließ. Er hatte einige Jahre als einfacher Matrose bei der britischen Marine gedient, bis er einem Offizier den Kiefer brach und in einem tasmanischen Gefängnis landete. Für einen Burschen, der aus den Slums von Glasgow in die weite Welt aufgebrochen war, stellte dies keine besonders schwere Prüfung dar. Der Herr hatte ihm einen kräftigen Körper und ungewöhnliche Stärke verliehen, so daß er alle Strafen ertragen konnte, mit denen ihn die Wärter bedachten. Und die waren zahlreich, da Theo alles andere als ein Musterhäftling war. Er verabscheute das Eingesperrtsein aus tiefster Seele, vor allem, weil er überzeugt war, daß der Offizier ein Dieb und Lügner gewesen war und den Schlag vors Kinn durchaus verdient hatte, da er ihn in seine krummen Geschäfte hineinziehen wollte. Schon bald galt er bei der Gefängnisbehörde als übler Kerl, widerspenstig, kampflustig und oftmals brutal. Die anderen Gefangenen machten einen weiten Bogen um den jähzornigen Einzelgänger, wobei sie dessen Tobsuchtsanfälle durchaus unterhaltsam fanden.
Zwei Jahre im Gefängnis von Hobart reichten ihm, und beim erstbesten Gefangenenaufstand ergriff er die Gelegenheit, über das Dach zu fliehen. Er fand Unterschlupf in der Unterwelt des Hafens mit seinen schmutzigen Gasthäusern und Bordellen, wo er seinen Namen in Theo Logan änderte. Den würde er nicht so schnell vergessen, schließlich war es der Name des Marineoffiziers, dem er den Kiefer gebrochen hatte.
Schon bald heuerte er auf einem Walfänger an. Theo fuhr lange Jahre zur See, segelte quer über den Pazifik von Hobart nach Chile, bis er auf ein anderes Schiff wechselte, das in den ruhigeren Gewässern der Moreton Bay auf Walfang ging. Sein Heimathafen war Brisbane.
Dort begegnete der alte Seemann Marigold Frew, der Besitzerin des Ship Inn, und heiratete sie. Es hieß, sie sei eine alte Vettel, eine schlampige, ordinäre Harpyie, doch niemand wagte es, sie in Hörweite ihres Mannes so zu nennen. Sie waren Seelenverwandte, die einander vollkommen verstanden und niemals stritten. Weder Marigold noch Theo waren während ihres schweren Lebens je verheiratet gewesen und trauten niemandem über den Weg, so daß es für sie beide einer Offenbarung gleichkam, mit fünfzig noch der einen, großen Liebe zu begegnen. Nach einer ziemlich verhaltenen Zeit der Werbung trafen sie eine Entscheidung, traten hinaus in den Sonnenschein und ließen in der nächsten Kirche ihre Verbindung segnen.
Es gab keine Feier und kein Hochzeitsfrühstück, da sie die Trauung als höchst private Angelegenheit betrachteten. Theo arbeitete als Stallknecht im Gasthaus und half manchmal hinter der Theke aus, wenn er nicht gerade als Rausschmeißer gebraucht wurde. Die Gäste bemerkten die neuen Verhältnisse erst, als das Schild über der Tür auf einmal ›M. und T. Logan‹ als Besitzer auswies. Die Stammgäste gratulierten überschwenglich, bekamen ein Freibier und wurden mit einem freundlichen Nicken bedacht, ansonsten aber lief alles weiter wie zuvor. Das Ship Inn war immer voll, so daß während der Arbeit keine Zeit für Zärtlichkeiten blieb, doch wenn abends der letzte Betrunkene auf dem Heimweg war, die Kasse abgerechnet und die Türen verschlossen und verriegelt waren, betrachteten Marigold und Theo einander verliebt und voller Staunen darüber.
Um ihretwillen erwähnte Theo nie, daß er die See vermißte, das Auf und Ab der Wellen, das Klatschen des Wassers unter seinen Füßen, die Sterne, das Mondlicht auf dem Deck und die wilden Stürme des südlichen Meeres. Er wußte selbst, daß er nicht länger seefest war mit seinem von zahlreichen Knochenbrüchen gelähmten Bein und dem verdrehten Handgelenk. Daher hatte er sich auf den Walfang in der ruhigeren Moreton Bay verlegt, fühlte sich aber als Landratte nicht recht wohl. Doch man konnte im Leben nicht alles haben, und es reichte, daß er Marigold, seine Frau, gefunden hatte.
Es waren ihnen zehn Jahre miteinander vergönnt, dann hauchte Marigold mit nie gekannter Würde ihr Leben aus. Nach ihrem letzten Herzanfall schloß Theo das Pub, damit sie in Frieden sterben konnte. Draußen in der Gasse hielten die treuesten Gäste mit Kerzen in den Händen Wache.
Theo öffnete das Ship Inn nicht wieder, sondern verkaufte es und begab sich auf die Suche nach einem neuen Lebensinhalt. Schließlich erwarb er eine große Fähre, die er auf den Namen Marigold taufte.
So wurde er zu Captain Logan, dem endlich ein eigenes Schiff gehörte, und schipperte kreuz und quer über den Brisbane River, beförderte Passagiere, leichte Fracht, Post, sogar Vieh. Flußauf, flußab war er bald als alter Brummbär mit aufbrausendem Temperament bekannt, auf den jedoch unbedingt Verlaß war.
Doch niemand wußte von seinem Schmerz. Theo vermißte seine Frau, ihr verrücktes Gelächter, ihren bissigen Humor, ihre Nähe. Nicht umsonst hatte er sie stets als seine bessere Hälfte bezeichnet. Obwohl er nun ein Boot besaß, fühlte er sich unendlich einsam. Niemals, auch in hundert Jahren nicht, würde er eine zweite Marigold finden.
Theo beschäftigte zwei Matrosen. Es hatten schon unzählige Männer bei ihm angeheuert, die sich allesamt als Nichtsnutze erwiesen und nie lange blieben; er pflegte sie als Nägel zu seinem Sarg zu bezeichnen. Als er an diesem Tag nach Brisbane zurückkehrte, lud er Kartoffeln und andere landwirtschaftliche Produkte, darunter auch Tomaten und Eier. Nach dem Beladen ließ er wie üblich die Passagiere an Bord und bemerkte erst dann, daß am Ufer noch Kartoffelsäcke übriggeblieben waren, die eigentlich zuerst aufs Schiff gemußt hätten, um Schäden an der leichteren Fracht zu vermeiden.
Wütend wies er seine Matrosen an, den Rest der Ladung zu holen. Die Burschen rannten die Gangway entlang und drängten sich an den Passagieren vorbei, was den Kapitän noch zorniger machte. In diesem Durcheinander fiel ihm gar nicht auf, daß ein kleiner Junge an Bord schlüpfte und unter Deck verschwand.
Ungefähr zwanzig Passagiere waren zugestiegen. Theo kassierte das Geld ein und gab die Fahrkarten aus. Wer nicht aufs Schiff gehörte, war an Land gegangen, die Kartoffeln hatte man sicher verstaut, so daß die Marigold endlich ablegen konnte und den gewundenen Brisbane River hinuntertuckern konnte bis zu den geschäftigen Kais der Stadt.
Bobbo war mit sich zufrieden. Nun hatte er tatsächlich einen Weg gefunden, den breiten Fluß zu überqueren. Er hockte zwischen den sperrigen Säcken im Frachtraum und erkannte allmählich seine Umgebung, als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Er schnappte sich eine fleischige Tomate aus einem Sack und biß hinein. Mit zwei weiteren stillte er den schlimmsten Hunger. Er vermutete noch andere Lebensmittel im Frachtraum und machte sich auf die Suche, wurde dabei aber von Barney, einem der Matrosen, aufgestöbert.
Dieser zerrte das widerspenstige schwarze Kind ins Ruderhaus und ließ es vor die Füße des Kapitäns plumpsen.
»Wer ist denn das?« rief Theo. »Wo kommt der her?«
»Hab’ ihn im Frachtraum gefunden. Hat Tomaten geklaut. Dreckiger Bengel.«
Theo sah ihn drohend an. »Wer bist du? Was hast du auf meinem Boot zu suchen? Schnell, sonst fliegst du über Bord.«
»Bobbo. Geh nach Hause, Mister.«
»Wo ist dein Zuhause?«
»Springfield.«
»Nie gehört. Was hat ein Kind in deinem Alter allein hier verloren? Wo ist deine Ma?«
»Springfield.«
»Woher kommst du?«
Bobbo wies mit dem Kopf nach hinten. »Von da.«
»Das weiß ich. Aber von wo genau?«
Da das schwarze Kind nicht antwortete, gab Theo seine Fragerei auf. Es hatte auch keinen Sinn, ihm Vorträge über Fahrkarten oder Schadenersatz für stibitzte Tomaten zu halten.
»Bring ihn zurück in den Frachtraum«, knurrte er. »Er kann hier nicht frei herumlaufen. Sobald wir anlegen, schaffe ich ihn an Land.«
Barney schleppte Bobbo zurück in den Frachtraum. »Du bleibst gefälligst hier. Wag es ja nicht, herauszukommen, kapiert?«
Bobbo war das nur recht. Er rollte sich auf den Säcken zusammen und döste ein. Wie schön, den Fluß auf so bequeme Weise überqueren zu können.
Als Barney ihn schließlich holen kam, sprang er auf und lief auf Deck. Erstaunt betrachtete er die riesengroßen Gebäude, die sich vor ihm auftürmten.
»Wie heißt das hier?«
»Brisbane.«
Bobbo fuhr zusammen. Er war aus einer großen Stadt aufs Land geflohen, und nun hatten sie ihn wieder in eine große Stadt gebracht. Er wollte doch den Fluß überqueren, um zurück in den Busch zu gelangen.
»Nein! Nein!« schrie er und krümmte sich. »Schlimmer Ort hier. Geh nicht mehr dahin. Nein!«
Der Kapitän trat auf ihn zu. »Was ist denn nun schon wieder los?«
»Er will nicht an Land.«
»Das werden wir ja sehen.« Theo hob Bobbo auf, ohne sich um dessen Geschrei zu kümmern, und setzte ihn am Kai ab. »Hau ab. Du kannst von Glück sagen, daß ich dir keine Tracht Prügel verpaßt habe.« Dann stampfte er drohend mit dem Fuß auf, bis das Kind davonrannte.
Pünktlich um zwei Uhr an diesem Nachmittag dampfte die Marigold wieder flußaufwärts. Um die überhöhten Gebühren und Abgaben für einen Liegeplatz am Kai von Brisbane zu umgehen, hatte Theo ein Abkommen mit den Einwohnern von Somerset getroffen, einer kleinen Siedlung weiter flußaufwärts. Die Marigold durfte dort gebührenfrei anlegen, sie erhielten im Gegenzug eine regelmäßige Transportmöglichkeit nach Brisbane. Die Leute aus Somerset erklärten sich bereit, eigens für die Marigold einen Kai zu bauen, und beide Seiten profitierten davon. Die Einheimischen, vor allem die Damen, waren hocherfreut, daß ihr Dorf nicht mehr von der Außenwelt abgeschnitten war. Die Fähre legte sechsmal zwischen Somerset und Brisbane an, und die Farmer aus der Umgebung waren froh über diesen neuen Service. Selbst nach mehreren Jahren auf dieser Strecke verdiente Theo nicht allzu viel, doch für ihn reichte es. Er lebte auf der Marigold, deren hinteren Salon er in eine Kabine mit Kombüse umgebaut hatte. Nachts hatte er das Boot für sich allein. Der Kapitän genoß die Abende, wenn er mit seiner Pfeife und einem Glas Rum auf Deck sitzen konnte. Die Farmer versorgten ihn mit frischen Eiern, fertig gerupftem Geflügel oder Gemüse und weigerten sich, Geld dafür zu nehmen. Logan, dem es als altem Schotten jedoch schwerfiel, Almosen anzunehmen, revanchierte sich für diese Freundschaftsbeweise, indem er Pakete und Nachrichten kostenlos überbrachte oder an den Anlegestellen Geschenke für die Kinder hinterließ. Der brummige alte Mann war am Brisbane River zu einer Legende geworden; seine Donnerstimme und sein Jähzorn wirkten weniger furchterregend als vielmehr belustigend.
An diesem Tag beförderte er die übliche Zahl von Passagieren flußaufwärts; im Frachtraum befand sich eine Ladung Holz. Ausnahmsweise war selbst mit den Matrosen alles glatt gelaufen, doch dann entdeckte Barney erneut das schwarze Kind im Frachtraum. Diesmal ging er allein zum Kapitän und erstattete Bericht.
»Er ist schon wieder unten.«
»Wer?«
»Der blinde Passagier. Dieser schwarze Junge.«
»Der, den wir heute morgen vom Schiff geworfen haben?«
»Genau der.«
Theo ging in die Luft. »Muß ich denn auf alles alleine aufpassen, du verdammter Idiot? Es gibt doch nur die eine verfluchte Rampe, könnt ihr nicht mal die im Auge behalten? Oder muß ich mich jetzt jeden Tag mit blinden Passagieren herumschlagen? Schaff das Gör von meinem Boot!«
»Wie denn?« Barney sah hilflos auf den Fluß, der in kleinen Wellen an ihnen vorüberfloß.
»Popils Anlegestelle. Der nächste Halt. Wirf ihn runter, und sorg dafür, daß er draußen bleibt!«
Um sicherzugehen, daß er den Störenfried los war, sah Theo zu, wie Barney das magere Kind über das Deck schleifte, nachdem die Fahrgäste ausgestiegen waren. Doch bevor sie die aus einer Planke bestehende Gangway betraten, stürzte das Kind ohnmächtig zu Boden.
Überrascht und verärgert lief Theo aufs Deck.
»Heb ihn auf und bring ihn runter in meine Kabine. Ich komme gleich nach.«
Nachdem er seine Arbeit erledigt hatte, eilte Theo in die Kabine und sah hinunter auf das zerbrechliche Kind, das in seiner Koje lag.
»Meinen Sie, er ist krank?« fragte Barney.
»Nein«, antwortete Theo nachdenklich, wobei die grausame Erinnerung an seine eigene Kindheit schmerzlich in ihm aufstieg, »nur halb verhungert.«
Erzbischof Pedley freute sich, Harry Broderick in seinem Amtssitz begrüßen zu dürfen. Natürlich wußte er von Harrys Vergangenheit, sein gesellschaftlicher Absturz war schließlich niemandem verborgen geblieben. Er hatte Austin Broderick gekannt, wenn auch leider eher auf gesellschaftlicher als auf seelsorgerischer Ebene, und war neugierig darauf, dessen Sohn kennenzulernen. Er lächelte, als Harry ins Zimmer trat. Innerhalb der Squattokratie spielte die Familie noch immer eine bedeutende Rolle; bei Freund und Feind waren diese Leute wegen ihres luxuriösen Lebensstils und immensen Grundbesitzes als ›Grasherzöge‹ bekannt. Dieser Broderick mit seinen feingeschnittenen Gesichtszügen sah tatsächlich ein wenig aristokratisch aus. Er war groß und schlank und trug einen maßgeschneiderten Tweedanzug im Country-Stil; zudem verfügte er über ausgezeichnete Manieren, wie der Erzbischof im Verlaufe ihres Morgentees feststellen konnte.
Nach dem üblichen Austausch von Höflichkeiten kam Harry auf den Grund seines Besuchs zu sprechen. Er sei auf der Suche nach drei schwarzen Kindern, die aus ihrer angestammten Umgebung weggebracht worden waren. Der Erzbischof freute sich über Harry Brodericks Interesse, da dies eines seiner Lieblingsprojekte war.
»Die Kirche kostet dieses Experiment eine Menge Geld«, erklärte er. »Unser Budget ist zum Zerreißen gespannt, da wir auch die Kathedrale noch nicht abbezahlt haben, doch selbst wenn es noch sehr viel teurer wird, hat sich die Mühe gelohnt. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr es mich freut, daß Sie sich von den Fortschritten der Kinder mit eigenen Augen überzeugen wollen.«
Harry stellte seine Teetasse ab. »Das trifft nicht ganz zu, Sir. Ich würde allerdings gern erfahren, wie das System funktioniert, da Sie sehr viel mehr darüber zu wissen scheinen als die Leute, mit denen ich bisher gesprochen habe. Die meisten hatten eine äußerst unklare Vorstellung davon.«
»Ich werde ich es Ihnen gerne erklären.«
Harry hörte zu, ohne den Erzbischof zu unterbrechen. Er begegnete Pedley an diesem Tag zum ersten Mal und schätzte ihn als intelligenten, gütigen Mann ein, der nicht allzu fromm daherredete. Und doch …
» … wie Sie sehen, haben wir damit eine ungeheure Herausforderung angenommen, Harry.«
»Und das Ziel besteht in der Assimilation?«
»Natürlich. Wir können diese Kinder nicht unzivilisiert aufwachsen lassen, das wäre für sie ebenso entwürdigend wie für ihre Vormunde. Da wir dieses Land kolonialisieren, tragen wir eine gewisse Verantwortung für die Eingeborenen.«
Harry lächelte grimmig. »Im Norden dieses Staates setzen sich zahlreiche Stämme gegen diese Kolonialisierung zur Wehr. Sie kämpfen um ihr Leben.«
»Das ist wahrlich traurig, doch daran können wir nichts ändern, oder? Es ist nun einmal der Lauf der Welt.«
»Vermutlich«, stimmte Harry bedrückt zu. »Aber sagen Sie mir eins: Was ist mit den Eltern dieser Kinder? Ich nehme an, sie sind zutiefst erschüttert; meinen Ermittlungen zufolge muß es Tausende solcher Eltern geben.«
Der Erzbischof nickte. »Dieses Problem ist mir nicht neu …«
»Es ein Problem zu nennen ist wohl leicht untertrieben. Für sie bedeutet es furchtbares Leid.«
»Wir wollen nur das Beste für ihre Kinder.«
»Indem Sie den Eltern die Kinder für immer entziehen?«
»Wenn nötig, ja, da wir dies als die bessere Alternative erachten.«
»Ohne Rücksicht auf den Schmerz, den Sie Eltern und Kindern damit zufügen?«
Pedleys Gesicht wirkte plötzlich härter. »Ich glaube, wir sind hier unterschiedlicher Meinung, obwohl es mich überrascht. Viele Squatter bitten Regierung und Kirche, sie von den Schwarzen auf ihren Besitzungen zu befreien.«
»Das bezweifle ich nicht. Gerade derartige Organisationen scheinen in höchstem Maße anfällig zu sein für Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit.«
Der Erzbischof war alles andere als glücklich über den Verlauf der Diskussion. »Anscheinend können wir bei diesem Thema tatsächlich nicht zu einer Übereinstimmung gelangen.«
Harry knabberte geistesabwesend an einem Graunußkeks.
»Eminenz, bitte haben Sie Geduld mit mir. Ich möchte Ihren Standpunkt gern verstehen.« Er holte einen zusammengefalteten Zeitungsausschnitt aus der Tasche.
»Kennen Sie einen Mr. Tobias Waller?«
»Ja, ein wunderbarer Bursche. Schreibt anspruchsvolle Artikel für den Sydney Morning Herald und unseren Courier. Ein Denker. Ich lese seine Artikel ausgesprochen gern.«
»So? Ich habe hier einen seiner Artikel mitgebracht, in dem er behauptet, das Ziel der Trennung dieser Kinder von ihren Eltern bestehe nicht in der Assimilation, sondern in der Ausrottung der Aborigines. Und er ist vorbehaltlos dafür. Er sieht sie als Geißel des Landes an. Er schreibt, sie seien eine schlimmere Plage als die Dingos. Der einzige Weg, sie loszuwerden, liege darin, die Erwachsenen in Reservaten unterzubringen und ihnen die Kinder wegzunehmen, die Sprache und ihre heidnischen Praktiken auszulöschen.«
»Ja, und?«
Harry sah ihn fassungslos an. »Finden Sie seine Haltung nicht unchristlich?«
»Ein wenig übertrieben vielleicht.«
»Dann erklären Sie mir bitte, worum es bei alldem wirklich geht: Assimilation oder Ausrottung?«
Der Erzbischof schüttelte den Kopf. »Harry, ich fürchte, bei Ihnen gewinnen die Gefühle die Oberhand über die Vernunft. Sie scheinen nicht zu begreifen, daß wir nur das tun, was für diese Menschen am besten ist.«
»Sie meinen die Menschen, denen dieses Land ursprünglich gehörte? Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Nun, ich vermute, das eine würde irgendwann das andere nach sich ziehen.«
Harry spürte eine Welle der Übelkeit in sich aufsteigen, geboren aus dem schalen Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Wenn nicht einmal dieser Mann, der sich selbst als ach so gerecht betrachtete, dies als Verbrechen ansah, welche Überlebenschancen blieben dann den Aborigines?
Er wechselte das Thema. »Kennen Sie die Kirche des Heiligen Wortes? Der Name kommt mir bekannt vor, aber ich kann ihn nicht einordnen.«
Der Erzbischof war froh über die unverfängliche Frage. »Eine solche Kirche gibt es nicht.«
»Da habe ich aber etwas anderes gehört.«
»Ach ja, es gab hier einmal einen Kerl, der sich als Bischof dieser sogenannten Kirche ausgab; er hatte viele Anhänger, hauptsächlich aus Neuseeland, glaube ich. Aber er war ein Scharlatan, ein Dieb erster Güte.« Er seufzte. »Solange ich lebe, werde ich nie verstehen, wie Menschen so leichtgläubig sein und ihre ganzen Ersparnisse solchen Schurken überlassen können.«
Harry war betroffen. Von der schmählichen Haltung der anglikanischen Kirche zur Verschleppung der Kinder einmal abgesehen, hatte er immerhin gehofft, der Erzbischof, der seine religiösen Ableger eigentlich kennen müßte, werde ihn geradewegs zu Reverend Billings führen.
»Ist er weg? Dieser Reverend Billings, meine ich?«
»Nein, so hieß er nicht. Ich glaube, er hat sich aus dem Staub gemacht. Er hatte ein Haus irgendwo am Stadtrand, das er als Kirche deklarierte. Es wurde inzwischen verkauft, und er hat das Geld in die eigene Tasche gesteckt. Einige seiner Gemeindemitglieder haben sich bei mir darüber beklagt, doch leider konnte ich nicht allzuviel Mitgefühl für sie aufbringen.«
»Aber was ist aus den Kindern geworden?«
»Welchen Kindern?«
»Dieser Reverend Billings hat schwarze Kinder von unserer Farm mitgenommen und behauptet, er wolle sie im kircheneigenen Waisenhaus unterbringen. Mein Vater gab ihm einen Scheck, der für diese Kinder bestimmt war. Wo sind sie jetzt?«
»Ich habe keine Ahnung. Es gibt weder eine Kirche noch ein Waisenhaus dieses Namens. Ich bin überrascht, daß Ihr Vater …«
»Er ist einfach nur Ihren Lehren gefolgt«, erwiderte Harry wütend. »Er hielt es für das Beste.«
Beim Abschied klopfte ihm der Erzbischof aufmunternd auf die Schulter. »Ich glaube, wir beide kommen wohl nicht auf einen Nenner, Harry.«
Dieser sah ihn traurig an. »Nein, Sir, wohl nicht. Ich hoffe nur, daß Sie eines Tages einsehen, daß nicht alle Kinder Gottes weiß sind.«
Harry übernachtete in Fern Brodericks Haus. Er schrieb an Connie, daß seine Suche möglicherweise länger als erwartet dauern werde, weil er keine Ahnung habe, wo sich die Jungen aufhielten. Er entschuldigte sich für die Verzögerung seiner Rückkehr und versprach, ihr jeden Tag zu schreiben.
Er machte die Runde durch die Waisenhäuser, studierte die Listen ihrer Zöglinge. Doch da man den schwarzen Kindern englisch klingende Namen zugewiesen hatte, halfen ihm diese nicht weiter. Also ging er durch Räume voller trauriger, sehnsüchtiger Gesichter und versuchte, sich an Bobbos, Doombies und Jaggas Aussehen zu erinnern. Doch es war zwecklos, sie wiedererkennen zu wollen. Es war Jahre her, seit er sie gesehen hatte; damals waren sie noch Babys gewesen.
In einer dieser Einrichtungen erinnerte man sich allerdings an ein Kind namens Bobbo.
Er sprach mit einem Laienlehrer, der, wie sich bald herausstellte, keinerlei Qualifikation besaß. Das gleiche galt für alle Lehrer in diesem Waisenhaus, die ohnehin eher wie Wärter als wie Pädagogen wirkten.
»Ich könnte mich unter Umständen erinnern«, sagte die schleimige Kreatur und schlich näher. Eine halbe Krone half ihrem Gedächtnis auf die Sprünge.
»Ja, er war hier, dieser Bobbo. Richtiger Lümmel. Hat nie getan, was er sollte. Konnte ihm einfach nix lernen.«
Harry stöhnte innerlich auf und hoffte, daß diese Gestalt nicht Englisch unterrichtete.
»So, und wo ist er jetzt?«
»Weiß nich’, is’ abgehaun. Hab’ ihn nie mehr gesehn.«
»Haben Sie denn wenigstens nach ihm gesucht?«
»Klar haben wir das, aber wir müssen uns auch um andre Kinder kümmern. Sind zuviele, wenn Sie’s genau wissen wolln. Is’ doch kein Gefängnis hier.«
»Aber er ist erst sieben Jahre alt. Haben Sie die Polizei verständigt?«
»Wozu? Die meisten Ausreißer kommen wieder angekrochen, wenn sie nix zu essen finden. Der hier is’ nich’ wiedergekommen, das is’ alles.«
»Ich bin entsetzt. Ein kleines Kind verschwindet, und niemand scheint sich dafür zu interessieren. Das ist eine Schande, genau wie diese ganze Einrichtung hier.« Harry spähte in den langen, dunklen Flur hinaus. »Außerdem stinkt es hier. Sie werden noch von mir hören, verlassen Sie sich darauf.«
Der Lehrer sah ihn blinzelnd an. »Hör’n Sie mal, Mister. Machen Sie, was sie wollen, aber dieses Waisenhaus is’ um einiges besser als das, woher er gekommen is’. War ’n Gefallen, daß wir ihn überhaupt genommen haben.«
Plötzlich war Harry hellwach. »Woher ist er denn gekommen?«
»Aus dem Armenhaus«, lautete die höhnische Antwort.
»Und Sie sagen, er sei allein gewesen? Waren nicht noch zwei kleine Aborigines bei ihm?«
»Nein. Wir haben andre Abos hier, aber die sind älter.«
»Wer hat ihn hergebracht?«
»Hab’ ich doch sagt, ’n Typ aus’m Armenhaus. Jesus, ich dachte, er wär’ vielleicht dahin zurück.«
»Vielen Dank«, erwiderte Harry empört.
Innerhalb der nächsten Stunde hatte er sich bis zum Direktor des Armenhauses vorgearbeitet, dem er sein Anliegen vortrug. Doch wieder hatte er kein Glück.
»Mr. Broderick, ich kann Ihnen leider nicht helfen. Ich bin selbst erst seit einigen Monaten hier, aber eines weiß ich genau: Wir nehmen keine Waisen auf. Manchmal kommen Kinder mit ihren Müttern her, aber wir verlegen sie so bald wie möglich. Frauen mit Kindern haben absoluten Vorrang. Wie Sie verstehen werden, ist das hier nicht die gesündeste Umgebung für Kinder.«
»Ich habe aber aus zuverlässiger Quelle erfahren, daß dieser Junge namens Bobbo hier war, die anderen vielleicht auch. Führen Sie Buch über die Namen der Leute, die hierherkommen?«
»Sicher, wir führen ein Register. Das ist sehr wichtig. Die Zuschüsse der Regierung hängen von der Zahl der Aufnahmen ab.«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, in den älteren Registern nachzuschauen? Ich wäre Ihnen sehr verbunden.«
»Selbstverständlich.«
Der Direktor holte große, gebundene Register aus dem Aktenschrank seines Büros und legte sie auf seinen Schreibtisch. Gemeinsam gingen sie die Listen durch, die viele Monate zurückreichten, und konzentrierten sich dabei auf das Alter der Insassen, doch die wenigen Kinder waren allesamt mit ihren Müttern zusammen aufgenommen worden.
Der Direktor seufzte. »Es tut mir leid, Mr. Broderick, ich wünschte, ich hätte mehr für Sie tun können, aber wie ich schon sagte, nehmen wir hier keine Waisenkinder auf. Das verstößt gegen die Regeln. Ich vermute, daß sie – da Sie die Waisenhäuser bereits überprüft haben – von diesem Reverend direkt auf irgendeine Farm gebracht worden sind. Ich meine, er konnte sie ja schlecht auf der Straße stehenlassen … Das müssen vielleicht Schurken gewesen sein …«
Harry sah ihn erstaunt an. »Ich verstehe das einfach nicht. Warum sollten sie die Kinder überhaupt mitnehmen wollen, wenn es Scharlatane waren?«
»Haben Sie Ihnen zufällig etwas gespendet?«
»Ich nicht, aber mein Vater.«
Der Direktor zuckte die Achseln. »Ja dann …«
»Nein, das kann nicht sein. Wenn er nur auf das Geld aus war, hätte er die Kinder irgendwo unterwegs absetzen können, aber er hat sie tatsächlich bis nach Brisbane gebracht. Einer von ihnen, Bobbo, war in einem hiesigen Waisenhaus.«
»Vielleicht hat der Kerl dort gelogen.«
»Gott, das will ich nicht hoffen.«
Der freundliche Direktor begleitete Harry zum Tor und dankte ihm für die fünf Pfund, die er als Spende auf den Schreibtisch gelegt hatte. Als er wieder im Büro saß, steckte Mrs. Charmaine Collins, eine der Wohltätigkeitsdamen, den Kopf zur Tür herein.
»War das nicht eben Harry Broderick?« fragte sie neugierig.
»Ja.«
»Na so etwas!« Sie lächelte erwartungsvoll, auf eine neue Klatschgeschichte spekulierend. »Er ist also wieder in der Stadt. Hat er seine Frau mitgebracht?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Auch er war Gerüchten nicht ganz abgeneigt. »Wer ist er eigentlich?«
»Mein Gott, das war vielleicht ein Skandal!« Eifrig weihte sie ihn in ihre Version der Geschichte ein. Erstaunt erfuhr der Direktor, daß dieser Bursche in seinem eigenen Haus mit einem Gewehr herumgeschossen hatte.
»Er machte aber einen sehr netten Eindruck.«
»Es heißt ja auch, er sei dazu getrieben worden. Seine Frau, Sie wissen schon. Ein anderer Herr wurde gesehen, als er das Haus verließ, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und dann gab es noch irgendeinen Aufruhr im Parlament. Danach hat er seinen Sitz abgegeben.«
»Er war Abgeordneter?«
»Oh ja. Ist noch gar nicht so lange her. Was wollte er denn hier?«
Der Direktor stellte die Register zurück in den hohen Aktenschrank. »Er sucht nach drei kleinen schwarzen Kindern. Ich sagte ihm, daß wir keine Waisen aufnehmen, konnte ihn aber nicht so recht überzeugen. Wir sind sogar die alten Register durchgegangen …«
»Aber sie waren doch hier.«
»Was? Wie kann das sein?«
»Jemand hat sie vor dem Tor abgesetzt. Die Aufseherin war zu gutherzig, um sie abzuweisen, und hat versucht, sie irgendwo unterzubringen.«
Der Direktor stellte das letzte Register zurück. »Ich lasse sie sofort kommen.«
»Nein, nicht diese Frau. Ich meine die nette Aufseherin, die in den Ruhestand ging, bevor Sie kamen.« Sie grinste. »Natürlich stehen sie nicht im Register, es war ja gegen die Regeln. Aber sie wird wissen, was aus ihnen geworden ist. Einen Moment mal … eine unserer Damen hat einen der Jungen bei sich aufgenommen. Lassen Sie mich mal nachdenken. Es war eine törichte Frau, eine Dilettantin, wie wir sie zu nennen pflegen. Sie hat ein paarmal geholfen und hat sich dann nie wieder blicken lassen. Hoffnungslos, hatte noch nie im Leben einen Putzlappen in der Hand gehalten.«
Er hörte aufmerksam zu. »Das muß ich Mr. Broderick erzählen. Wissen Sie zufällig, wo er wohnt?«
»Nein, aber das kann ich herausfinden. Überlassen Sie es ruhig mir.« Mrs. Collins hatte nicht die Absicht, sich diese faszinierende Geschichte entgehen zu lassen. Weshalb machte Harry Broderick soviel Aufhebens um drei schwarze Kinder? Was hatte er nun schon wieder vor?
Sie verließ das Büro, band die schwarze Schürze fest, rollte die Ärmel hoch und machte sich auf den Weg zur Küche. Charmaine Collins würde ihre Pflichten gegenüber den Armen nicht vernachlässigen. Harry Broderick mußte sich eben noch ein Weilchen gedulden. Während der Arbeit erkundigte sie sich bei den Damen, die ihr in der primitiven, dampfenden Küche als Spülhilfen zur Hand gingen, nach der Frau, die einen der Jungen aufgenommen hatte. Mrs. Smith, das war es, Mrs. Adam Smith. Die Frau irgendeines Beamten.