14. Kapitel
Zunächst schenkten Victor und Louisa Rupe keinerlei Beachtung. Es war, als sei er überhaupt nicht vorhanden. Er gab vor, es nicht zu bemerken, und aß unter Hannahs mißbilligenden Blicken in der Küche, wann es ihm gerade einfiel. So unpassend die Stunde auch sein mochte, sie konnte sich schlecht weigern, einem der Bosse etwas vorzusetzen. Rupe und seine Familie begegneten einander zwangsläufig auf den Fluren und draußen, doch sie wechselten kein Wort miteinander. Die Luft zwischen ihnen war eisig. Und genau so wollte er es auch haben, während er darauf wartete, daß Charlotte wieder herunterkam. Der gebrochene Arm würde sie nicht lange ans Bett fesseln, und der Schock würde bald verflogen sein angesichts der Freude über Teddys glückliche Rettung. Wenn er einen Blick in ihr Zimmer warf, fand er sie fast immer mit einem Märchenbuch vor, aus dem sie ihrem Enkel, der nun keine Gouvernante mehr hatte, vorlas.
Mit einem Schaudern verdrängte er den Gedanken an Cleo.
Obgleich sich der körperliche Schock über ihren Sturz inzwischen gelegt hatte, wußte Rupe, daß Charlotte noch immer wütend war. Er hatte sich ihre Klagen über den Zustand des Hauses und des Gartens angehört und mürrisch genickt, als stimme er in allem mit ihr überein. Er kannte seine Mutter; sobald er sich kritisch über Louisa äußerte, würde sie sich gegen ihn stellen. Charlotte steckte voller Widerspruchsgeist. Immerhin war ihre Freundin Ada Crossley nach Hause gefahren; man konnte nie wissen, wozu sie Charlotte sonst anzustiften imstande wäre. Zweifellos zürnte sie Victor noch, weil er sie nicht sofort über alles informiert hatte.
Am vergangenen Abend hatte Rupe ihr sein Herz ausgeschüttet, von seiner Qual und seinen Schuldgefühlen berichtet, als er Teddy aus den Augen verloren und ihn tot geglaubt hatte.
»Ich wußte nicht, wie ich Victor und Louisa gegenübertreten oder was ich zu ihnen sagen sollte. Außerdem war ich sicher, sie wollten nicht mit mir reden.«
»Was ist mit Cleo?« fragte seine Mutter. »Sie trägt doch auch einen Teil der Schuld, oder?«
Durch die Gegenwart seiner Mutter friedlich gestimmt, schlug er einen gemäßigten Ton an. »Wir haben nicht einmal bemerkt, daß er sich davongemacht hat. Du weißt doch, wie flink Kinder sind. Es dauerte nur eine Sekunde. Wir haben versucht, Vögel näher zu bestimmen, außerdem lief er in den Busch, nicht zum Fluß hinunter. Er muß im Kreis gegangen sein. Wie auch immer, die arme Cleo hat genug gelitten. Allein die Art und Weise, in der sie Springfield verlassen mußte, war furchtbar demütigend.«
»Was empfindest du für sie?«
Mit einem Achselzucken sagte er: »Sie ist ein sehr nettes Mädchen. Aus guter Familie. Ich hatte gehofft …«
»Ich hoffe, du hast die Finger von ihr gelassen.«
»Mutter, ich sagte doch, sie kommt aus einer guten Familie. Ich war nicht darauf erpicht, daß ihr Vater plötzlich mit der Schrotflinte bei mir auftaucht. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, ich habe sie verloren. Ich bezweifle, daß sie irgendeinen von uns je wiedersehen möchte.« Er ging zum Fenster und schaute in die Dunkelheit hinaus. »Sie war das erste wirklich intelligente Mädchen, dem ich begegnet bin.
Sie ist sehr süß und nett, hat die Welt bereist, und ich dachte, sie wolle nun seßhaft werden …«
»Guter Gott, liebst du sie etwa? Das hat mir keiner gesagt.«
»Wer denn auch? Ich glaube, da war auch Eifersucht mit im Spiel.«
»Sprichst du von Louisa?«
»Was dachtest du denn? Cleo ist reich, gebildet, hat sechs Monate in London gelebt, und Teddy vergöttert sie. Das war ein harter Brocken für Louisa. Ich vermute, sie betrachtete sie als künftige Rivalin um die Herrschaft auf Springfield.«
Charlotte reichte Rupe ihr Tablett. »Mir scheint, du bist ein wenig voreilig. Noch bin ich nicht tot, und das hier ist immer noch mein Heim.«
Genau das hatte Rupe hören wollen.
Am folgenden Nachmittag verkündete Charlotte der Köchin, daß sie zum Essen hinunterkommen würde. Entgegen Hannahs Hinweis, daß die Familie in letzter Zeit im Frühstückszimmer speise, ordnete sie an, im Eßzimmer zu decken.
»Und sag Rupe, er soll auch kommen«, fügte sie hinzu. »Er wird mit seiner Familie an einem Tisch essen. Dieses gegenseitige Anschweigen muß ein Ende haben.«
Rupe ging Victor wohlweislich aus dem Weg. Die Scherer konnten nun jeden Tag eintreffen, und sein Bruder war mit der Reinigung der Scherschuppen vollauf beschäftigt. Also ritt Rupe hinaus, um beim Auftrieb der Schafe zu helfen. Bei seiner Rückkehr erfuhr er von dem geplanten Familienessen. Eines der Hausmädchen berichtete außerdem von einem Zusammenstoß der beiden Mrs. Brodericks, bei dem es um die Arrangements ging, die seit Mrs. Charlottes Abreise getroffen worden waren.
»Sie haben sich vielleicht angeschrien, Mr. Rupe«, sagte das Mädchen. »Wir mußten wie die Möbelpacker alles hin- und herrücken.« Sie sah ihn mit einem frechen Augenzwinkern an. »Am besten, Sie machen einen Bogen um sie. Das ist eine reine Frauensache.«
Er schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln und gab ihr einen Klaps auf den Po. »Das lasse ich mir um keinen Preis entgehen.«
Doch der Sturm hatte sich bereits verzogen. Charlotte trug ein glänzend schwarzes Kleid und Diamantohrringe, die er seit Jahren nicht mehr an ihr gesehen hatte, und stellte im Salon Blumenvasen auf, die allerdings nur mit Zweigen der australischen Silbereiche bestückt waren, da ihr englischer Garten völlig verwildert war. Charlotte liebte Blumen, doch es war ungeheuer schwer, hier etwas zum Blühen zu bringen. Die Silbereiche war zum Glück überaus robust.
Sie bemerkte ihren Sohn und sagte: »Ich erwarte dich zum Abendessen, Rupe.«
»Ich werde kommen«, erwiderte er innerlich lächelnd und eilte nach oben. Er duschte und rasierte sich, kämmte sein blondes Haar mit Pomade nach hinten, holte seinen besten schwarzen Anzug mit den Samtrevers aus dem Schrank und dazu ein weißes Rüschenhemd, das ihm einmal irgend jemand geschenkt hatte. Allein für seine Mutter warf er sich so in Schale, da er sie als Verbündete zu gewinnen hoffte. Er wußte, daß Victor, der von der Farm und ihren Anforderungen in Anspruch genommen war, jegliches Interesse an gesellschaftlichen Umgangsformen verloren hatte. Nicht, daß es ihn je sonderlich interessiert hätte; er war ein Gewohnheitstier. Rupe bezweifelte auch, daß Louisa in der Stimmung war für Charlottes altmodische Formalitäten. Er wählte eine schmale schwarze Krawatte aus, steckte eine goldene Taschenuhr in die Weste und polierte die schwarzen Schuhe, bis sie glänzten. Dann warf er einen prüfenden Blick in den Standspiegel und ging in den Salon hinunter.
»Du lieber Himmel«, sagte Charlotte lächelnd, »du siehst aber gut aus. Und trägst das Hemd, das ich dir letzte Weihnachten geschenkt habe. Ich dachte schon, es gefiele dir nicht.«
»Natürlich gefällt es mir. Ich war nur ein wenig unsicher wegen der vielen Rüschen. Wie geht es deinem Arm?«
Sie sah auf den eingegipsten Arm in der schwarzen Schlinge hinunter. »Er juckt und ist überaus lästig. Möchtest du einen Sherry, während wir auf die anderen warten, die sich mal wieder Zeit lassen?«
Das Eßzimmer strahlte im warmen Licht der bernsteinfarbenen Lampenschirme, die die getäfelten Wände schimmern und das blendend weiße Damasttischtuch weicher erscheinen ließen. Das Abendlicht drang durch die Spitzenvorhänge an den hohen Fenstern, umrahmt von den üppigen dunkelgrünen Samtportieren, die wieder ihren Weg ins Zimmer gefunden hatten. Rupe lächelte. Sie rochen leicht nach Mottenkugeln. Damit war es vorbei mit Louisas kurzer, innovativer Herrschaft. Die Ära des Tageslichts und der luftigen Zimmer war mit Charlottes Rückkehr abrupt zu Ende gegangen.
Als Victor und Louisa eilig den Raum betraten, stellte sich Rupe hinter den Stuhl am Kopf der Tafel, auf dem Austin früher gesessen hatte, und zog ihn zurück, so daß seine Mutter darauf bequem Platz nehmen konnte. Sie nickte ihrem Jüngsten dankbar zu und sah dann die anderen an.
Louisa wirkte aufsässig in ihrer hübschen Bluse und einem Rock mit Gürtel, und Victor, der sich der Spannungen gar nicht bewußt war und ohnehin wenig Sinn für Etikette hatte, war in einem sauberen Hemd und Kordhosen erschienen. Er zeigte keine Reaktion auf Rupes elegante Erscheinung und nahm, nachdem sich seine Frau gesetzt hatte, seinen gewohnten Platz am Ende des Tisches ein. Rupe saß links von ihm. Wie jeden hart arbeitenden Mann, interessierte auch ihn hauptsächlich das Essen, das auf den Tisch kam. Geistesabwesend griff er nach der gestärkten Serviette und sah seine Frau an.
»Was gibt es heute?«
»Erbsensuppe und gebackenen Schinken.«
»Fein.«
Doch Charlotte war nicht bereit, ihnen diesen Verstoß gegen die Regeln so einfach durchgehen zu lassen. »Ziehen wir uns nicht mehr zum Essen um?« fragte sie in ruhigem Tonfall.
»Oh, tut mir leid«, erwiderte Victor beiläufig und nahm sich ein warmes Brötchen, das er dick mit Butter bestrich.
»Wir sind zu dem Entschluß gekommen, daß es zu aufwendig ist«, erklärte Louisa. »Wie du weißt, haben wir versucht, unsere Ausgaben einzuschränken, und es ist doch reine Verschwendung, wenn wir jeden Abend unsere guten Sachen anziehen. Das Waschen und Bügeln macht viel mehr Arbeit als bei den Alltagskleidern.«
»Mir ist es recht«, sagte Victor versöhnlich. »Steife Hemden haben mir ohnehin nie gefallen.«
»Ich finde es sehr schade«, sagte Charlotte verärgert. »Wir haben Traditionen zu pflegen. Wir haben uns immer zum Essen umgezogen, anstatt wie Bauern zu Tisch zu kommen.«
»Was hast du gegen Bauern?« fragte Louisa, die offensichtlich noch immer gekränkt war.
»Nichts, meine Liebe, aber wir sind nun mal keine. Ich wahre gern einen gewissen Standard in meinem Haus. Hier draußen im Busch läuft man immer Gefahr, die guten Sitten schleifen zu lassen. Denkt an meine Worte: Wenn wir uns gehen lassen, wird das Personal unserem Beispiel folgen!«
Da war es, dachte Rupe. ›Mein Haus‹, hatte sie gesagt. Damit hatte sie Louisa auf ihren Platz verwiesen.
»Noch eins, bevor wir anfangen«, fuhr seine Mutter fort, »mir ist aufgefallen, daß ihr nicht miteinander sprecht. Das muß aufhören. Dankt lieber dem Herrn, daß wir unseren Jungen gesund wiederbekommen haben, nur das zählt. Rupe hat euch im übrigen etwas zu sagen.«
Er erhob sich nicht, wandte sich einfach im Sitzen an Victor und Louisa. »Was geschehen ist, tut mir schrecklich leid. Für euch war es ein Alptraum, doch auch ich habe gelitten. Ich bitte nicht um Entschuldigung, sondern um Vergebung.«
Persönlich wäre es ihm egal gewesen, wenn er nie wieder ein Wort mit ihnen gewechselt hätte, doch er mußte sich an Charlottes Anweisungen halten und brauchte außerdem Victors Unterstützung.
»Könnt ihr mir verzeihen?« fragte er ernst.
»In Ordnung«, nickte Victor. »Es war für uns alle eine schlimme Zeit.«
Louisa standen die Tränen in den Augen. »Ja. Vorbei ist vorbei.«
»Dem Herrn sei Dank«, sagte Charlotte. »Jetzt bin ich an der Reihe. Wir müssen die Eigentumsfrage klären. Gehört Springfield nun der Familie oder nur euch beiden?«
Rupe stöhnte. So hatte er sich den Abend nicht vorgestellt.
Er überließ seinem Bruder das Antworten.
»Mutter, wie du weißt, sind wir nicht der Ansicht, daß man dich benachteiligt hat, wenn wir auch in der Frage des Unterhalts ein wenig übereilt gehandelt haben mögen. Du wirst ihn weiterhin bekommen. Die zwei Grundstücke, die du und Fern gekauft habt, müssen allerdings wieder zu Springfield gehören. Man hat mir gesagt, wir könnten eine Firma gründen, die alle großen Weiden nach dem freien Erwerb unter unserer Leitung zusammenfaßt. Das heißt, der Großteil des Besitzes bliebe intakt. Ich hatte an den Namen Springfield Pastoral Company gedacht, da in diesem Fall nur das Haus mit seiner unmittelbaren Umgebung noch als Springfield-Farm gelten darf. Verstehst du das?«
»Ja, und ich halte es für einen hervorragenden Vorschlag. Doch wer wären die Direktoren dieser Firma?«
»Rupe und ich.«
»Also werden meine Rechte weiterhin mißachtet. Ihr wollt diese Grundstücke zurückhaben, wir haben für sie bezahlt. Auf welche Weise soll diese Rückgabe vonstatten gehen?«
»Wir werden sie euch zum gleichen Preis abkaufen, ihr werdet also keinerlei Verlust haben.«
Sie richtete sich in ihrem gepolsterten Ledersessel auf.
»Dürfte ich dich daran erinnern, daß dies vom geschäftlichen Standpunkt aus sehr unklug von mir wäre? Einer muß daran verdienen, Victor. Und der Preis steigt mit jedem Tag, an dem ihr die Entscheidung hinausschiebt, an dem ihr mir meinen Anteil an diesem Besitz vorenthaltet. Bis ihr soweit seid, meine Position zu verstehen, werdet ihr euch das Land vielleicht gar nicht mehr leisten können.«
Nun schaltete sich Louisa in das Gespräch ein. »Geht es dabei nur um dich, Charlotte, oder wird auch Harry seine Ansprüche geltend machen?«
»Nein. Harry hat mir gegenüber angedeutet, daß er dies nicht vorhat.«
Victor lehnte sich mit einem Seufzer vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch und kratzte sich am Kopf. »Warum tust du uns das an, Mutter?«
»Harry ist alt genug, um sich einzugestehen, daß er seinen Vater durch sein Verhalten dazu gebracht hat, ihn zu enterben. Mein Fall liegt anders. Mich hat man ungerecht behandelt. Mein Bruder war Austins Partner, als sie dieses Land erschlossen, und allen Versprechungen zum Trotz hat es mir nichts eingebracht. Bevor euer Vater starb, hat er großmütig dafür gesorgt, daß ich zu essen und ein Dach über dem Kopf habe, wie eines seiner verdammten Merinoschafe. Nun, das reicht mir nicht! Noch habe ich nicht einmal angefangen, euch das Leben schwerzumachen. Ihr solltet nicht vergessen, was das neue Gesetz vorschreibt: Wenn wir das Land verkaufen, muß es innerhalb von sechs Monaten vom neuen Besitzer besiedelt werden. Dann habt ihr Fremde im Tal!«
Louisa war außer sich. »Victor, um Gottes willen! Ich habe diese Diskussionen so satt. Gebt ihr doch endlich einen Anteil.«
Er sah sie verwirrt an. »Du scheinst zu vergessen, daß Austin diese Regelung im Testament getroffen hat, nicht ich. Wir haben uns daran zu halten.«
Rupe unterbrach ihn. »Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich verhungere fast. Könnten wir jetzt vielleicht essen, Mutter?«
Sie läutete die kleine Silberglocke, und die beiden Hausmädchen, die auch als Serviererinnen fungierten, eilten geschäftig herein.
Während die Suppe aufgetragen wurde und allgemeines Schweigen herrschte, versuchte Rupe die Situation für sich zu analysieren. Victors hartnäckige Defensivstrategie war Charlottes bitterer Entschlossenheit nicht gewachsen. Sie äußerte keine leeren Drohungen; sie würde ihren Weg gehen und sie notfalls alle niedertrampeln. Rupe zog es vor, nicht unter ihre Hufe zu geraten. Sie schien sich für eine Art wiedergeborenen Austin Broderick zu halten, hart und kompromißlos. Doch das war sie nicht. Austin hatte schwer gearbeitet, Land gerodet und nicht nur die Schwarzen, sondern auch alle anderen abgewehrt, die seine großzügig bemessenen Grenzen mißachteten. Er hatte erkannt, daß die endlosen Weiden jenseits des Tales ohne kontrollierte Viehbestände und sinnvolle Wasservorräte in absehbarer Zeit ruiniert wären. Daher hatte er in umsichtiger Weise Wasserläufe umgeleitet und Brunnen angelegt. Viele Jahre lang hatte er die Tiere selbst zusammengetrieben und geschoren. Zugegeben, bei der billigen Pacht und den hohen Wollpreisen war das Geld nur so hereingeströmt, aber Austin hatte zeitlebens wirklich hart dafür gearbeitet. Auch Charlotte hatte unter Bedingungen gelebt, die der Familie inzwischen undenkbar erschienen: Hütten, Cottages, alles ohne fließendes Wasser, nur ein Dach über dem Kopf und eine Feldküche, in der sie für die Viehhüter das Essen bereiten mußte. Doch dies war jetzt nebensächlich.
Sie hatte unrecht. Sie war kein Austin Broderick. Dieser hatte sich wild entschlossen durch rauhes, unberührtes Land gekämpft, um sein eigenes Reich zu begründen, und niemals hätte er auch nur einen Quadratzoll davon aufs Spiel gesetzt, wie sie es nun tat. Er hätte gewußt, daß sie alle dabei verlieren würden; er hätte nie eine Diskussion darüber geduldet, wem was gehören sollte. Nur Springfield zählte, sonst nichts. Er hatte Victor und Rupe dazu bestimmt, sein Werk fortzusetzen, da er sich auf sie verlassen konnte. Harry war dieser Aufgabe sicher nicht gewachsen. Mit der Zeit hätte er vermutlich alles auf seinen ältesten Sohn überschrieben, der das größere Verantwortungsbewußtsein an den Tag legte.
Eigentlich waren sie alle immer nur an zweiter Stelle gekommen, hinter der Farm, sinnierte Rupe. Und nun wurde sein Lebenstraum von innen her bedroht. Das durfte nicht sein. Er selbst war wenigstens klug genug, sich schwach zu stellen und Charlotte damit auf seine Seite zu ziehen. Immerhin war es Louisa gewesen, die die Palastrevolution angeführt hatte; es wäre amüsant, ihr die Schuld an allem zu geben, wenn Victor auf sie hören sollte.
»Ich muß sagen«, verkündete er, »Louisa hat recht … obwohl ich es nicht so plump ausdrücken würde. Da Mutter aufrichtig davon überzeugt ist, daß man sie ungerecht behandelt hat, müssen wir als Gentlemen wohl zurücktreten. Ich finde Familienstreitigkeiten furchtbar ordinär.« Er schenkte seiner Mutter ein gewinnendes Lächeln. »Wir sollten Mutter in den Kreis der Eigentümer aufnehmen und ihr ein Drittel geben.«
»Was?« keuchte Victor fassungslos. »Du hast doch so darauf gepocht, daß Austins Wünsche respektiert werden. Er hat Springfield uns hinterlassen.«
»Ja, aber ich begreife erst jetzt, wie sehr Mutter daran hängt.«
»Ja, so sehr, daß sie damit droht, Teile der Farm an Fremde zu verhökern!« gab Victor erbost zurück.
Rupe warf seiner Mutter einen verständnisvollen Blick zu. »Ich glaube nicht, daß es so weit gekommen wäre. Mutter hat nur aus ihrer Gekränktheit heraus so reagiert.«
Charlotte sagte nichts. Victor schien vollauf damit beschäftigt, die Hausmädchen zu beobachten, die die Suppenteller abräumten und den nächsten Gang auftrugen. Sie stellten Schüsseln mit Gemüse auf den Tisch und legten allen den dick geschnittenen Schinken vor.
Eines der Mädchen wandte sich an Charlotte, bevor es das Eßzimmer verließ. »Mrs. Broderick, die Köchin läßt sagen, daß es noch viel mehr Schinken gibt. Sie hat ihn im Ofen warmgestellt.«
»Einen Moment«, warf Louisa ein, »die Senfsauce fehlt noch.«
Doch Charlotte bedeutete dem Mädchen zu gehen. »Schon gut, ich habe Hannah gesagt, sie soll sich nicht mit der Sauce aufhalten. Wir haben ja die weiße, die zum Blumenkohl gehört. Wozu brauchen wir zweierlei Saucen?«
Mit geschürzten Lippen saß Louisa stocksteif am Tisch.
Ihr Mann schien die kurze Unterhaltung nicht registriert zu haben, denn er fuhr in seinem Gedankengang fort. »Gut, wenn du darauf bestehst, Mutter, und Rupe nun deiner Meinung ist, will ich euch nicht im Weg stehen. Ich lasse die Dokumente entsprechend aufsetzen.«
Charlotte nickte erfreut. »Es bleibt ja alles in der Familie, Victor. Ich danke euch. Der Schinken sieht übrigens einfach köstlich aus. Würdest du ihn mir bitte schneiden, Rupe? Dieser Arm …«
Probleme beeinträchtigten Victors Appetit in keinster Weise. Er hatte schon die halbe Mahlzeit verschlungen, als er sagte:
»Ich nehme an, daß wir dann eure Grundstücke zurückkaufen können?«
Charlotte lag es fern, sich ihren Triumph anmerken zu lassen.
»Ja«, erwiderte sie daher nur, ohne eine Miene zu verziehen.
»Dann werden wir Ferns Grundstück umgehend zu einem höheren Preis anbieten. Wir brauchen dringend Geld. Außerdem ziehen wir die Grenzen enger, indem wir drei andere am Rande liegende Abschnitte verkaufen, damit sparen wir die Verwalter für die Nebenfarmen ein. Ist dir klar, weshalb das erforderlich ist?«
»Ja, sehr vernünftig«, gab Charlotte zurück. »Dann sind wir also alle einer Meinung. Wie schön, daß wir die Sache so friedlich beilegen konnten. Möchte noch jemand Schinken?«
Sie klingelte nach dem Mädchen, als die beiden Männer die Frage bejahten.
Charlotte vergeudete keine Zeit. Noch am selben Abend wurde der Brief aufgesetzt, den Victor und Rupe unterzeichneten und an ihren Anwalt William Pottinger schickten. Alle waren guter Stimmung, bis auf Louisa.
»Mach dir keine Sorgen wegen Charlotte«, versuchte Victor sie in ihrem Zimmer zu beschwichtigen, »sie ist nur jetzt am Anfang so voller Tatendrang. Wenn sie erst wieder mit der Gartenarbeit angefangen hat, läßt sie dich auch in Ruhe. Dann läuft alles wie gehabt.«
»Ich weiß. Aber es war so schön, eine Weile nach unseren eigenen Vorstellungen leben zu können. Und erinnere mich bitte nicht daran, daß dies ihr Haus ist. Das hat sie mir schließlich klar und deutlich vor Augen geführt. Dir ist hoffentlich bewußt, daß sie mit dem Haus und dem Anteil mehr bekommen hat als wir anderen.«
Victor war die Nörgeleien satt. »Sie ist Austins Witwe, und dies ist ihr Haus.«
»Und wenn einige der Außenposten wegfallen, werden wir Rupe auch nicht los. Ich bin nicht mehr wütend auf ihn wegen Teddy, aber er hat sich überhaupt nicht verändert, ist boshaft wie eh und je. Er hat uns heute abend regelrecht vorgeführt. Er hätte uns ruhig sagen können, daß er vorhatte, sich zum Essen umzuziehen.«
»Mach dir keine Sorgen wegen Rupe, ich glaube nicht, daß er noch lange hierbleibt.«
»Wirklich? Dies ist die erste gute Neuigkeit an diesem Tag. Was hat er denn vor?«
»Er will auf Reisen gehen. Nach Übersee.«
»Seit wann weißt du davon?«
»Wir haben uns heute morgen im Wollschuppen darüber unterhalten. Alles ist vorbereitet, die Scherer müßten eigentlich heute kommen. Ich schätze, die Schur wird dieses Jahr alle Rekorde brechen. Allerdings wird sich der Gewinn in Grenzen halten, weil wir Bargeld für den Erwerb der Ländereien beiseite legen müssen, aber der Verkauf der vier Grundstücke hilft uns dabei. Ich glaube, die Siedler zahlen irrsinnige Preise, um beim Run auf das Land dabeizusein.«
»Und was ist mit Rupe?«
»Nun, ihm steht ein Gewinnanteil zu, nur ein Drittel zwar, aber das geschieht ihm ganz recht. Schließlich hat er heute als erster vor Charlotte gebuckelt. Jedenfalls wird es reichen, damit er irgendwo in großem Stil leben kann.« Victor lachte.
»Das mit Charlotte und dir tut mir leid, es läßt sich wohl nicht ändern, aber wenigstens kommt uns Rupe nicht mehr andauernd in die Quere.«
»Oder macht schnippische Bemerkungen. Ich finde die Idee ausgezeichnet. Soll er doch für den Rest seines Lebens durch die Weltgeschichte gondeln.«
Rupe war schon beim Packen, als Charlotte von seinen Plänen erfuhr. »Das wirst du nicht tun«, fauchte sie. »Jetzt ist Schur, die arbeitsreichste Zeit des Jahres, und du marschierst einfach davon und überläßt deinem Bruder die ganze Arbeit. Zieh dir was Altes an und mach dich nützlich.«
»Mutter, du scheinst mich nicht zu verstehen. Da draußen ist alles geregelt. Victor und ich haben ein Abkommen getroffen, am Samstag reise ich ab.«
»Dann bekommst du keinen Penny. Ich habe jahrelang mit angesehen, wie es mit Ada Crossleys Bruder gelaufen ist. Die Farm zahlt ihm Geld für nichts und wieder nichts. Das wird bei uns nicht passieren. Du wirst deinen Teil der Arbeit tun.« Rupe sah ungerührt seinen Kleiderschrank durch. »Adas Bruder war kein Eigentümer, er hat sich einfach auf Jocks Großzügigkeit verlassen. Meine Situation ist völlig anders. Ich werde einfach stiller Teilhaber im Geschäft.«
»So etwas habe ich ja noch nie gehört.«
»Dann hörst du es eben jetzt. Ich nehme an, du wirst ebenfalls deinen Gewinnanteil einstreichen, genau wie ich. Mutter, wir beide werden hier nicht gebraucht, das mußt du einsehen. Du bist zu alt, und ich passe einfach nicht hierher.«
»Du warst schon immer groß im Nehmen, Rupe. Du magst es geschafft haben, Victor weichzuklopfen, aber bei mir wird dir das nicht gelingen.«
Dennoch hatte seine Bemerkung sie zutiefst verunsichert. Waren sie wirklich der Meinung, sie sei zu alt, um sich nützlich zu machen? Auf dem Weg zum Wollschuppen dachte sie über ihre Tätigkeit nach. Sie half beim Kochen, empfing die Scherer und sorgte dafür, daß sie mit ihren Unterkünften zufrieden waren, bereitete die alljährliche Abschlußparty vor und hatte überhaupt immer viel zu tun. Sie band das Tuch fester um den Kopf und raffte ihre Röcke. Oh nein, so leicht würde sie sich nicht aufs Abstellgleis schieben lassen.
Sie passierte die Pferche, wo Hunderte von Schafen für die Schur zusammengetrieben wurden, und sog den altvertrauten Geruch der ungeduldig drängelnden Tiere ein. Den Geruch von dicker Wolle, Schmutz und Staub. Sie ging an Männern vorbei, die die Dame des Hauses mit einem freundlichen Nicken begrüßten, an hechelnden Schäferhunden, die ihr einen raschen Blick zuwarfen und wieder ihrer Pflicht nachgingen; schließlich mußte sie lachen. Was für eine Närrin sie doch war. Rupe konnte ein schwarzes Schaf weißreden, pflegte Austin zu sagen. Beinahe wäre es ihm auch in ihrem Fall gelungen. Verdammt, sie lebte gern auf Springfield! Sie mochte den Gestank und Schweiß, die Geschäftigkeit in den Wollschuppen, und das war nur ein Teil davon. Die Farm war das ganze Jahr über voller Leben und Aufregung, der Wechsel der Jahreszeiten spannend, und sie würde das Ruder noch lange nicht aus der Hand geben. Frauen taten auf großen wie kleinen Farmen ihre Arbeit, ohne durch Verträge dazu verpflichtet zu sein, und hatten es nicht nötig, ihren Nutzen unter Beweis zu stellen.
Sie beschloß, Victor jetzt lieber nicht zu stören. Es machte viel mehr Spaß, sich über das Geländer zu lehnen und den Schafen zuzusehen, die die Rampe hinaufdrängten. In der Ferne breiteten sich die Herden wie ein grauer Teppich über das Tal aus. Tausende von gesunden, wohlgenährten Schafen, die vor Beginn des Sommers ihre kostbare Wolle abgeben würden. Aus Gewohnheit sah sie voller Dankbarkeit zum Himmel auf. Schlechtes Wetter bedeutete Gefahr für die frisch geschorenen Tiere.
An diesem Abend machte sie ihre Haltung jedoch deutlich. »Rupe kann gehen, wohin er will, aber wir werden ihm seinen Lebensunterhalt unter gar keinen Umständen finanzieren. Ist das klar, Victor?«
»Ja, er hat es mir gesagt. Er droht damit, dir deinen Anteil wieder streitig zu machen.«
Charlotte lächelte. »Ich dachte mir schon, daß er das bei dir versuchen würde. Er blufft nur. Rupe weiß ganz genau, bei wem etwas zu holen ist. Er wird es sich keinesfalls mit uns beiden verscherzen wollen.«
Sie sollte recht behalten. Rupe beruhigte sich wieder, und Victor, der nun als Schlichter fungierte, überredete ihn, bis nach der Schur zu bleiben.
»Wenn wieder etwas Ruhe eingekehrt ist, kannst du fahren. Laß Charlotte einfach ein bißchen Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen.«
Louisa zeigte sich wenig beeindruckt. »Sie wird ihn nicht gehen lassen. Jetzt haben wir ihn endgültig am Hals.«
Zur selben Zeit hatte Theo Logan ein Kind namens Bobbo am Hals. Er hatte Wochen gebraucht, den geschwächten kleinen Kerl wieder aufzupäppeln. Jeden Tag erhielt er ein wenig mehr zu essen, bis sich sein Magen wieder an die Nahrung gewöhnt hatte. Dennoch war sein Körper auf einmal mit Blasen bedeckt, und Logan hatte einen Arzt rufen müssen. Theo kannte sich mit Blasen aus, aber nicht in dieser Menge. Vielleicht waren es ja die gefürchteten Windpocken; in diesem Fall hätten seine Passagiere samt und sonders die Flucht ergriffen.
Der Arzt schien jedoch nicht weiter besorgt. Er öffnete einige der Blasen, was bei einem schreienden, um sich schlagenden Kind keine leichte Aufgabe war, legte Verbände an, damit sich der Junge nicht kratzte, und bettete ihn wieder auf das improvisierte Lager in Theos Vorratsraum. Er gab Anweisung, die Breiumschläge wirken zu lassen.
Obwohl Theo am ganzen Fluß verbreitet hatte, daß er ein verirrtes schwarzes Kind auf seinem Schiff gefunden habe, meldete sich niemand, um es zu beanspruchen oder zu identifizieren. Schlimmer noch, der Junge hatte inzwischen Zutrauen zu ihm gefaßt.
»Wie ein verdammter Hund«, knurrte er, als Barney einmal Bobbos Anhänglichkeit ansprach. »Nur, weil ich ihm zu essen gebe.«
Die beiden Matrosen hingegen fanden die Situation überaus komisch. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, daß jemand ihren zänkischen Boß gern hatte, vor allem nicht dieses Kind, für das er kein freundliches Wort übrig hatte. Er wies seine Matrosen im Gegenteil an, ihm den Kleinen vom Leib zu halten.
Sie wußten jedoch nicht, daß Theo nachts, wenn die Marigold am Kai von Somerset vor Anker lang, bei dem Kind saß und ihm Gesellschaft leistete, um sein Leiden zu lindern. Es kam ihm nicht in den Sinn, Bobbo Geschichten zu erzählen oder Kinderspiele zu erfinden, da er dies aus seiner eigenen Kindheit nicht kannte; er zündete nur seine Pfeife an und saß da, umgeben von den Regalen mit Ersatzteilen und Konservendosen und anderem Krimskrams, dachte an nichts Besonderes und wartete, bis dem Kleinen die Augen zufielen.
Als sich Bobbo von dem Ausschlag erholt hatte, schien es Theo an der Zeit, etwas über das Kind und seine Herkunft in Erfahrung zu bringen, damit er sich seiner endgültig entledigen konnte. Er begriff nicht, daß Bobbo ihn trotz seiner rauhen Art liebgewonnen hatte und genau wußte, daß dieser Mann keine Bedrohung für ihn darstellte. Er beantwortete bereitwillig die Fragen des Kapitäns und bestand darauf, nach Hause zu wollen.
»Da hinten«, sagte er immer wieder, »da gehe ich hin.«
Mit einiger Mühe gelang es Theo herauszufinden, daß Bobbo und zwei seiner Freunde von einem Betmann und seiner Missus in die Stadt gebracht worden waren. Vermutlich handelte es sich dabei um einen Priester oder Prediger. Mit solchen Menschen hatte Theo es nur am Tag seiner Hochzeit zu tun gehabt und das auch nur, weil es sich aus rechtlichen Gründen nicht vermeiden ließ. Der Junge stellte im Gegenzug natürlich ebenfalls Fragen, Fragen, die nur einem äußerst lebhaften Verstand entspringen konnten. Wo war seine Mis-sus? Wo war seine Mumma? Gehörte ihm dieses große Boot? Warum besaß er keine Schafe? Wo war seine Horde? Seine Familie? Nach und nach erfuhr Theo mehr über die Herkunft des Jungen.
Schließlich fand er heraus, daß dieses Kind mit einigen Gefährten in einem Waisenhaus in der Stadt gelandet war, aus dem der Kleine sich davongemacht hatte. Das gefiel ihm. Natürlich ließ er sich das nicht anmerken, doch sein Respekt für die Kühnheit des Jungen, der ganz auf sich allein gestellt den Heimweg finden wollte, wuchs. Immerhin konnte er nicht viel älter sein als sieben.
»Du bringst mich nicht zu Schlägern zurück, Kapitän?« fragte Bobbo ernsthaft, und Theo mußte lachen. Das Wort hatte er sicher von den anderen Kindern aufgeschnappt, doch es verriet einiges über die Zustände im Waisenhaus. Interessiert hakte er nach und geriet in Wut, als er von dem verängstigten Kind mehr über die brutale Behandlung erfuhr, die ihm dort zuteil geworden war.
»Nein, mein Freund, dorthin bringe ich dich ganz bestimmt nicht zurück.«
Dennoch blieb die Frage nach seinem Zuhause bestehen, wo immer das auch sein mochte. Er mußte Bobbo erklären, daß es nicht einfach auf der anderen Seite des Flusses lag, obgleich sich der Junge daran erinnerte, daß sie über eine große Brücke gefahren waren. Erstaunlich, was sich Kinder so alles merkten. Er konnte ihm nur mit Mühe klarmachen, daß es wenig Sinn hatte, am anderen Ufer auszusteigen. Er würde sich nur wieder verirren. Sein Zuhause konnte Hunderte von Meilen entfernt sein. Seufzend machte er sich daran, dem Kind begreiflich zu machen, was eine Meile war. Dies erforderte einiges an Geduld, da Bobbo noch keine Vorstellung von Entfernungen hatte, doch Theo hoffte, daß er aufgrund ihrer täglichen Reisen und der verschiedenen Ankerplätze mit der Zeit ein Gespür dafür entwickeln würde. Er hatte Angst, der Kleine könne wieder davonlaufen und in noch schlimmere Situationen geraten, und wies ihn daher strengstens an, an Bord zu bleiben, bis sie sein Zuhause gefunden hätten. Bobbo versprach es ihm mit vertrauensvollem Blick.
Nun durfte er sich auf dem Schiff frei bewegen und war bald schon überall als der Kabinenjunge bekannt, dessen fröhliches Lächeln die Passagiere bezauberte. Theo hingegen machte sich ständig Sorgen um ihn und fürchtete, er könne über Bord fallen. Daher befahl er Barney an einem Sonntagmorgen, Bobbo das Schwimmen beizubringen. Er sah vom Deck aus zu und rief Barney, der mit dem Kind vom Ufer ins sanft dahinfließende Wasser watete, Anweisungen zu. Die Fischer beobachteten vom Kai aus fasziniert das Geschehen und brachen bald in lautes Gelächter aus. Der Kleine schwamm wie ein Fisch und ließ Barney weit hinter sich.
Allmählich setzte Theo Bobbos Vergangenheit wie ein Puzzle zusammen. Er hatte mit seiner Horde auf einer Schaffarm an einem großen Fluß gelebt und war weggeschickt worden, um das zivilisierte Leben zu erlernen. Diese Information hatte er von interessierten Passagieren erhalten, die sich etwas auf ihr Wissen einbildeten und es bereitwillig an andere weitergaben.
»Das kommt häufig vor«, erklärten sie ihm. »Die schwarzen Kinder müssen von ihren Stämmen getrennt und in die weiße Gesellschaft aufgenommen werden. Es ist am besten so.«
In Theo wuchs der Groll, als er begriff, was dieses Kind durchgemacht hatte, dieses Kind, das noch immer im Schlaf nach seiner Mutter rief und sich sogar vor Theo verängstigt zusammenkrümmte, wenn es aus Versehen in seine eigene Sprache verfiel. Er holte Erkundigungen über dieses gewaltsame Zivilisierungsprogramm ein, und je mehr er darüber erfuhr, desto weniger gefiel es ihm. Er dachte an seine eigene Mutter, die verzweifelt gegen die Armut angekämpft hatte, um ihre Familie beisammenzuhalten. Niemand hätte es wagen dürfen, eines von ihren vier Kindern aus ihrer Mitte zu reißen. Um die Wahrheit zu sagen, Theo konnte dieses Verhalten nicht einmal ansatzweise verstehen. Die Leute redeten von Zivilisierung, doch er argwöhnte, sie meinten in Wirklichkeit Christianisierung. Er hegte tiefes Mißtrauen gegen Menschen, die sich selbst großspurig als gute Christen bezeichneten.
Die Zeit verging. Bobbo folgte den Matrosen auf Schritt und Tritt. Sie ließen ihn das Messing polieren, die Sitze der Passagiere abwischen und Abfall aufheben, um ihn zu beschäftigen, da er nur dann den Kapitän in Ruhe seine Arbeit machen ließ. Bei gutem Wetter spielte er abends mit Wurfringen aus Seilenden an Deck, während Theo nachdenklich daneben saß.
Der Kapitän wußte noch immer nicht, wo Springfield lag, und war der Fragerei allmählich überdrüssig. Der Junge glich in seinen Augen einem entflohenen Sträfling, eine Situation, mit der er sich bestens auskannte. Wie konnte er sichergehen, daß Bobbo nicht wieder zurückgeschickt würde, sobald er zu Hause angekommen war? Einen weiteren Aufenthalt im Waisenhaus würde er nicht überleben.
Nicht, daß er den verdammten Bengel gern gehabt hätte, mitnichten, aber irgend jemand mußte sich schließlich um ihn kümmern. Selbst wenn ihm eine erneute Flucht aus dem Waisenhaus gelingen sollte, würde er danach vermutlich verhungern oder in schlechte Gesellschaft geraten. Außerdem benahm er sich ganz anständig, seit er wieder an Bord war. Dann fiel ihm etwas ein. Ein neuer Name mußte her, um ihn zu schützen. Er rief das Kind von da an Robbie in Erinnerung an Robert Burns, den größten schottischen Dichter aller Zeiten.
Fern war überrascht, als Charmaine Collins so früh am Morgen vor ihrer Tür stand. »Du bist mir ja vielleicht eine Frühaufsteherin, Charmaine! Komm doch herein.«
»Nein, ich möchte dich nicht lange aufhalten. Du hast sicher viel zu tun. Ich wollte mich nur erkundigen, wo ich Harry Broderick finden kann.«
»Er wohnt hier bei mir. Komm mit in den Salon, ich werde ihn holen.«
»Ich störe doch hoffentlich nicht.«
»Nein, im Gegenteil, ich freue mich, dich zu sehen. Wie geht es Angus? Ich hörte, er sei krank.«
»Mittlerweile hat er sich wieder erholt, es war ein leichter Herzanfall. Der Arzt sagt, er solle in den Ruhestand gehen, aber du kennst ihn ja. Er scheint zu glauben, ohne ihn ginge die Kanzlei vor die Hunde, obwohl inzwischen unsere beiden Söhne den Laden schmeißen.«
Fern lächelte. »Wahrscheinlich kann er sich ein Leben ohne Arbeit nicht vorstellen. Wann immer ich ans Aufhören denke, bekomme ich Angst, ich ginge ein vor Langeweile …«
»Aber du bist doch noch munter wie ein Fisch im Wasser«, erwiderte Charmaine. »Mit dem Ruhestand ist es bei dir noch lange hin.«
»Danke für das Kompliment. Warte einen Augenblick, ich bin gleich wieder da.«
Kurze Zeit später kam sie in Harrys Begleitung zurück, der sich noch die Krawatte band. »Mrs. Collins, wie schön, Sie wiederzusehen. Sie sehen blendend aus.«
Charmaine dachte das gleiche von ihm. Keine Anzeichen mehr von diesem Nervenzusammenbruch, von dem man so viel gemunkelt hatte. »Vielen Dank, Harry. Ich hoffe, ich habe Sie nicht beim Frühstück gestört.«
»Nein, meine Tante weckt und verpflegt mich recht früh, bevor sie ins Geschäft geht.«
»Nun, ich will Sie nicht lange aufhalten. Ich bin im Damenkomitee des Wohltätigkeitsvereins, wir setzen uns für die Instandhaltung des Armenhauses ein. Es ist sehr viel Arbeit damit verbunden, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls habe ich Sie gestern zufällig dort gesehen und erfahren, daß Sie sich nach dem Verbleib einiger schwarzer Kinder erkundigt haben.«
»Das stimmt«, entgegnete Harry bedrückt. »Ich suche nach ihnen und hoffte, sie dort zu finden. Leider hat sich diese Spur nur als eine weitere Sackgasse erwiesen.«
»Aber sie waren da!« rief Charmaine aufgeregt. »Ich erinnere mich sehr genau an sie.«
»Der Direktor sagte, sie nähmen keine Waisen auf. Wir sind die Bücher durchgegangen, es gibt keine diesbezügliche Eintragung. Er hätte mich doch nicht belogen, oder?«
»Du lieber Himmel, nein. Der arme Kerl tut sein Bestes. Soweit ich mich erinnere, wurden die drei Kinder vor dem Tor ausgesetzt. Einer hieß Bobbo, einer Jack, und … der dritte Name will mir nicht einfallen …«
»Das sind sie!« stieß Harry hervor. »Warum hat mir der Direktor das nicht gesagt?«
»Weil er nichts darüber weiß, es war vor seiner Zeit. Wir hatten damals eine ausgezeichnete Aufseherin, die leider in den Ruhestand gegangen ist. Sie konnte es nicht übers Herz bringen, die Kinder wegzuschicken, und hat sie heimlich dabehalten, bis sie ein Zuhause für sie gefunden hatte.«
»Wurden sie gut behandelt?«
»Das schon, aber es war natürlich keine Umgebung für Kinder, zuviel Gesindel.«
»Wie hieß diese Aufseherin?«
»Molly Giles. Ihr Bruder Buster hat auch dort gearbeitet. Er war nicht besonders helle, hatte aber ein gutes Herz.«
»Ist er noch da?«
»Nein, er wurde im Zuge des vor einiger Zeit erfolgten Personalabbaus entlassen.«
Harry seufzte. »Ich glaube, Bobbo wurde ins Waisenhaus gebracht.«
»Ja, das stimmt. Er war als erster fort.«
»Er ist von dort weggelaufen. Ich hoffte, er sei vielleicht ins Armenhaus zurückgekehrt, aber das war wohl nicht der Fall. Ich muß Molly Giles finden, sie weiß vielleicht, wo die Kinder jetzt sind.«
Mrs. Collins lächelte ihn selbstzufrieden an. »Ich kann Ihnen noch mehr sagen. Jack, ein hübscher kleiner Kerl, wurde von einer gewissen Mrs. Adam Smith aufgenommen.«
»Den Namen habe ich noch nie gehört.«
»Ich muß zugeben, ich fand es damals ziemlich töricht von ihr. Ich möchte sie nicht kritisieren, vielleicht wollte sie ihm ja wirklich etwas Gutes tun, aber … wie soll ich es ausdrücken? Er wurde wie eine Puppe behandelt. Alle Damen, die sie besuchten, machten sich darüber lustig. Sie staffierte ihn mit allerlei komischen Kleidern aus.«
»Das könnte Jagga gewesen sein. Ist er noch da?«
»Möglich. Ich gebe Ihnen die Adresse, ich habe sie seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen. Mrs. Smith kam nur einige Male ins Armenhaus. Nicht jeder ist für diese Art von Arbeit geschaffen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Fern holte Papier und Stift und schrieb die Adresse auf.
»Kennst du zufällig auch die Anschrift der Aufseherin?«
»Nein, aber sie hat gesagt, sie wolle sich in ihr Cottage in Camp Hill zurückziehen. Vermutlich haben sie im Armenhaus die genaue Anschrift. Sie war eine überaus tüchtige Frau.«
Harry lehnte sich zurück. »Mrs. Collins, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Stillen Sie meine Neugier. Warum sind Sie auf der Suche nach diesen Kindern?«
Harry wollte keine Diskussion über die Rechte schwarzer Kinder anfangen und beschränkte sich auf das Nötigste. »Auf Springfield ereignete sich ein Unfall. Mein kleiner Neffe fiel in den Fluß und wäre ohne die Hilfe einer Aborigine-Frau ertrunken. Wir waren ihr natürlich sehr dankbar. Es stellte sich heraus, daß vor einiger Zeit Missionare ihren Sohn und zwei weitere Kinder mitgenommen hatten, um sie im Rahmen des Programms, das Kirche und Regierung gemeinsam erarbeitet haben – Sie haben sicher auch schon davon gehört – erziehen zu lassen.«
Sie nickte.
»Also habe ich dieser Frau – Nioka heißt sie – versprochen, nach den kleinen Jungen zu suchen. Es ist das mindeste, was ich für sie tun kann.«
Mrs. Collins nickte wieder. »Natürlich.«
»Als ich in Brisbane eintraf, mußte ich feststellen, daß es sich bei den Missionaren um Betrüger handelte. Sie haben die Kinder nur benutzt, um Spenden zu ergattern. Die Kirche des Heiligen Wortes existiert nicht mehr, die Anführer sind geflohen. Da sie nicht wußten, was sie mit den Kindern anfangen sollten, haben sie sie vor dem Armenhaus ausgesetzt.«
»Das ist ja entsetzlich!«
»Vielleicht verstehst du jetzt, in was für einer Zwangslage Harry sich befindet«, warf Fern ein. »Er kann schlecht mit leeren Händen zu der Frau zurückkehren. Welches von den Kindern ist Niokas?«
»Jagga. Immerhin ihn scheinen wir ja aufgespürt zu haben.«
»Ich bin froh, Ihnen weitergeholfen zu haben. Jetzt muß ich mich aber schleunigst auf den Weg machen.«
»Warum so eilig, bleib doch noch auf einen Kaffee.«
»Nein, vielen Dank.« Mrs. Collins erhob sich. »Ein anderes Mal vielleicht. Ich muß zu einer Versammlung, du wirst im Geschäft erwartet, und Harry wird heute sicher ebenfalls sehr viel zu tun haben. Aber laßt mich wissen, was aus der Sache geworden ist.«
»Natürlich«, versprach Harry lächelnd.
»Viele Grüße an Connie. Wie geht es ihr eigentlich?«
»Sehr gut. Sie erwartet ein Kind«, erwiderte er stolz.
»Eine wundervolle Nachricht. Gott segne Sie beide.«
»Tut mir leid, Sir«, sagte das Hausmädchen. »Mrs. Smith ist nicht da.«
»Das ist bedauerlich. Könnte ich dann bitte mit Mr. Smith sprechen?«
»Er ist im Büro, Sir. Möchten Sie vielleicht Ihre Karte hinterlassen?«
Automatisch griff Harry nach seiner Brieftasche, erinnerte sich dann aber grinsend, daß er gar keine Visitenkarten mehr besaß. »Ich heiße Harry Broderick. Wann erwarten Sie Mrs. Smith zurück?«
»Erst heute nachmittag.«
»Und wenn ich um fünf Uhr noch einmal vorbeischaue?«
»Dann müßten beide hier sein.«
»Gut. Da fällt mir ein, ist Jack zu Hause?«
»Wer ist Jack?«
»Der kleine Aborigine-Junge. Das Pflegekind der Smiths, soweit ich informiert bin.«
»Nein, der ist nicht mehr hier. Ist schon eine ganze Weile weg.«
Harry stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. »Wo ist er denn jetzt?«
Das Mädchen schien zu spüren daß sie sich hier ein Problem eingehandelt hatte, und machte einen Rückzieher. »Ich weiß es nicht. Warten Sie, ich frage die Köchin.«
Nach einer Weile tauchte eine kantige, grauhaarige Frau an der Tür auf. »Sie suchen den kleinen Jack?«
»Ja, deshalb bin ich gekommen.«
»Und Sie sind Mr. Broderick?«
»Ja.«
»Warum haben Sie Mr. Smith nicht bei der Arbeit aufgesucht?«
»Ich kenne weder Mr. noch Mrs. Smith. Ich suche nur nach dem Jungen.«
»Wieso?«
»Man hat ihn seinen Eltern gegen ihren Willen weggenommen. Ich muß ihn unbedingt finden, Madam. Können Sie mir sagen, wohin er von hier aus gekommen ist? Er hat doch hier gewohnt, oder?«
Die Köchin seufzte. »Ja. Er war ein lieber kleiner Kerl.«
Dann trat sie vor die Tür und nahm Harry beiseite. »Sie werden doch keinem sagen, daß Sie es von mir haben? Könnte mich meine Stelle kosten.«
»Nein, das verspreche ich Ihnen.«
»Gut. Mrs. Smith hat ihn mitgebracht und wollte ihn zu einem Püppchen dressieren, aber er konnte sich nicht an das Haus gewöhnen.« Sie rümpfte die Nase. »Geht manchem von uns genauso. Sie hat manchmal so komische Launen, will was Besseres sein. Er hatte Heimweh, war richtig unglücklich. Hat sie geärgert. Der Herr ist den ganzen Tag außer Haus. Schließlich hatte sie ihn über.«
»Sie hatte Jagga, ich meine Jack, über?«
»Genau. Sie hat das Interesse an ihm verloren, wie bei all ihren tollen Ideen. Die halten meistens nicht lange vor …«
»Und was ist dann passiert?«
»Der Herr hat den Jungen weggebracht. Sie hatte ihn hübsch angezogen, und er sah aus wie ein Kätzchen, das man zum Fluß trägt, um es zu ersäufen. Mir wurde ganz übel dabei.«
»Du lieber Himmel, wo haben sie ihn hingebracht? In ein Waisenhaus?«
»Nein, ins Schwarzenreservat, irgendwo hinter Ipswich. Die Missus hat erzählt, wie gut es ihm da geht, weil er bei seinen Leuten ist, und daß sie ihn vermißt und so. Aber das war nur Gerede …«
»In ein Reservat? In dem Alter? Von seinen Leuten kann da niemand sein. Er kommt aus dem Westen.«
Die Köchin runzelte die Stirn. »Wie kommt so ein kleiner Kerl dann nach Brisbane? Klingt nicht, als hätten Sie sich gut um ihn gekümmert.«
»Ich weiß. Es war alles ein furchtbarer Fehler. Deshalb versuche ich ja jetzt auch so verzweifelt, ihn zu finden.« Er zog eine halbe Krone aus der Tasche. »Von Jack, für die einzige Freundin, die er hier hatte. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Sie brauchen den Smiths nicht zu sagen, daß ich hier war. Ich glaube, wir haben nicht viel gemeinsam.«
»Sieht aus, als käme noch ein Kunde«, bemerkte Buster, als ein großer Mann vom Pferd stieg und das Tier am Tor festband.
»Mach die Vorhänge zu«, schalt ihn Molly. »Es ist ungehörig, die Leute zu beobachten. Wenn er was zu sagen hat, wird er schon an die Tür kommen.«
Dennoch konnte auch sie sich einen raschen Blick auf den Ankömmling nicht verkneifen. Vermutlich ein werdender Vater, der die Hebamme rufen wollte. Sie wartete, bis er den Türklopfer betätigt hatte, und öffnete ihm mit einem Lächeln.
»Was kann ich für Sie tun, junger Mann?«
»Sind Sie Mrs. Giles, die ehemalige Aufseherin vom Armenhaus?«
»Ja.«
»Darf ich eintreten?«
Sie führte ihn in das winzige Wohnzimmer. Zum Glück hatte Buster sich verzogen, es gab nämlich nur zwei Sessel. »Was kann ich für Sie tun?«
»Mein Name ist Harry Broderick. Ich komme von Springfield Station in den Downs. Ich suche nach drei kleinen Aborigine-Jungen und habe erfahren, daß Sie mir dabei vielleicht helfen können.«
Ihr Herz begann heftig zu klopfen. »Mein Gott, setzen Sie sich, Mr. Broderick. Ich hatte immer gehofft, daß einer nach ihnen fragt, aber es ist nie passiert.«
»Ich hörte von verschiedenen Seiten, daß Sie gut zu ihnen gewesen sind, wofür ich Ihnen gar nicht genug danken kann. Wir wußten zunächst gar nicht, daß sie verschwunden waren.«
»Wie ist das möglich?«
Harry erzählte seine Geschichte ein weiteres Mal, und die Frau reagierte voller Empörung.
»Man sollte Leute erschießen, die Kinder gewaltsam von ihren Eltern wegschleppen. Haben wir noch nicht genügend Bettler in der Stadt? Wenn ich Sie richtig verstehe, waren diese Missionare Betrüger. Das ist ja nun wahrlich nichts Neues. Warum aber haben Sie sie gehen lassen?«
Harry brachte es nicht über sich einzugestehen, daß seine Familie sogar ihr ausdrückliches Einverständnis dazu gegeben hatte, und antwortete ausweichend. »Ich weiß nicht, ich war nicht dabei.«
Dann fuhr er in seinem Bericht fort. »Ich glaube, ich bin Jagga auf die Spur gekommen. Er lebte eine Weile bei einem gewissen Ehepaar Smith, doch dann haben sie ihn in ein Eingeborenenreservat bei Ipswich gebracht.«
»Du lieber Gott! Dann war da noch Bobbo. Ihn konnten wir in einem Waisenhaus unterbringen …«
»Von dort ist er weggelaufen. Ich dachte, Sie wüßten vielleicht, wo er und Doombie sind.«
Die Frau wirkte auf einmal sehr still. »Doombie ist hier.«
»Was?« Harrys Gesicht hellte sich auf, und er wollte schon aufspringen, doch sie hielt ihn zurück und sah ihn ernst an.
»Im Armenhaus wurde Doombie sehr krank. Wie Sie sich denken können, ist es eine Brutstätte für Krankheiten. Mein Bruder und ich haben ihn liebgewonnen und konnten ihn einfach nicht dortlassen. Als ich in den Ruhestand trat, habe ich Doombie mit zu mir genommen. Er ist hier sehr glücklich gewesen, wirklich, und es war uns eine große Freude, das Kind bei uns zu haben.« Sie holte tief Luft. »Mr. Broderick, ich habe den Rat mehrerer Ärzte eingeholt und ihn so gut wie möglich gepflegt, aber er hat die Schwindsucht.«
Sie wischte ihre Tränen mit einem Taschentuch fort. Harry saß wie versteinert da. Er erinnerte sich daran, wie diese Kinder mit Teddy gespielt hatten, wenn er in den Sommerferien mit Connie nach Springfield kam. Alle waren gesund und glücklich gewesen. Am liebsten hätte er Reverend Billings eigenhändig grün und blau geprügelt. Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und rieb sich die Stirn. Vielleicht übertrieb die Frau ihre Sorge ja ein wenig, da sie das Kind offensichtlich so sehr liebte.
»Kann ich ihn sehen?« fragte er heiser.
Aus dem Flur erklang eine Stimme. »Er darf sich nicht aufregen.« Das war vermutlich der Bruder.
»Schon gut, Buster«, sagte die Frau sanft. »Hol doch bitte die Wäsche rein.« Dann wandte sie sich wieder Harry zu.
»Mein Bruder macht sich furchtbare Sorgen um Doombie. Als das Kind die ersten Schwächeanfälle erlitt, sagte ich, es dürfe sich nicht aufregen. Jetzt ist es eigentlich egal, aber ich bringe es nicht übers Herz, ihm das zu sagen.«
»Oh, Gott, steht es denn so schlecht um ihn?«
»Ich fürchte, ja.«
Er folgte ihr in eine enge Diele und von dort aus in einen winzigen Raum, der mit seinem Waschtisch und den Medizinflaschen wie ein Krankenhauszimmer wirkte. An einer Stange hingen saubere Handtücher, in der Ecke stand ein kleiner Schaukelstuhl. Das Bett mit den makellos weißen Laken sah riesig aus im Vergleich zu dem winzigen Patienten darin.
Doombies dunkle Haut wirkte grau, die Wangen hohl; die dünnen Ärmchen ruhten auf der Bettdecke, doch die großen Augen schauten dem Besucher interessiert entgegen.
Harry unterdrückte einen Aufschrei der Verzweiflung. Es war tatsächlich Doombie; er erkannte Gabbidgees Gesichtszüge in seinen und auch das breite, freundliche Lächeln.
»Liebling, du hast Besuch«, sagte Molly Giles. »Erinnerst du dich an Mr. Broderick?«
»Ich glaube kaum, daß er mich noch kennt«, murmelte Harry, doch er irrte sich.
»Er großer Boß«, sagte der Kleine stolz.
»Springfield«, erklärte Harry, küßte das Kind auf die Stirn und ergriff dessen zerbrechliche Hand. »Darf ich mich aufs Bett setzen?« fragte er die Frau.
»Ja, bitte.«
Er nahm vorsichtig Platz. »Ich wollte dir nur Hallo sagen. Wir vermissen dich alle ganz schrecklich, Doombie.«
Zu seiner Überraschung verfiel dieser in seine eigene Sprache, erkundigte sich nach seinen Eltern, und Harry bemühte sich, im Dialekt zu antworten, was das Kind zu belustigen schien. Es wirkte erstaunlich fröhlich, doch als es immer weiter in seiner Muttersprache plapperte, sah Harry Mrs. Giles fragend an, ob er ihn auch nicht überanstrengte. Sie nickte ihm aufmunternd zu.
»Lassen Sie ihn nur«, flüsterte sie. »Für ihn ist es eine Erleichterung, Englisch zu sprechen fällt ihm schwer.«
Harry blieb lange bei dem Jungen sitzen und berichtete ihm von seinen Eltern und von Nioka, als lebten sie noch immer auf Springfield. Er gab vor, das Kind zu verstehen, und es ergriff beinahe heftig seine Hand, als wolle es die kostbaren Erinnerungen festhalten.
Als sie wieder im Wohnzimmer waren, fragte Harry verzweifelt: »Gibt es noch Hoffnung, daß ich ihn zu seinen Eltern bringen kann?« Er könnte Victor telegrafieren. Ihn anweisen, die Eltern nach Springfield zu holen. Nioka würden wissen, wo sie lebten.
»Tut mir leid, Mr. Broderick, er würde die Reise nicht überstehen.«
»Wir könnten den Zug nehmen. Und dann eine bequeme Kutsche. Sie können natürlich mitkommen und ihn unterwegs pflegen. Bitte lassen Sie mich ihn nach Hause bringen.«
»Es ist leider zu spät. Doombie hat nicht mehr viel Zeit. Sie haben den Hustenanfall ja selbst erlebt.«
»Was sollen wir denn tun? Ich kann Spezialisten holen, falls es eine Frage des Geldes ist …«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich würde alles tun, damit er seine Eltern wiedersehen kann, das müssen Sie mir glauben. Aber man darf keine falschen Hoffnungen wecken. Mein kleiner Liebling würde es nicht schaffen.«
»Ich habe ihm gesagt, ich würde morgen mit einem Geschenk wiederkommen. Geht das in Ordnung?«
»Ja, natürlich. Er mag doch so gerne Eis, das wäre eine echte Überraschung für ihn.«
An diesem Abend schrieb Harry einen weiteren Entschuldigungsbrief an Connie, überließ es jedoch Fern, in einem Begleitschreiben die näheren Umstände zu erklären, da er dazu viel zu aufgewühlt war. Jeden Tag suchte er Brisbane vergeblich nach Bobbo ab, nachdem er Doombie morgens mit Eis, Schokolade oder Stofftieren besucht hatte. Auch Jagga spukte stets in seinem Kopf herum.
Harry, Molly und Buster hielten an Doombies Bett Wache, als das Kind erschöpft für immer die Augen schloß. Buster, der Ex-Boxer, weinte, als würde sein Herz brechen.
Zu Austins Zeit war das Reisen vielleicht langsamer, dafür aber einfach gewesen, dachte Harry, als der Zug durch das offene Land in Richtung Ipswich ratterte. Wenn sein Vater nach Brisbane wollte, hatte er einfach sein Pferd gesattelt und war losgeritten. Er übernachtete ein paarmal auf anderen Farmen, wo man den Besucher herzlich willkommen hieß. Diese Zwischenstopps boten reichlich Gelegenheit zum Plaudern und für Fachgespräche über Wetter, Wolle und Pferde. Dann brach das Zeitalter der Eisenbahnen an. Die erste Strecke verlief zwischen Brisbane und Ipswich, später wurde sie bis Toowoomba ausgebaut. Niemand konnte sich dem Fortschritt entziehen. Austin beklagte sich, man könne vom Zug aus nichts sehen, und Harry war geneigt, ihm zuzustimmen. Er starrte trübsinnig aus dem Fenster. Hoch zu Roß überblickte man das Land, bemerkte sich abzeichnende Wetterwechsel, das nach Trockenheit oder Buschbränden wieder sprießende junge Grün, die scheuen Tiere, das Funkeln der Farben im unscheinbaren Gebüsch. Es gab immer etwas Neues zu entdecken. Er sah seine Mitreisenden an, die ebenso gelangweilt wirkten wie er selbst.
In Ipswich mußte er aussteigen und bis zum Aborigine-Reservat reiten. Später würde er das Tier zurückbringen und wieder den Zug besteigen. Ob er nach Toowoomba oder zurück nach Brisbane reisen würde? Das hing davon ab, welche Antworten ihm der Besuch im Reservat brachte. Würde er Jagga noch dort finden? Er bezweifelte es, da die Kinder schon so oft herumgereicht worden waren; dennoch mußte er es versuchen. Harry fürchtete sich davor, hören zu müssen, man habe Jagga in ein Waisenhaus nach Brisbane gebracht. Es wäre nicht weiter überraschend, immerhin galt der Junge als Waise. Was machte es schon für einen Sinn, ihn zwischen lauter Fremde in ein Reservat zu stecken? Er hatte gehört, daß kein Schwarzer freiwillig dorthin ging, wo man die Aborigines ohne Rücksicht auf Stammes- oder Clanzugehörigkeit zusammenpferchte. Allein schon darin erkannte ein Mann wie Harry, dem die Kultur der Aborigines vertraut war, ungeheure Probleme.
Als er aus dem Zug stieg, war er so niedergeschlagen, daß er am liebsten nach Toowoomba weitergefahren wäre. Dort wartete ein Pferd, das ihn nach Hause bringen würde. Doch welches Zuhause? Tirrabee, wo Connie ihn erwartete? Springfield, wo er Nioka sein Scheitern eingestehen mußte? Der arme Doombie war tot, Bobbo nicht aufzufinden, und Jagga, ihr eigener Sohn, war von Pontius nach Pilatus geschleppt und wie zahllose Leidensgenossen seiner Rasse entwurzelt worden. Wenn Bobbo und Jagga nun auch an Schwindsucht litten? Vielleicht konnte er sie deshalb nicht finden.
Dieser Gedanke verlieh ihm neuen Auftrieb. Es gab noch immer eine Chance, Jagga ausfindig zu machen. Sein Gewissen drängte ihn, diesen letzten Versuch zu unternehmen, so wenig Aussicht auf Erfolg auch bestehen mochte.
Hoffentlich würde er Connie nicht noch länger warten lassen müssen.
Für ein Mietpferd war das Tier, ein kräftiger Brauner, ausgezeichnet und galoppierte schwungvoll auf die Landstraße hinaus. Sicher hatte es selten Gelegenheit dazu, war vermutlich nur bequem dahintrabende Städter gewöhnt. Das Pferd gefiel ihm, er würde sich schwer von ihm trennen.
»Tut mir leid, Kumpel, ich würde dich gern behalten, aber was auch geschieht, ich muß wieder in den verfluchten Zug steigen.«
Er hielt sich an die Wegbeschreibung, die man ihm in den Stallungen von Ipswich gegeben hatte, und erreichte bald das offene Tor des Reservats. Es gab keine Hinweisschilder in dieser baumlosen Ansammlung von Hütten und Schuppen, doch am Tor stand ein ordentliches Holzgebäude, das offiziell wirkte. Es war eine exakte Kopie der Polizeiwachen des Landes. Einige Stufen führten auf eine schmale Veranda, von dort aus gelangte man zu einem Schalter im Innenraum.
Vor dem Eingang lungerten ein paar seltsam gekleidete Aborigines herum, die ihn neugierig betrachteten. Er nickte ihnen zu. »Wo ist der Boß?«
Sie deuteten die Stufen hinauf. Harry achtete nicht auf das Kind, das in einem verschmutzten weißen Hemd um die Ecke kam, stehenblieb und ihn anstarrte, wobei es sich am Kopf kratzte.
Jagga überprüfte jeden Neuankömmling, da er noch immer Ausschau nach seinen Freunden hielt. Er wußte, dieser große weiße Mann hatte etwas zu bedeuten, auch wenn er keine Kinder bei sich hatte. Er wirkte irgendwie vertraut. Der Junge rieb verlegen einen Fuß am anderen Bein, als suche er in seinen zusammengewürfelten Erinnerungen nach einem Anhaltspunkt. Dieser Mann war ein weißer Boß, soviel wußte er. Er kam von einem Ort, den er kannte, einem guten Ort.
Jagga folgte Harry die Treppe hinauf und spähte in den Raum, wo der Boß mit dem Leiter des Reservats sprach, der hinter seinem Schalter stand. Er konnte nicht genau hören, was sie sagten, doch dann fiel sein Name. Der weiße Boß hatte seinen Namen ausgesprochen, nicht Jack, sondern Jagga! Er schlich sich vorsichtig hinein und zupfte kaum merklich an der Jacke des Mannes.
Der Lagerboß brach in dröhnendes Gelächter aus. »Sie suchen nach Jagga, Kumpel? Der kleine Bengel kriegt doch alles mit! Er hängt gerade an Ihren Rockschößen!«
Überrascht drehte Harry sich um. Er hatte sich bereits so sehr daran gewöhnt, Fehlschläge hinnehmen zu müssen, daß er nun mißtrauisch wurde. Er erkannte das verdreckte Kind nicht wieder. Wie auch? Victor und Rupe kannten Jagga besser als er, sie hatten schließlich nicht jahrelang in Brisbane gelebt.
»Bist du Jagga?« fragte er.
»Genau, Boß, ich Jagga.«
Er konnte jeder sein. Aborigines waren bekannt dafür, daß sie Weißen genau das erzählten, was diese hören wollten.
An der Wand stand eine Holzbank. Harry setzte sich, um mit dem Kind zu sprechen. Auf keinen Fall durfte er den falschen Jungen mitbringen.
»Woher kommst du?« fragte er.
»Von da draußen.«
»Wo ist da draußen?«
Das Kind schüttelte verwirrt den Kopf.
»Wie heißt deine Mumma?«
Auch das schien ein Problem zu sein. »Maggie?« fragte der Junge eifrig.
»Das ist die Frau, die hier nach ihm sieht«, warf der Leiter ein.
»Springfield. Kennst du diesen Ort?« Harry mußte aufpassen, daß er dem Kleinen keine Stichworte lieferte.
»Ja, guter Ort.«
»Was für ein Ort?«
Auch diese Frage brachte ihn nicht weiter, denn der Junge wußte darauf nichts zu erwidern.
»Erinnerst du dich an Mrs. Smith?«
»Hübsche Lady? Kommt mich holen?«
Noch immer war sich Harry nicht sicher. War dies wirklich Niokas Sohn? Wenn er nun vorgab, er heiße Jagga, nur um ihm zu gefallen? Er hätte doch mit dem Ehepaar Smith sprechen sollen, um zu erfahren, was sie über die Herkunft des Kindes wußten, denn so gab es keinerlei Beweis, daß dies der gesuchte Junge war.
Er beschloß, ihn auf die Probe zu stellen.
»Heißt du Billy?«
Der Kleine kniff die Augen zusammen. »Nicht Billy, Mister.«
»Vielleicht Bobbo?«
Die Augen des Jungen leuchteten aufgeregt. »Sie haben Bobbo, Mister? Bringen Bobbo her? Sagen ihm, Jagga gut auf ihn aufpassen.«
»Wer ist Bobbo?«
»Mein Freund. Doombie auch kommen?«
Harry stieß einen Seufzer aus und schloß das Kind in die Arme. »Du erinnerst dich an Springfield, nicht wahr? An deine Mumma Nioka? Sie hat mich zu dir geschickt. Sie wartet auf dich. Ich bringe dich nach Hause.«
»Nioka. Bringst du Mumma auch her?«
»Nein, ich bringe dich zu ihr.« Harry war so erleichtert, daß er sich plötzlich emotional ganz ausgelaugt fühlte. Er sah den Leiter an, als erwarte er eine ähnliche Reaktion bei ihm zu sehen, doch dessen Gesicht wirkte eher abweisend.
»Ich dachte, Sie wären nur ein Besucher. Setzen Sie ihm bloß keine Flausen in den Kopf! Er kann hier nicht weg. Der Staat ist sein Vormund. Wenn sie erst einmal hier sind, bleiben sie auch hier.«
»Sie verstehen mich nicht. Das alles war ein Fehler, er sollte gar nicht hierherkommen. Das Kind ist auf der Springfield-Farm zu Hause.«
»Nie gehört.«
»Sie liegt weit weg von hier in den Western Downs. Das Kind gehört dorthin, und ich muß es seiner Mutter zurückbringen.«
»Sie werden nichts dergleichen tun. Nicht ohne richterliche Erlaubnis. So lautet das Gesetz.«
Harry argumentierte, bat, spielte mit dem Gedanken an einen Bestechungsversuch, doch dann kam ihm eine bessere Idee. »Ihnen scheint nicht bewußt zu sein, wer ich bin. Mein Name ist Harry Broderick, und ich bin Parlamentsabgeordneter für die Regierungspartei. Ich bezweifle, daß der Premierminister sich freuen wird zu hören, daß man das Wort eines Landrichters über das eines Abgeordneten stellt. Unterzeichnen Sie sofort den Entlassungsschein für dieses Kind!«
Die Notlüge tat ihre Wirkung. Der Papierkram nahm nur wenige Minuten in Anspruch. Das Kind hatte keinen persönlichen Besitz, so daß Harry einfach mit ihm zum Tor hinausmarschieren und sein Pferd besteigen konnte. Keiner von ihnen blickte zurück.
Als der Braune die lange, sandige Straße entlangtrabte, fragte Jagga verwirrt: »Wo gehen jetzt?«
»Bist du jemals mit der Eisenbahn gefahren?«
»Nein.« Die dunklen Augen leuchteten ehrfürchtig auf. »Echter Zug?«
»Ja. Damit fahren wir zu deiner Mumma.«
Nach der aufregenden Zugfahrt folgte der mühseligere Teil der Reise. Harry holte sein Pferd ab und ritt mit Jagga los. Er band den Jungen mit seinem Gürtel am Sattel fest für den Fall, daß dieser einschlafen sollte. Er ritt vorsichtig und dehnte die Reise auf mehrere Tage aus, wobei er in Häusern von Freunden übernachtete.
Das Kind war ein Plappermaul, doch was es sagte, wirkte zusammenhanglos, konfus und verwegen zugleich. Traurig begriff Harry, daß dies auf den Überlebenstrieb in einer verstörenden Welt zurückzuführen war. Er beschäftige den Jungen mit dem Zählen von Kookaburras, Elstern oder Pferden. Nach den Ruhepausen deutete er auf Pflanzen, Bäume oder Blumen, nannte die englischen Namen und forderte Jagga auf, ihm den entsprechenden Aborigine-Ausdruck zu sagen. Damit konnte er den zappeligen Jungen wenigstens für ein Weilchen ruhig halten.
Als sie schließlich auf der Straße von Cobbside nach Springfield waren, wurde er sehr still, doch Harry ahnte, daß er das tat, was Kinder am besten können: intensiv und schweigend die Welt beobachten. Jagga hatte einen wachen Verstand. Kannte er diese Straße? Erinnerte sie ihn an seine seltsame Abreise? Glaubte er wirklich, daß er zu seiner Mutter gebracht wurde, oder bereitete er sich innerlich auf eine erneute Enttäuschung vor?
In Harrys Augen sprachen der trockene Busch, das hohle Krächzen der Mönchsvögel und die dunklen Augen der wachsamen Krähen von Qual und Angst, als wüßten sie um das Geheimnis, als wiege der Verlust zweier Buschkinder auch für sie unendlich schwer.
Im Dunkeln ritten sie an den hohen Fichten vorbei, auf die Lichter des Hauses zu. Jagga lehnte schlafend an Harrys Brust. Er traute sich nicht, den Jungen zu wecken und ihm zu sagen, daß er zu Hause angekommen sei.
Alle waren verblüfft, als er mit Jagga auf dem Arm ins Haus trat, doch er grinste nur und ging weiter in die Küche. Nioka war sicher irgendwo dort draußen.
Hannah rief nach ihr, und bald stand sie wie betäubt in der Tür, als könne sie ihren Augen nicht trauen. Doch da war er, ihr Junge, Jagga, der sich schläfrig in Harrys Armen bewegte, und hinter ihm drängten sich alle anderen in die Küche. Missus Louisa weinte. Dann ging Nioka lautlos über den Steinboden, vorbei an dem großen Küchentisch, und nahm tränenüberströmt ihren Sohn entgegen.
Als Harry später mit ihr draußen saß, stellte sie ihm die unvermeidliche Frage: »Wo sind andere Kinder?«
Nachdem sie alles gehört hatte, gab sie sich voller Verzweiflung selbst die Schuld an allem. Schluchzte, sie hätte an jenem Tag im Lager bleiben sollen, anstatt die Kinder den zaghaften Frauen zu überlassen, die sich nicht gegen die Entführung wehrten. Sie war entsetzt, daß Doombie so weit entfernt von seiner Familie und seinem Traumort gestorben war, und fürchtete, sein kleiner Geist werde nie den Heimweg finden. Sie hatte Angst, daß auch Bobbo gestorben sein könnte. Harry bemühte sich vergeblich, sie davon zu überzeugen, daß ihr Neffe eines Tages ebenso wie Jagga heimkehren würde.
»Meine Tante, die in Brisbane lebt, hat mir versprochen, nach ihm Ausschau zu halten. Sie wird ihn finden.«
Schließlich setzte er sich mit seiner eigenen Familie zusammen und berichtete von der Suche. Er wußte, daß Vorwürfe und Beschuldigungen nichts brachten, da sie aufrichtig entsetzt waren, als sie von Doombies Tod, Bobbos Verschwinden und dem furchtbaren Betrug der Missionare hörten.
»Ich hab’ diesen Schweinehund ja nie gemocht«, erklärte Victor.
Dann sah Harry Victor, Louisa und Charlotte an, die seinen Erzählungen so aufmerksam gelauscht hatten.
»Wo steckt eigentlich Rupe?«
Charlotte rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her.
»Das ist wieder eine andere Geschichte.«