15. Kapitel

Charlotte fühlte sich ziemlich geschmeichelt. Sie hatte zwei Briefe von Mr. Winters, ihrem neuen Anwalt, erhalten. Beide waren geschäftlicher Natur, doch der zweite endete mit der persönlichen Bemerkung, er hoffe, sie bald wieder in Brisbane begrüßen zu können. Die Stadt entwickle sich rasend schnell, es gäbe viel Neues zu sehen.

Einerseits errötete sie angesichts seines forschen Stils, andererseits versuchte sie, ihn vor sich selbst zu verteidigen. Warum sollte er sich nicht ein wenig forsch geben? Die meisten Leute verhielten sich ohnehin viel zu steif. Außerdem war er eine stattliche Erscheinung und, das hatte sie bereits über ihn in Erfahrung gebracht, verwitwet. Mr. Winters verstand besser als jeder andere, wie einsam sich eine Witwe selbst innerhalb ihrer Familie fühlen mußte. Schon als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte sie ihn überraschend attraktiv gefunden, diese Tatsache jedoch vor Fern verborgen, um nicht zur Zielscheibe von Neckereien zu werden. Auch wußte sie nur allzu gut, daß sie keine Schönheit war; weshalb also sollte sich ein so charmanter Mann für sie interessieren?

Dennoch lächelte sie, als sie ihm nun antwortete. Der Brief fiel länger aus als geplant. Sie beschrieb ihm das betriebsame Leben auf der Farm zur Zeit der Schur, wenn es im berühmten Wollschuppen vor Scherern nur so wimmelte. Es war schön, einen Briefpartner zu haben, selbst wenn die Korrespondenz hauptsächlich aus höflichen Nichtigkeiten bestand. Sie hob seine Briefe in ihrem Zimmer auf, um keine Neugier zu wecken.

Ihre Stimmung hatte sich dadurch soweit gebessert, daß sie Louisa bei Tisch nunmehr mit einem milderen Blick betrachten konnte. Meist aßen die beiden Frauen allein zu Mittag, die Männer stellten sich nur ein, wenn sie gerade in der Nähe des Hauses arbeiteten. Normalerweise nahmen sie die Mahlzeit während der Schur zusammen mit den Arbeitern ein.

»Ich habe mir gedacht, wir sollten öfter mal aus Springfield herauskommen. Mir erscheint es nicht richtig, daß du die ganze Zeit praktisch auf der Farm begraben bist. Das gilt im übrigen auch für mich selbst.«

Louisa sah sie erstaunt an. »Wie denn? Victor tut, als sei er hier angekettet. Er meint immer, alles würde zusammenbrechen, sobald er Springfield auch nur für einen Tag verließe.«

»Ich weiß, er arbeitet sehr hart. Aber Rupe ist doch auch noch da. Ihr solltet euch ein bißchen Zeit nehmen und ein paar Wochen nach Brisbane oder ans Meer fahren.«

»Können wir uns das denn leisten?«

»Du lieber Himmel. Unten an der Südküste kann man für ein paar Pfund ein Cottage mieten. In Brisbane könntet ihr bei Fern unterkommen. Es liegt ganz bei euch. Austin hat sich immer frei genommen, wenn ihm danach war. Warum also nicht auch Victor? Und solange du hier bist, brauche ich ja nicht ständig anwesend zu sein. Ich würde nämlich gerne mehr Zeit in Brisbane verbringen. Du mußt wissen, diese Stadt entwickelt sich rasend schnell. Es gibt so viel zu sehen. Du solltest wirklich im Sommer an die See und im Winter nach Brisbane fahren.«

Ihre Schwiegertochter schluckte. Sie schob Charlotte eine Schüssel hinüber. »Möchtest du vielleicht etwas von der Bananencreme?«

»Danke, und ein bißchen Sahne dazu. Ich wäre gern öfter in Urlaub gefahren, als Austin noch lebte und Geld kein Thema war. Wir hätten überallhin fahren können, doch er wollte immer nur nach Brisbane zu seinen Freunden. Mach jetzt nicht denselben Fehler wie ich, Louisa. In ein paar Jahren haben wir die Durststrecke hinter uns, und die Springfield Pastoral Company wird erfolgreicher sein, als Springfield allein es jemals gewesen ist. Die Grundstückspreise schießen in astronomische Höhen.«

Louisa traute sich angesichts dieses ungewohnten Wohlwollens kaum, den Mund aufzumachen, fühlte sich andererseits aber auch bemüßigt, irgendeine Reaktion zeigen. »Ich hoffe, wir können Victor davon überzeugen«, murmelte sie dankbar.

 

Charlottes jüngster Sohn tobte, weil sie seine Pläne durchkreuzt hatte. Victor war ein Schwächling, hatte immer nach Austins Pfeife getanzt und ließ sich jetzt von seiner Mutter unterbuttern. Wie konnte sie es wagen, ihm zu sagen, was er zu tun und zu lassen hatte? Für wen hielt sie sich eigentlich? Sie hatte seinen Bruder doch tatsächlich dazu gebracht, sein Versprechen zu brechen und die Zusage eines jährlichen Unterhalts zurückzunehmen. Dabei wurde er hier doch gar nicht gebraucht, spielte ohnehin nur die zweite Geige und würde diese Rolle bis ans Ende seines Lebens nicht abschütteln können. Und wenn er nun heiratete? Wahrscheinlich würden sie ihm in ihrer unendlichen Güte ein Zimmer in diesem Wespennest anbieten.

Als wenn er sich darauf einlassen würde! Rupe dachte daran, sein Versprechen ebenfalls zurückzunehmen. Immerhin war er für seine Mutter eingetreten, hatte ihr einen Anteil an der Firma angeboten, und was tat sie im Gegenzug – zeigte sich dermaßen undankbar! Vielleicht sollte er den Anwälten mitteilen, daß er es sich anders überlegt habe, Victors Plan für die Springfield Pastoral Company über den Haufen werfen. Doch er wußte auch, daß dies finanziell gesehen ein schwerer Fehler wäre. Falls er Charlotte in dieser Situation ausschloß, würde alles wieder von vorn beginnen. Im Grunde hatte er die ganze Zeit über gewußt, daß sie nicht bluffte, auch wenn er seinerzeit das Gegenteil behauptet hatte.

Die unterschiedlichsten Argumente fuhren in seinem Kopf Karussell, während er in dem stinkenden Wollschuppen arbeitete, Vliese aufsammelte und in die Lattenkisten warf, die er hinter den Scherern herschob. In diesem System war er kein bißchen wichtiger als Spinner, der vor ihm arbeitete. Rupe konnte nicht scheren, hatte es auch nie lernen wollen. Victor beherrschte die Technik, überließ die Arbeit aber lieber den Profis. Ihn schien es nicht zu stören, daß er im Wollschuppen nicht mehr galt als ein gewöhnlicher Arbeiter, ein Handlanger. Ihm lag allein das Wohl des Familienbetriebs am Herzen lag.

»Ihr könnt mich mal«, murmelte Rupe vor sich hin. Aus ihm würden sie keinen Viehhüter machen. Ein halbgeschorenes Schaf rutschte dem Scherer weg, und Rupe trat es boshaft zurück an seinen Platz.

»He, immer mit der Ruhe, Kumpel!« protestierte der Scherer, doch Rupe beachtete ihn nicht weiter und ging zum Rauchen nach draußen.

Victors Idee war wirklich brillant. Alle markierten Abschnitte von Springfield waren groß genug, um als Schafweiden oder kleine, unabhängige Farmen gelten zu können. Sein Bruder hatte entschieden, sie umzutaufen, und Louisa und Charlotte fiel die Ehre zu, neue Namen auszuwählen. Sie benannten sie nach Bäumen: Black Wattle Station, Needlewood Station, Mudgee Station, Stringybark und so weiter. Seinetwegen hätten sie sie ebensogut durchnumerieren können, doch es klang eindrucksvoller, wenn sie unter diesen Namen als Farmen im Besitz der Springfield Pastoral Company aufgeführt wurden.

Die Regierung hatte inzwischen ein Mittel gefunden, um die Umgehung der Landgesetze durch den Einsatz von Strohmännern zu verhindern: Administrative Befugnisse wurden nun nicht mehr vom Landministerium in Brisbane wahrgenommen, sondern einem örtlichen Landbeauftragten übertragen, der die Verhältnisse kannte. Victor war darüber hocherfreut, da es sich bei diesem um einen alten Freund seines Vaters handelte, der frühzeitig andeutete, er werde im Falle der Brodericks ein Auge zudrücken.

Ein weiteres Problem waren die von der Regierung geforderten Verbesserungen auf diesen neuen Farmen. Sie mußten innerhalb einer bestimmten Frist den Prüfern vorgeführt werden zum Beweis, daß das Land sich nicht in Händen von Bodenspekulanten befand. Oftmals bedeutete dies, daß Wohnhäuser errichtet und Ackerbau betrieben werden mußte, doch Victor hatte entdeckt, daß sich diese Maßnahmen durch strategische Einzäunungen und das Anlegen neuer Dämme umgehen ließen.

Rupe hörte sich Victors Erläuterungen über die neue Verfahrensweise beim Landerwerb an: eigens dazu bevollmächtigte Vermesser, schriftliche Eingaben an die Gerichte, Anträge auf Bescheinigungen darüber, daß den Kaufbedingungen Genüge getan worden war, die beim örtlichen Grundbuchamt eingereicht werden und dreimal in der Lokalzeitung veröffentlicht werden mußten – das alles war ihm viel zu kompliziert. Er hielt es für klüger, Victor den Aufbau des neuen Broderick-Imperiums in Form der Springfield Pastoral Company zu überlassen.

Wenn er ihnen nun Steine in den Weg legte, indem er Charlotte den Eintritt in die Firma verwehrte, würde er den Ast absägen, auf dem er saß, und die Entstehung eines großartigen Familienunternehmens vereiteln.

Rupe trat die Zigarette aus. Er würde alles in Victors Hände legen; sein Bruder hatte die Regierungsvorschriften so gründlich studiert und auf Schlupflöcher abgeklopft, daß selbst Harry es nicht besser gekonnt hätte.

Der war immerhin aus dem Spiel, ein Teilhaber weniger. Rupe grinste. Der alte Harry war so klug gewesen, Connie Walker zu heiraten, und hatte dann doch alles verpatzt. Wenn er seine Trümpfe richtig ausgespielt hätte, würde er jetzt den Besitz der Walkers verwalten und nicht diese erbärmliche Tirrabee-Farm.

Dann fielen ihm seine eigenen Sorgen wieder ein, und seine Wut auf die Art und Weise, in der man ihn behandelte, kam wieder hoch. Niemand konnte ihn zwingen, in der Einöde zu leben; doch für die Veränderung seines Lebensstils würde er Geld brauchen und er befürchtete, daß ihm die Familie seinen rechtmäßigen Anteil an den Gewinnen verweigern würde.

Zornig stampfte er von den Schuppen weg und sah die lange Auffahrt hinunter, die auf die Hauptstraße führte. In die Freiheit.

Dann werde ich sie eben verklagen! Einen weiteren Familienskandal können sie sich jetzt kaum leisten. Und einen Prozeß würde ich garantiert gewinnen, weil es kein Gesetz gibt, das einen Teilhaber dazu verpflichtet, auf seinem Besitz auch zu arbeiten. Charlotte tut dies schließlich ebensowenig. Dieses Argument habe ich immer noch in der Hinterhand. Dennoch, selbst wenn das Gericht seine Familie letztendlich zwang, ihn zu unterhalten, würde er in der Zwischenzeit von irgend etwas leben müssen. Darüber mußte er nachdenken. Vermutlich konnte er sich etwas von Freunden leihen, doch Schulden wollten irgendwann zurückgezahlt sein.

Was sollte er also tun? Die Aussicht, in Brisbane von Darlehen zu leben, war nicht sonderlich verlockend und würde ihm kaum das Leben bieten, das er sich erträumte. Er würde seine Pläne noch genauer durchdenken müssen.

Dann kam ihm ein Geistesblitz. Cleo! Mit etwas Glück wohnte sie noch bei ihrer Tante in Brisbane. Sollte er die Beziehung zu ihr nicht wieder aufnehmen? Sie hatte ihn einmal geliebt und sogar heiraten wollen, warum sollte sich daran etwas geändert haben? Wie romantisch, wenn er sie höchstpersönlich und überraschend aufsuchte! Er würde wie ein echter Kavalier vor ihrer Tür stehen und sich nicht mehr heimlich mit ihr treffen müssen; er konnte mit ihr ausgehen, ihr süße Nichtigkeiten ins Ohr flüstern und erneut um ihre Hand bitten. Es würde klappen. Er könnte ihr vorschlagen, die Plantage im Norden zu besuchen, wo ihr Vater lebte, um dort offiziell um ihre Hand anzuhalten. Ein paar Monate bei ihrer Familie würden ihn von den Sorgen um Kost und Logis befreien. Zudem hatte er schon immer den hohen Norden mit seinen tropischen Küstenstädten sehen wollen, das Land der Palmen und der samtig-blauen See. Je länger er darüber nachdachte, desto aufgeregter wurde er. Im Norden des Landes mußte es jetzt himmlisch sein, vor allem im Vergleich zu dieser sommerlichen Staubhölle. Vielleicht würde er sogar ganz dorthin ziehen. Man könnte Cleos Vater sicher überreden, ihnen ein Haus zu kaufen, vorzugsweise an einem der sonnigen Strände, so daß er seine Tochter immer in Reichweite hätte. Er war sicher traurig, daß sie zur Zeit so weit von ihm entfernt lebte.

Cleo hatte gesagt, Cairns sei der nächstgelegene Ort. Nach dem, was Rupe über das zwanglose Leben in den Städten dort oben gehört hatte, war es genau der richtige Ort für einen Gentleman, der von seinem Einkommen lebte. Später könnten sie auf Reisen gehen – oder er allein, falls sie mit den Kindern zu Hause bleiben mußte –, doch in diesem herrlichen Klima spielte der Winter ohnehin keine Rolle. Ebensowenig die Schafe und seine lausige Familie. Sich einfach im tropischen Luxus zurücklehnen und das Leben genießen, stellte er sich himmlisch vor.

Er war so fasziniert von seinem Plan, daß er gar nicht mehr daran dachte, in den Schuppen zurückzukehren. Nur der Mangel an Bargeld hielt ihn noch davon ab, seinen Plan auf der Stelle in die Tat umzusetzen. Vielleicht gab es ja eine bessere Lösung als das demütigende Borgen bei Freunden. Vielleicht …

 

»Wo ist Rupe?« fragte Charlotte, als sie sich zum Essen hinsetzten. »Er erscheint nie pünktlich zu den Mahlzeiten. Es ist einfach nicht fair, Hannah so lange warten zu lassen. Victor, du solltest mal in Ruhe mit ihm reden. Ich habe es mir ein wenig mit ihm verscherzt.«

»In Ruhe mit ihm reden? Ich drehe ihm höchstpersönlich den Hals um. Er hat sich heute nachmittag einfach aus dem Staub gemacht, lange vor Feierabend. Dabei weiß er, daß ich jede Hilfe in den Schuppen bitter nötig habe. Er ist so ein verdammter Faulenzer.«

Sie begannen zu essen, doch Rupe tauchte noch immer nicht auf. Sicher hat er sich nach der Arbeit hingelegt, dachte Charlotte und schickte ein Hausmädchen hinauf, um ihn zu wecken.

Es kam mit der Nachricht zurück, Mr. Rupe sei nicht in seinem Zimmer. Victor nickte. »Ich kann mir schon denken, wo er steckt. Bei Jock wird heute abend getanzt. Viele unserer Jungs und die Scherer sind hingegangen.«

Charlotte seufzte. »Er hätte wenigstens Bescheid sagen können. Warum bist du mit Louisa nicht auch hingefahren?«

»Weil wir auf Ada Crossleys schwarzer Liste stehen«, antwortete Louisa.

»Du lieber Himmel, ihr solltet sie gar nicht beachten. Manchmal sitzt sie auf dem hohen Roß, aber sie meint es gut.«

»Das war mir noch gar nicht aufgefallen«, murmelte ihre Schwiegertochter, zwang sich jedoch ein Lächeln ab. Überrascht bemerkte Victor, daß sich die beiden Frauen an diesem Abend erstaunlich gut verstanden. Am besten, er sagte nichts dazu. Also erging er sich in einem begeisterten Bericht über die Arbeit, die sie an diesem Tag geschafft hatten, an dem die Schur glatt verlaufen war und das Wetter sich gnädig gezeigt hatte.

»Trotzdem vermisse ich Jack Ballard. Jetzt muß ich überall zugleich sein und sie ganz allein auf Trab halten. Es war ein Fehler, ihn Harry ausgerechnet um diese Zeit auszuleihen, aber was blieb mir übrig?«

Seine Frau lächelte. »Du hast das Richtige getan. Wir waren Harry doch so dankbar, daß wir ihm auch die Hälfte aller Viehhüter überlassen hätten, wenn er darum gebeten hätte. Jack kommt sicher bald wieder, Harry hat doch gesagt, er wolle ihn uns nur kurz entführen. Sicher braucht er ihn, weil er nicht so viel Erfahrung in der Leitung einer Farm hat wie du.«

»Mag sein.« Victor warf einen nachsichtigen Blick auf Rupes leeren Stuhl. »Sag Hannah, sie soll mir die restlichen Koteletts auch noch geben. Rupe ist ja anscheinend auf Wanderschaft gegangen.«

In der Morgendämmerung saß Victor mit einem Becher Tee bei Hannah in der Küche, während sie ihm Würstchen und Eier briet. Ein Vertreter der Scherer trat in die Tür. »Wir haben einen Ausfall, Boß. Einer unserer Scherer, Les Bragg.«

»Was ist passiert?«

»War gestern abend beim Tanzen besoffen. Ist hingefallen und hat sich das Handgelenk gebrochen.«

»Gut, schick ihn zu mir, ich werde ihn auszahlen. Sind alle anderen auf dem Damm?«

Der Scherer lachte. »Das vielleicht nicht gerade, aber sie werden arbeiten.«

»Gut.«

Victor genoß das Frühstück. Es war seine liebste Mahlzeit des Tages, weil er dabei nicht reden mußte. Hannah hatte Verständnis und ließ ihn in Ruhe sein Tagewerk durchdenken. Mit militärischer Präzision berechnete er, wie viele Schafe seine Viehhüter maximal hereintreiben konnten, ohne die Pferche zu überfüllen oder die Scherer warten zu lassen.

Der Morgenhimmel war rosig überhaucht, ein gutes Zeichen, daß es die geschorenen Tiere warm genug haben würden. Victor trank eine zweite Tasse Tee, bedankte sich bei Hannah und ging in sein Büro, um Les Braggs Lohn abzuzählen. Er wollte ihm den Umschlag zu den Schuppen bringen, anstatt zu warten, bis er von selbst zum Haus kam. Da bemerkte er, daß Rupe noch immer nicht aufgetaucht war.

»Und wenn du einen Riesenkater hast, du arbeitest wie alle anderen, mein Freund«, murmelte er zwischen den Zähnen. Doch als er die Tür zu Rupes Zimmer öffnete, entdeckte er, daß das Bett unberührt war. Vermutlich hatte er bei Jock geschlafen.

Verärgert kehrte Victor in sein Büro zurück. Auf jeden Fall fiel Rupe für diesen Tag aus. Sollte er deswegen mit Charlotte reden? Es war schlimmer, die Launen seines Bruders zu erdulden, als ihn seiner Wege ziehen zu lassen.

Er holte das Lohnbuch heraus, berechnete die Anzahl von Braggs Arbeitstagen und öffnete den Safe, um die Kassette herauszunehmen, die das für diesen Zweck bestimmte Geld enthielt. Alle Scherer mußten in bar entlohnt werden.

Fassungslos starrte er ins Innere des Safes, der gewöhnlich zwei Hauptbücher, Papiere und eine stählerne Geldkassette enthielt. Letztere fehlte.

Ungläubig durchstöberte er den Safe, obwohl ihm klar war, daß die Kassette kaum unter den wenigen Papieren verborgen sein konnte.

Schließlich gab er auf und ließ sich in einen Sessel fallen. »Man hat uns ausgeraubt!« Verwirrt sah er sich im Zimmer um. In dieser Kassette waren mehrere hundert Pfund gewesen, der Lohn für die Scherer und eine Reserve von ungefähr fünfzig Pfund.

Er seufzte erleichtert, als er die Kassette auf seinem Schreibtisch entdeckte.

Verlegen stand er auf. »Ich muß sie selbst hier draußen vergessen haben. Wie dumm von mir.« Er schwor sich auf der Stelle, nie wieder so nachlässig zu sein.

Doch schon folgte der nächste Schock. Die Kassette war leer. Wieder mußte er sich setzen. Wer war zu so etwas fähig? Seine Leute bestimmt nicht. Vielleicht einer der Scherer? Einige von ihnen waren der Familie nur flüchtig bekannt, andere sogar gänzlich fremd hier. Würde einer von ihnen so dreist sein, ins Haus zu marschieren und Geld zu stehlen? Victors Büro führte auf einen kleinen Hof hinaus, von dem aus man an der Küche vorbei auf den Hinterhof gelangte. Konnte sich ein Fremder nachts an den Hunden vorbeischleichen, ohne daß diese anschlugen? Wohl kaum. Victor starrte auf die Fenster. Wohlgemerkt, in diesem Raum gab es nicht einmal Verandatüren.

Und welcher Dieb würde sich die Mühe machen, das Fenster hinter sich zu schließen? Ansonsten gelangte man nur durchs Haus in sein Büro.

Mit langsamem Schritt und wachsender Wut verließ er sein Büro und ging die Treppe hinauf. Bevor er Alarm schlug und jemanden beschuldigte, mußte er alles noch einmal überprüfen. Niemand sollte von seinem Verdacht erfahren, solange dieser – hoffentlich – unbegründet war. Rupe war noch immer nicht in seinem Zimmer. Victor sah in der Kommode und dem Kleiderschrank nach. Er kannte die Garderobe seines Bruders genau; alle guten Stücke daraus waren verschwunden. Nur Arbeitsstiefel, Arbeitshemden, ausgebeulte Hosen und Buschhüte waren übriggeblieben. Auf dem Toilettentisch fehlte das silberne Frisierset. Victor trat an den Waschtisch. Kein Rasierzeug, nicht einmal Zahnbürste oder Zahncreme.

Sein Bruder hatte sich tatsächlich davongemacht, und eine große Menge Bargeld war gestohlen worden. Ein zufälliges Zusammentreffen von Umständen? Wohl kaum.

»Das glaube ich nicht!« keuchte Charlotte. »Wie kannst du so etwas nur denken? Es wird einer der Scherer gewesen sein. Geh runter und verlange, daß er das Geld zurückgibt, sonst rufen wir die Polizei. Wenn du es nicht machst, tue ich es.«

Sie schwang die Beine aus dem Bett, wobei ihr Nachthemd bis zu den Knien hochrutschte. »Gib mir die Hand. Nicht du, Victor, ich meine Louisa. Dieses verdammte Nachthemd bleibt immer am Gips hängen, das fühlt sich an wie eine Zwangsjacke. Ich werde keines mehr tragen, bis der Gips ab ist.«

Louisa grinste. »Ich werde alle Besucher vorwarnen.«

Victor zog sich taktvoll zurück, hatte aber keineswegs vor, einen der Scherer zu beschuldigen. Sicher, er wollte auch nicht an Rupes Schuld glauben, aber alles deutete auf ihn. Immerhin konnte er ein paar Fragen stellen, ohne Verdacht zu erregen. Also lief er über die Hintertreppe zu den Schuppen.

»War der Safe abgeschlossen?« fragte Charlotte unterdessen ihre Schwiegertochter.

»Das ist er nie, das weißt du doch.«

»Somit wäre das also die erste Lektion«, knurrte Charlotte. »Wenn wir schon einen Safe haben, sollten wir ihn auch richtig benutzen. Schütte mir bitte etwas Wasser in die Waschschüssel. Danach ziehe ich mich sofort an.«

Doch Louisa setzte sich wieder aufs Bett. »Komm, laß dir helfen. Ich wasche dich. Dann fühlst du dich gleich besser.«

Sie stieß einen Seufzer aus. »Viel können wir ja ohnehin nicht tun.«

»Du glaubst doch nicht wirklich, daß Rupe es war.« Charlottes Stimme verhieß Ärger.

Louisa goß Wasser aus dem Porzellankrug in die Schüssel. »Es scheint keine andere Erklärung zu geben. Victor ist furchtbar aufgebracht. Als er zu mir kam, war er kreidebleich. Ich dachte schon, er sei krank. Es dauerte eine Stunde, bis er sich dazu durchringen konnte, dir zu sagen, was passiert ist.«

»Dennoch sollte er keine vorschnellen Schlüsse ziehen.«

»So kannst du es nicht nennen, Charlotte.« Louisa tauchte den Schwamm in das kühle Wasser und drückte ihn aus.

Sie hielt sich zurück, als sie ihre Schwiegermutter wusch und ihr beim Anziehen half, da sie wußte, daß Charlottes Wut auf Angst begründet war. Sie empfand Mitleid mit ihr. Sie selbst hatte in dem Moment, als Victor ihr von dem Vorfall berichtete, gewußt, daß Rupe der Schuldige war, ließ ihn die entsprechenden Schlüsse jedoch selbst ziehen, da sie sich nicht vorwerfen lassen wollte, Rupe gegenüber voreingenommen zu sein. Als er sich endlich entschloß, mit Charlotte darüber zu reden, bestand er darauf, sie als moralische Unterstützung mitzunehmen. Das war auch gut so, denn ihre Schwiegermutter beschuldigte in ihrem Schmerz alle anderen, sogar Victor, nur um die Schuld nicht bei ihrem jüngsten Sohn suchen zu müssen.

»Bist du sicher, daß das Geld weg ist? Vielleicht hat Victor es nur verlegt. Er ist manchmal ganz schön geistesabwesend.«

»Wir haben das ganze Büro auf den Kopf gestellt, um diese Möglichkeit auszuräumen. Die Kassette stand offen auf dem Tisch.«

»Aber deswegen gleich Rupe als den Schuldigen hinzustellen … Er ist gestern nur zum Tanzen gegangen und kommt bestimmt bald nach Hause.«

»Und zu diesem Zweck hat er alle seine Sachen mitgenommen? Wenn du fertig bist, können wir ja hinuntergehen.«

Charlotte zupfte nervös an ihren Haaren. »Ich gehe nirgendwohin. Ich will hier auf Victor warten. Falls wir etwas zu besprechen haben, sollten wir es hier tun und nicht in Gegenwart der Mädchen. Sie dürfen nichts merken.«

»Hannah wird mißtrauisch, wenn wir nicht zum Frühstück erscheinen.«

»Was interessiert mich das Frühstück?« erwiderte Charlotte entgegen ihrer eigenen Logik.

Louisa seufzte. »Ich muß jedenfalls Teddy anziehen. Soll ich dir etwas zu essen raufschicken?«

»Ich habe keinen Hunger. Ich warte hier!«

 

Nachdem sie für Teddys Essen gesorgt und bei Hannah eine lahme Entschuldigung dafür vorgebracht hatte, daß weder sie noch Charlotte frühstücken wollten, sprach sie mit Nioka.

»Würdest du bitte mit Teddy spazieren gehen? Ich habe heute morgen zu tun.«

Der Junge freute sich, da er Nioka liebte und ihr wie ein Hund überallhin folgte.

»Können wir zu den Schafen gehen?« fragte er. Nioka nickte. Louisa wollte die schwarze Frau schon bitten, vorsichtig zu sein, hielt sich aber gerade noch rechtzeitig zurück. Nioka war sicherlich die letzte, die ihren Sohn in Gefahr bringen würde.

Als sie gegangen waren, setzte sie sich mit einer Tasse Tee auf die hintere Veranda. Was mochte schlimmer sein – einen Dieb in der Familie zu wissen oder unter den Männern?

Da sah sie Victor in Begleitung eines Scherers. Er nickte ihr zu und ging mit dem Arbeiter ins Büro. Was hatte das zu bedeuten? Hatte sich das Problem bereits gelöst? Victor wirkte nicht im geringsten sorgenvoll.

Louisa entschloß sich, Charlotte ein Tablett nach oben zu bringen. Die Ärmste mußte mit den Nerven völlig am Ende sein.

Unterwegs traf sie Victor, der ihr die Tür aufhielt.

»Was ist geschehen? Habt ihr das Geld gefunden?« fragte sie ihn.

Er zuckte die Achseln, schob sie in Charlottes Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

»Am wichtigsten ist das Bargeld. Ich habe gerade einen der Männer, denjenigen, der sich das Handgelenk gebrochen hat, als Boten zur Bank geschickt. Wir müssen die Scherer bezahlen. Ich habe dem Burschen einfach gesagt, wir hätten die Kosten unterschätzt.« Er sah die beiden Frauen grimmig an.

Charlotte ging in die Defensive. »Warum hast du das getan? Wieso hast du sie nicht zusammengerufen, von dem Diebstahl in Kenntnis gesetzt und verlangt, daß das Geld zurückgegeben wird?«

»Das war nicht nötig. Rupe hat gepackt und ist verschwunden. Er war gestern abend nicht beim Tanz. Einer der Viehhüter hat gesehen, wie er nachmittags weggeritten ist, und zwar nicht auf einem Arbeitspferd, sondern auf Piper Lad. Was würdest du daraus schließen, Mutter?« fragte er bitter.

»Gestern nachmittag?« wiederholte sie. »Rupe kann ebensogut einen Unfall gehabt haben. Vielleicht liegt er irgendwo da draußen und ist verletzt.«

»Wenn er auf der Straße einen Unfall erlitten hat, wird unser Bote unweigerlich auf ihn stoßen. Wer weiß, vielleicht bekommen wir dann ja auch unser Geld zurück?«

»Sei nicht so sarkastisch!«

»Von wegen sarkastisch. Wenn ich nicht fürchten müßte, daß der Mistkerl einen Vorsprung von achtzehn Stunden hat, wäre ich längst unterwegs. Aber jetzt ist es zu spät. Er ist weg und das Geld mit ihm.«

Charlotte schüttelte hartnäckig den Kopf. »Ich kann es einfach nicht glauben. Es muß eine andere Erklärung geben. So etwas würde Rupe nicht tun.«

»Soll ich deiner Meinung nach also lieber die Polizei rufen?« fragte er leise, doch sie antwortete nicht. Victor nickte.

»Dachte ich mir.«

 

»Was ist das für eine andere Geschichte?« fragte Harry, doch Charlotte wollte mit ihrem Bericht warten, bis sie unter sich wären.

»Laßt uns in den Salon gehen. Kaffee können wir später immer noch trinken.« Sie legte ihre Serviette auf den Tisch, stand auf und verließ als erste das Speisezimmer.

Harry sah ihr verwirrt hinterher und folgte dann den anderen nach nebenan. Charlotte wies Victor an, die Türen zu schließen. Louisa wirkte unnatürlich still, und sein Bruder war vom ersten Moment an schlecht gelaunt gewesen, während seine Mutter kaum auf die Schilderung seiner mühevollen Suche nach den Kindern reagiert hatte. Harry hatte sich seinen Empfang eigentlich etwas anders vorgestellt.

»Erzähl es ihm, Victor.«

»Du hast nach Rupe gefragt, also kann ich es dir auch sagen.«

Er berichtete von dem Diebstahl und dem Verschwinden ihres jüngeren Bruders und lehnte sich dann im Sessel zurück.

Harry stieß einen leisen Pfiff aus. »Wann ist das passiert?«

»Vor zwei Tagen.«

Charlotte beugte sich vor. »Meinst du, es war Rupe? Es hätte jeder sein können. Die Männer sind noch hier, aber einer könnte das Geld gestohlen und versteckt haben, bis die Schur beendet ist. Verstehst du, worauf ich hinauswill?«

Harry sah seine Mutter nachdenklich an. »Mir scheint, der Person, die das Bargeld gestohlen hat, war es völlig egal, ob sie die Aufmerksamkeit auf sich zog.«

»Was soll das heißen?«

»Genau das versuche ich dir die ganze Zeit zu sagen«, warf Victor ein. »Rupe hätte es nicht offensichtlicher machen können.«

Charlotte wandte sich wieder an Harry. »Du meinst, er ist es gewesen? Dein eigener Bruder?«

»Ja.«

»Oh, mein Gott!« Sie lief rot an und tastete im Ärmel nach einem Taschentuch. »Was sollen wir jetzt tun?«

»Was habt ihr denn schon getan?«

»Nichts natürlich. Victor hat einen Boten zur Bank geschickt, um neues Bargeld zu beschaffen, das war alles.«

»Wie kann es dazu gekommen sein? Hattet ihr Streit?«

»Nicht wirklich«, sagte Charlotte, aber Louisa fiel ihr ins Wort.

»Sicher doch. Sie haben sich endlich darauf geeinigt, daß Charlotte ein Drittel das Besitzes erhält, der demnächst den Namen Springfield Pastoral Company tragen wird und alle frei erworbenen Weiden umfaßt.«

»Bin ich froh, das zu hören!«

»Rupe aber wollte weg …«

»Aha«, grinste Harry.

»Er wollte nicht mehr hier leben.«

»Und arbeiten«, knurrte Victor.

»Also hat Victor zugestimmt«, fuhr Louisa fort. »Er sollte jährlich ein Drittel der Einkünfte ausbezahlt bekommen.«

»Großzügig, aber nicht ungewöhnlich«, bemerkte Harry.

»Ihr wolltet ihn bezahlen, damit er wegbleibt.«

»Nicht direkt«, murmelte Victor.

Charlotte ergriff wieder das Wort. »Natürlich wolltet ihr das, aber ich hätte es nicht geduldet, unter gar keinen Umständen. Welches Leben würde ein unerfahrener junger Mann wie Rupe führen, wenn er keinen Finger mehr rühren müßte?«

»Angesichts der Kosten, die der Grundstückserwerb verursacht, gibt es ohnehin nicht viel aufzuteilen«, sagte Harry.

»Darum kümmern wir uns schon. Wir planen die äußeren Weiden zu verkaufen, um die Grenzen übersichtlicher zu gestalten. Dann hätten wir zwar weniger Land, dafür aber einen kompakteren Besitz, der sich mühelos von hier aus verwalten ließe.«

Harry wirkte interessiert. »Eine ausgezeichnete Lösung. Ich hatte mich schon gefragt, wie …«

Charlotte unterbrach ihn. »Darüber könnt ihr auch später noch reden. Was unternehmen wir wegen Rupe?«

»Ich weiß es nicht.«

Victor runzelte die Stirn. »Dann streng dein Hirn an und schlag etwas vor, Harry.«

»Was soll ich dazu schon zu sagen haben? Es ist doch euer Problem. Ich habe nichts mit der Springfield Pastoral Company zu tun, das weißt du ganz genau. Ob es dir nun gefällt oder nicht, Rupe wird eifrig darauf bedacht sein, seinen jährlichen Anteil einzustreichen.«

»Ich ziehe ihm ab, was er sich schon genommen, oder besser gesagt gestohlen hat.«

»Darüber wird er sich im klaren sein. Er ist ja nicht dumm.«

»Harry«, sagte seine Mutter mit ernstem Blick, »ich hatte gehofft, du könntest Rupe suchen. Ihm sagen, daß er heimkehren und das Geld zurückgeben muß …«

»Nein, ich muß nach Hause. Ich war ohnehin schon länger unterwegs als geplant. Ich breche morgen früh auf. Meine Scherer können jeden Tag eintreffen.«

»Ich kann ihn nicht selbst verfolgen, schließlich hast du dir meinen Vorarbeiter genommen.«

»Ach, komm schon, Victor, du würdest es sowieso nicht tun.«

»Also unternehmen wir gar nichts?« fragte Charlotte.

»Nur, wenn ich ihn anzeigen und von der Polizei zurückbringen lassen kann.«

Louisa hatte aufmerksam zugehört. »Darf ich auch mal etwas sagen?«

»Natürlich«, erwiderte ihre Schwiegermutter.

»Wir können Rupe nicht gewaltsam zurückholen, und, ehrlich gesagt, will ich ihn auch gar nicht mehr hier haben. Wie groß ist Springfield im Vergleich zu Tirrabee, Harry?«

Er wirkte überrascht angesichts der unerwarteten Frage. »Du lieber Himmel, ungefähr zehnmal so groß.«

»Tatsächlich? Und wieviel verdienst du im Jahr?«

»Neunzig Pfund, Haus und Instandhaltung eingeschlossen. Ich habe es ganz gut angetroffen, die Farm ist traumhaft schön gelegen.«

»Vielen Dank. In diesem Fall bin ich der Ansicht, daß Victor als Verwalter von Springfield mindestens fünfhundert Pfund im Jahr verdienen sollte.«

»Das ist doch Wucher!« rief Charlotte. Auch Victor wirkte schockiert.

Harry lachte. »Nein, nur logisch. Ihr werdet niemals einen besseren Verwalter als Victor finden.«

»Niemand verdient soviel Geld«, sagte seine Mutter. »Außerdem können wir es uns nicht leisten, ihm ein solches Gehalt zu zahlen.«

»Dann wird die Firma es ihm eben schulden, bis sie es sich leisten kann«, erklärte Louisa energisch. »Victor ist der Verwalter, ihm steht ein anständiges Gehalt zu. Das derzeitige Arrangement ist nicht länger tragbar, Charlotte. Entweder Victor wird bezahlt, oder wir gehen weg.«

»Aber fünfhundert Pfund!«

»Das ist eine Menge Geld«, stimmte Victor zu, doch Louisa wußte, daß sie gewonnen hatte. »Dann eben vierhundertfünfzig.«

»Dreihundertfünfzig.«

Louisa lächelte. »Abgemacht. Solange Victor ein Gehalt und seinen Anteil als Teilhaber erhält, werde ich Rupe sein Geld nicht streitig machen.«

»Wenn er zurückkommt, steht auch ihm ein Gehalt zu«, sagte Charlotte.

Victor sah sie ungläubig an. »Hör zu, Mutter, ich möchte, daß du der Wahrheit ins Gesicht siehst. Solange ich Verwalter von Springfield bin, kann Rupe bleiben, wo der Pfeffer wächst. Ich will ihn hier nicht haben. Nicht nach dem letzten Zwischenfall. Und was seinen Anteil betrifft, so wird der für lange Zeit nicht sonderlich üppig ausfallen.«

»Das kannst doch nicht dein Ernst sein. Rupe ist hier zu Hause.«

»Er kann zu Besuch kommen, aber nicht mehr hier leben.«

»Aber wovon soll er denn leben, wenn sein Gewinnanteil ohnehin nicht hoch ist und durch dein Gehalt noch niedriger ausfallen wird?«

»Er hat sich doch einen Vorschuß genommen. Den Lohn der Scherer.«

»Und wenn der aufgebraucht ist?«

Alle wußten, daß Rupe imstande war, das gestohlene Geld notfalls innerhalb weniger Wochen in Brisbane zu verprassen, doch Victors Entscheidung stand fest. Er nahm eine Zigarre aus dem Behälter und bot seinem Bruder ebenfalls eine an.

Ihre Mutter sah zu, wie sie die Spitzen abknipsten und die Zigarren anzündeten. »Ich warte. Wovon soll Rupe leben, wenn er nicht nach Hause kommen darf?«

Harry genoß die teure Zigarre, die er sich in letzter Zeit nur selten gönnte. »Er könnte es mal mit Arbeit versuchen«, gab er grinsend zur Antwort. »Es heißt, das sei gut für den Charakter.«

 

Vor seiner Abreise sprach Harry noch einmal mit Nioka.

»Kehrt der Rest deiner Horde nun zurück? Ich kann euch versichern, daß keine Kinder mehr von hier weggeholt werden, das hat Victor mir fest versprochen. Er würde sogar eine Schule für sie bauen.«

»Ich weiß nicht, Harry. Ich habe Nachrichten geschickt. Daß armer Junge von Gabbidgee gegangen ist. Daß mein Jagga zu Hause ist und wie gut du warst. Bobbo noch immer weg. Aber ich bleibe hier mit Jagga, wenn Missus mich läßt. Meine Schwester tot, ich muß auf Bobbo warten. Das in Ordnung? Sie lassen mich bleiben?«

Er umarmte sie. »Natürlich. Du hast jetzt dein eigenes Zimmer im Haus, alle werden sich freuen, wenn du bleibst. Aber es wäre gut, wenn auch die anderen in ihr Lager zurückkehren würden. Hier ist es besser für euch, Nioka.«

»Spinner sagt, mehr Fremde kommen nach Springfield, vertreiben alle.«

»Nicht, solange Victor hier der Boß ist. Bei ihm seid ihr sicher.«

Als er davonging, rief sie ihm nach: »Zeigst du uns dein Baby, wenn er kommt?«

»Natürlich«, erwiderte er lächelnd und fragte sich, ob das ›er‹ wohl ein Zufall gewesen war. Doch er hatte genug von diesem Unsinn, er mußte sich wieder auf sein eigenes Leben konzentrieren.

 

Angesichts des Bündels Scheine in seinem Beutel zog Rupe es vor, nicht bei Freunden zu übernachten. Er nahm sich ein Zimmer im eleganten Hotel Gloucester, dem Mekka der wohlhabenden Landbewohner, und betrat noch in Reitkleidung die Bushmen’s Bar. Sein Durst war unerträglich nach dem langen, staubigen Ritt. Nie zuvor hatte er sich so gefreut, das breite Band des Brisbane River zu erblicken, und ritt mit einem Gefühl der Erregung, die er lange nicht mehr empfunden hatte, über die Brücke.

Die Reaktionen seiner Familie interessierten ihn nicht die Bohne. Natürlich würde niemand die Polizei rufen, auch wenn sie bestimmt vor Wut tobten. Er hatte einfach nur einen Vorschuß auf das genommen, was ihm zustand. Victor war ein hervorragender Verwalter, der keinen Assistenten nötig hatte.

Beim Gedanken an Louisa mußte er grinsen. Wetten, daß sein Weggehen ihr nicht sonderlich leid tat, so sehr sie sich auch über die Umstände seines Aufbruchs aufregen mochte? Und was Charlotte betraf, so hatte sie es sich selbst zuzuschreiben. Ihre Söhne hatten ihr aus reiner Freundlichkeit den Weg in die Firma geebnet, und nun maßte sie sich plötzlich an, ihre eigenen Regeln aufzustellen. Hoffentlich war ihr inzwischen klar geworden, welch schweren Fehler sie begangen hatte, indem sie sich in eine bestehende Abmachung zwischen ihren Söhnen einmischte.

Als er lässig an der eleganten Marmortheke lehnte, dachte er an seinen Vater. Dabei überlief ihn unwillkürlich ein kalter Schauer. Wäre Austin noch am Leben, hätte der ihn sicher mit der Waffe im Anschlag verfolgt!

Plötzlich vernahm er hinter sich eine Stimme. »Na, wenn das nicht Rupe Broderick ist! Wo hast du so lange gesteckt, Kumpel?«

Ein Stück entfernt entdeckte er an der Theke eine Ansammlung bekannter Gesichter, nahm sein Glas und gesellte sich zu den Männern. An diesem Ort konnte er den Staub von Springfield für immer abschütteln.

Irgendwann im Laufe dieses alkoholseligen Nachmittags und der darauf folgenden wilden Nacht gelang es ihm, Cleo Murray eine höfliche Nachricht zu senden. Darin teilte er ihr mit, er wohne für einige Tage im Gloucester und fragte an, ob er sie aufsuchen dürfe. Diesmal mußte er sich wohl oder übel an die Etikette halten.

Am nächsten Morgen schlief er lange. Nach dem Aufwachen verschwammen in seinem Kopf undeutliche Erinnerungen an zahllose Bars, ein Varieté, üppige Frauen in seinen Armen und eine Puffmutter, die ihn um Geld anschrie. Er wußte nicht mehr, ob er sie bezahlt hatte oder nicht, aber das war auch egal. Er hatte nur ein Pfund bei sich gehabt, der Rest lag sicher im Hotelzimmer versteckt. Bei diesem Gedanken sprang er unvermittelt aus dem Bett und sah in der untersten Kommodenschublade nach. Das Geld war noch da. Gut. Damit war seine Unabhängigkeit von der Familie vorerst gesichert.

Beim Rasieren bestätigte ihm der Spiegel, wie gut er aussah, sogar besser als sein Bruder Harry. Sein Aussehen hatte die Damen gestern abend wie die Motten angezogen, soviel wußte er immerhin noch. Sie hatten gar nicht damit aufhören können, von seinen langen Wimpern und frechen Augen zu schwärmen.

Wann würde er wohl von Cleo hören? Er zweifelte nicht eine Sekunde daran, daß sie sich melden würde. Gott sei Dank wußte er noch, wo ihre Tante wohnte; schließlich hatte sie es ihm oft genug gesagt und mit dem herrlichen Haus geprahlt, das in Yeronga am Flußufer lag. Sie hatte versucht, ihn damit zu beeindrucken, was er nie so recht verstanden hatte. Wieso brüstete sie sich ausgerechnet damit, wo ihr Vater doch die riesige Zuckerrohrplantage im Norden besaß? Erst kürzlich hatte er gelesen, daß die Zuckerpreise in astronomische Höhen stiegen, da in den Großstädten die Marmeladenfabriken wie Pilze aus dem Boden schossen. Nur in Queensland ließ sich erfolgreich Zuckerrohr anbauen, weil dort das richtige Klima herrschte und billige schwarze Arbeitskräfte von den Salomonen zur Verfügung standen. Alles klang so herrlich dekadent, genau wie in den Geschichten über die Pflanzer in Südamerika, die sich in weißen Anzügen mit Longdrinks in der Hand und umringt von unzähligen Bediensteten in der Sonne aalten.

Doch das war Zukunftsmusik. Im Augenblick stand Rupe kurz vor dem Verhungern. Er brauchte eine anständige Mahlzeit und ging zum Mittagessen in den Speisesaal. Er aß einen Grillteller und erwiderte das liebliche, schüchterne Lächeln einiger hübscher Mädchen um ihn herum, das seine Laune noch weiter gehoben hätte, wäre da nicht die Sorge um Cleo gewesen. Wenn sie nun heimgefahren war? Oder ihn nicht sehen wollte? Immerhin hatte man sie recht unsanft von Springfield verbannt. Doch das war ja nicht seine Schuld gewesen.

Verärgert schlenderte Rupe aus dem Speisesaal. Nun saß er hier fest und mußte auf Cleos Antwort warten, wo es in Brisbane doch so viele interessante Dinge zu sehen gab.

Ein Page sprach ihn an. »Mr. Broderick …«

Da war er – ein rosafarbener Umschlag, der seinen Namen in Cleos ordentlicher Handschrift trug.

Sie freue sich, von ihm zu hören, und lud ihn für den Nachmittag ein. Er nickte lächelnd. Natürlich, warum hatte er sich überhaupt Sorgen gemacht?

Rupe hatte sich die anderen Herren im Hotel genau angesehen und beschlossen, sich eine völlig neue Garderobe zuzulegen. Er eilte über die Straße zum besten Herrenausstatter, bei dem die Brodericks gut bekannt waren, und kaufte ausgiebig ein. Die Rechnung würde an Springfield gehen.

In einem dunklen Gehrock in der modernen, gekürzten Länge, schmal gestreiften Hosen und Zylinder verließ er den Laden und platzte beinahe vor Selbstvertrauen. Er nahm eine Pferdedroschke zu der angegebenen Adresse in Yeronga, stieg aus und betrachtete den herrlichen Garten hinter dem hohen Eisentor.

Cleo hatte recht; allein der Garten verriet, daß es sich hier um ein herrschaftliches Anwesen handelte. Er öffnete das Seitentor und ging auf das Haus zu. Natürlich konnte es mit Springfield nicht mithalten, war jedoch ein hübsches, einstöckiges Gebäude aus Sandstein, das eher wie ein Wochenendhaus wirkte. Die elegante Fassade wurde durch eine Reihe von Bögen in klösterlich-strengem Stil betont.

Rupe war nicht auf die unnahbare Frau vorbereitet, die ihm die Tür öffnete. Noch nie war er einer häßlicheren Frau begegnet. Ihr Gesicht erinnerte an eine Kartoffel, ein Eindruck, der durch das streng nach hinten gekämmte Haar mit dem Mittelscheitel noch verstärkt wurde. Nur das schwarze Taftkleid mit den ausladenden Ärmeln und der Perlenbrosche am steifen Kragen verriet ihm, daß er es hier nicht mit der Haushälterin zu tun hatte.

Sie stellte sich als Miss Murray, Cleos Tante, vor und teilte ihm mit, daß ihre Nichte sich nicht wohl fühle und eigentlich keinen Besuch empfangen könne. Da er aber eingeladen zu sein schien, solle er dennoch eintreten.

Rupe kochte innerlich angesichts dieser unhöflichen Begrüßung, während er ihr durch das geräumige Haus folgte, wobei ihm die teuren Teppiche und Vitrinen mit exquisitem Porzellan nicht entgingen. Sie führte ihn in ein langgestrecktes Zimmer im hinteren Teil, und er sah sich erstaunt um. Es war ein Sonnenzimmer, dessen eine Wand aus Fenstern mit weißen, bodenlangen Vorhängen bestand. Alle Möbel waren aus weißem Bambus, so daß die üppigen Topfpflanzen, Palmen, Blumenkörbe und Farne einen wahren Farbschock erzeugten. Es gab sogar träge herabhängende Orchideen in purpurrot, rosa und weiß, die aussahen, als langweilten sie sich in dieser exotischen Landschaft. Die Luft wirkte unangenehm feucht.

Er wandte sich an die Tante und beglückwünschte sie zu diesem Arrangement. »Sie müssen eine begnadete Gärtnerin sein, Miss Murray. Die Pflanzen sind herrlich.«

»Ich bin Botanikerin«, erwiderte sie knapp. »Cleo erwartet Sie.«

Erst jetzt bemerkte er sie auf einem kleinen Sofa links von ihm, das zu einer dreiteiligen Sitzgruppe gehörte. Sie umklammerte ein Stofftäschchen und sah aus, als warte sie auf einen längst überfälligen Bus. In ihrem weißen Musselinkleid hob sie sich tatsächlich kaum von ihrer Umgebung ab. Rupe trat lächelnd auf sie zu und stellte fest, daß dieses Zimmer keine schmeichelhafte Kulisse für sie bot. Im Gegensatz zur lebenssprühenden Energie der Pflanzen wirkte sie bleich und leblos, ihrem dunklen, traurig herabhängenden Haar fehlte der Glanz der neben ihr stehenden Monstera deliciosa.

»Wie geht es dir, Cleo?« fragte er betont munter.

»Gut, vielen Dank.«

Ihre Tante widersprach umgehend. »Ihr geht es überhaupt nicht gut. Nehmen Sie Platz, Mr. Broderick.«

Sie deutete auf das Sofa, das Cleos gegenüberstand, und nahm selbst auf einem dritten zwischen ihnen Platz – eine Anstandsdame, deren Anwesenheit die Unterhaltung beträchtlich erschweren würde.

»Tut mir leid, das zu hören«, sagte er. Er fragte sich, aufgrund welcher Krankheit Frauen wohl an Gewicht zulegten, denn Cleo wirkte eindeutig aufgeschwemmt. Schlimmer noch, regelrecht unattraktiv.

»Aber das Wetter wird besser, es ist schon viel wärmer. Ich wage zu behaupten, daß es deinen Wangen bald wieder Farbe verleihen wird.«

Sie nickte. »Das hoffe ich. Und du, Rupe? Wie geht es dir?«

»Sehr gut, ich kann nicht klagen. Ich freue mich, in der Stadt zu sein, es gibt so viel zu sehen.« Er plauderte ein Weilchen und wandte sich dann, da Cleo nicht gerade gesprächig war, an die Tante. »Leben Sie gern ins Brisbane, Miss Murray?«

»Jedenfalls nicht ungern. Die Winter sind angenehm. Und ich habe natürlich viel zu tun.«

»Vermutlich besitzen Sie neben Ihrem grünen Daumen noch andere Talente. Wo haben Sie Ihre Botanikkenntnisse erworben?«

»In Kew Gardens«, antwortete sie und setzte einfach voraus, daß Rupe sie kannte, was jedoch nicht der Fall war. »Ich habe dort drei Jahre lang als unbezahlte Assistentin gearbeitet und soviel wie möglich gelernt, bevor ich dann nach Australien zurückgekehrt bin …«

Offensichtlich hatte er das Eis gebrochen. Sie berichtete lang und breit über ihre Karriere, ihr intensives Interesse für die einheimische Flora und ihre Zusammenarbeit mit dem Kurator des Botanischen Gartens von Brisbane. Rupe heuchelte Interesse und wünschte insgeheim, sie möge sich zurückziehen und ihm eine Chance geben, allein mit Cleo zu sprechen, anstatt ihn mit endlosen Diskursen über einheimische Akazien zu langweilen.

»Es gibt Hunderte von Akazienarten, Gattung Mimosaceous, und wir entdecken laufend neue«, berichtete sie.

»Wie erstaunlich«, erwiderte er mit gespielter Begeisterung, obgleich für ihn Akazie gleich Akazie war.

Offenbar würde sein erster Besuch in Miss Murrays Haus von kurzer Dauer sein, da sie ihm keinen Tee anbot. Er sah sich seufzend um. »Ich sollte mich wohl wieder auf den Weg machen. Ich habe geschäftlich in der Queen Street zu tun.«

Nun wurde Cleo ein wenig lebhafter. »Kommst du denn wieder?«

»Wenn man mich einlädt …«

Sie rutschte unbehaglich hin und her. »Ich wollte dich eigentlich fragen, wie es Victor und Louisa geht.«

»Prima. Sind damit beschäftigt, die Regierung wegen der Zahlungen für die Ländereien aufs Kreuz zu legen.«

Miss Murray wirkte plötzlich angespannt. »Wie bitte?«

Rupe setzte zu einer langwierigen Erklärung der Auswirkungen des Gesetzes über die Zweckentfremdung von Land an, zum einen, um seinen Aufenthalt im Haus zu verlängern, zum anderen, um sich ein wenig für die botanischen Vorträge seiner Gastgeberin zu rächen. Allmählich spürte er jedoch ihre Mißbilligung. Im Glauben, er habe die Sache vielleicht ein wenig zu spaßig dargestellt, versuchte er einen Rückzieher.

»Ich kann diese Praktiken allerdings nicht gutheißen; schließlich heißt es doch: Zahl Cäsar …«

Cleo lächelte nachsichtig. »Gib Cäsar …«

»Wie bitte? Ach ja, natürlich.« Er erwiderte ihr Lächeln, um zu beweisen, daß er ihr die Berichtigung nicht übelnahm.

»Ihre Nichte ist zweifellos eine ausgezeichnete Lehrerin, Miss Murray.«

Doch das teigige Gesicht der Tante hatte sich verhärtet, ihr Kiefer trat hervor, die Augen blickten unnachgiebig. »Ich nehme an, die erwähnte Louisa ist Ihre Schwägerin Mrs. Broderick?«

»Ja.«

»Sie hat Cleo sehr schlecht behandelt, das haben wir keineswegs vergessen.«

Rupe nickte. Nun kannte er auch den Grund für den Mangel an Gastfreundschaft. »Ich weiß, nicht zuletzt deshalb bin ich ja auch gekommen. Ich wollte mich entschuldigen. Andererseits möchte ich Ihnen wie auch Cleo erklären, daß ich damit nichts zu tun hatte. Ich war damals sehr durcheinander, so wie wir alle …«

»Sie hätten wenigstens für Cleo eintreten können. Ich habe angenommen, Sie seien Freunde, und dennoch haben Sie zugelassen, daß man Cleo auf diese Weise behandelt …« Sie runzelte wütend die Stirn.

Cleo wollte sie beschwichtigen. »Ich habe nie gesagt, ich sei böse auf Rupe …«

»Nein, du warst angeblich auf niemanden böse.« An Rupe gewandt fuhr sie fort: »Das Mädchen tauchte vollkommen hysterisch bei mir auf. Ich weiß, es war eine Tragödie, aber niemand hat ihr irgendwelche Unterstützung angeboten, nicht einmal Sie, Mr. Broderick.«

»Wie denn auch? Ich wußte ja nicht, was geschehen war. Mein Bruder war so aufgebracht, daß ich die Farm vorübergehend verlassen mußte. Inzwischen habe ich erfahren, wie schlimm man mit Cleo umgesprungen ist, doch mir erging es nicht anders. Bei meiner Rückkehr war die Atmosphäre dermaßen unerträglich geworden, daß mir keine andere Wahl blieb. Ich konnte es nicht aushalten, wochenlang in meinem eigenen Heim geschnitten zu werden.«

»Du bist weggezogen?« fragte Cleo erstaunt. »Rupe, das tut mir aber leid. Was willst du denn jetzt machen?«

»Ach, das ist nicht weiter problematisch. Ich bin noch immer Teilhaber der Springfield Pastoral Company, also werde ich nicht verhungern. Ich habe sogar daran gedacht, nach Norden zu gehen und mich dort umzusehen.«

Die Tante wirkte nun wieder ein wenig umgänglicher. »Man hat Sie ebenfalls vertrieben?«

»Leider ja. Die Familie hat sich erbarmungslos gezeigt, obwohl Teddy gesund und munter aufgefunden wurde, und mir die Schuld an allem gegeben, was hätte passieren können. Es war so ungerecht …«

Miss Murray atmete keuchend, als stehe sie unter Schock, und Rupe sah von einer Frau zur anderen, da er sich über die plötzliche Stille wunderte. Der Frauenhaarfarn, der in einem Korb über seinem Kopf wuchs, schien zu zittern, als sei eisige Kälte in den Raum gedrungen. Cleos Gesicht hatte Farbe bekommen: Scharlachrote Flecken hoben sich von ihrer blassen Haut ab.

Die Tante wandte ihr mit einem Ruck den Kopf zu. »Cleo, wie hieß das Kind?«

»Teddy«, flüsterte sie.

»Habe ich richtig gehört? Sagten Sie eben, er sei gesund und munter?«

Cleo schluckte nur. Es hatte ihr die Sprache verschlagen.

»Mr. Broderick, das Kind hat also doch überlebt?«

»Ja, ich dachte, das wüßten Sie. Es ist in den Fluß gefallen … ich dachte, Sie wüßten …« Er brabbelte zusammenhanglos vor sich hin. »Ja, das ist er, aber ohne unser Verschulden. Er ist uns entwischt, so war es. So sind Kinder nun einmal. Aber er wurde von einer Aborigine-Frau gerettet. Sie hat ihn erst ein paar Tage später nach Hause gebracht …«

Dann schenkte er Cleo ein freundliches Lächeln. »Ende gut, alles gut, würde ich sagen. Wie schön, daß ich so freudige Nachrichten überbringen kann.«

»Ist Ihnen eigentlich klar, was Cleo durchgemacht hat? Was sind Sie nur für selbstsüchtige, rücksichtslose Menschen! Wieso kam niemand auf die Idee, ihr mitzuteilen, daß ihr Schüler nicht ertrunken ist? Daß er, wie Sie zu sagen beliebten, gesund und munter ist? Wollen Sie mir weismachen, daß alles nur ein Versehen war?«

Er versuchte sie zu beschwichtigen.

»Miss Murray, bitte hören Sie mich an. Als Teddy gefunden wurde, waren wir alle so aufgeregt und erleichtert, daß wir nicht daran dachten … ich meine, ich habe natürlich angenommen, daß Louisa dir geschrieben hat«, sagte er an Cleo gewandt.

»Tatsächlich? Sie haben uns eben lang und breit dargelegt, daß Ihre Schwägerin überaus nachtragend ist, selbst angesichts dieser glücklichen Rettung. Weshalb sollten Sie also glauben, daß sie Cleo geschrieben hätte? Warum haben Sie es nicht selbst übernommen? Seit Wochen leidet dieses arme Mädchen und gibt sich die Schuld am Tod eines Kindes!«

Ihre Stimme steigerte sich zu einem Kreischen.

»Sie verstehen nicht …«

»Oh, doch. Sie sind eine überaus verschlagene Kreatur, Sir. Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen. Cleo, kümmere dich um deinen Gast!« Mit diesen Worten stapfte sie aus dem Zimmer.

Gott sei Dank. Er näherte sich Cleo, ergriff ihre Hand und kniete halb vor ihr nieder. »Liebste Cleo, hätte ich gewußt, was du durchgemacht hast, hätte ich dir geschrieben, das schwöre ich. Ich habe ehrlich geglaubt, du wüßtest Bescheid.«

»Woher denn? Niemand hat mir etwas gesagt. Und in der Zeitung hat nichts darüber gestanden, was denn auch … Am Ende ist ja gar nichts passiert.« Sie brach in Tränen aus.

»Außerdem war es so viele Meilen weit weg.«

Dann fuhr sie heftiger fort: »Es lohnte wohl nicht, darüber zu berichten, obgleich es um die berühmten Brodericks ging. Ich habe so gelitten deswegen, daß ich niemandem unter die Augen treten konnte. Was habe ich mich geschämt! Und du hast mich grundlos leiden lassen!«

»Cleo, das wollte ich nicht, ehrlich. Ich habe dich vermißt. Wir müssen miteinander reden, es gibt so viel zu sagen …«

Sie erhob sich und schob ihn zur Seite. »Nein, gibt es nicht. Verschwinde!«

»Das meinst du doch nicht im Ernst. Du bist nur überreizt.«

Das gleiche galt für ihn. Wie konnte es dieses unansehnliche Ding wagen, ihn hinauszuwerfen?

»Können wir das nicht alles vergessen und uns auf die Zukunft konzentrieren?«

Sie wich vor ihm zurück, wobei ihr Tränen über das Gesicht liefen. »Geh weg, Rupe, ich bitte dich.«

Die Tante hielt ihm bereits die Tür auf. »Hier haben Sie Ihren Hut, Mr. Broderick. Leben Sie wohl.«

 

Trotz dieses unfreundlichen Abschieds war es zweifellos ein herrlicher Tag. Rupe lüpfte den Hut und grüßte zwei ältere Damen, die ihn auf das wunderbare Wetter aufmerksam gemacht hatten. Der Himmel strahlte tiefblau, kein Wölkchen war in Sicht. Winzige Vögel schwirrten durch die Bäume, ohne zu bemerken, daß hoch über ihnen ein Falke nahezu regungslos in der Luft verharrte. Ein Hund lag dösend vor einem Tor und zuckte nicht einmal, wenn ein Passant an ihm vorbeiging.

Rupe trat wütend gegen das Tor, worauf der Hund jaulend hochfuhr. Als er losbellte, war Rupe bereits um die nächste Ecke gebogen. Er konnte es einfach nicht fassen, daß diese beiden Frauen, diese Niemande, ihm die Tür gewiesen hatten. Und nur, weil Cleo zu dumm war, um herauszubekommen, was sich wirklich auf Springfield zugetragen hatte. Sie hätte ja an Louisa schreiben können, notfalls ein Kondolenzschreiben, wenn sie so von Teddys Tod überzeugt gewesen war. Louisa hätte sicher geantwortet und ihr die Wahrheit mitgeteilt.

Er war so zornig, daß die tatsächlichen Ereignisse in seinem Gedächtnis durcheinandergerieten. Und wenn Cleo es bisher nicht erfahren hatte, so hätte sie sich doch wenigstens freuen können, daß er sie nun darüber informierte.

Aber nein, sie war viel zu sehr damit beschäftigt, die Märtyrerin zu spielen. Als wenn er sie je hätte wiedersehen wollen, wenn Teddy tatsächlich ertrunken wäre. Sie war nicht krank, bloß dumm und eine graue Maus. Wie hatte er nur die Heirat mit einem derart reizlosen Ding in Erwägung ziehen können? Selbst wenn ihre Familie vermögend war, hätte sie sich nie in die Kreise eingefügt, die ihm vorschwebten.

Rupe schritt schwungvoll aus und verdrängte die Gedanken an seine Zukunft. Auch andere Mütter hatten schöne Töchter. Fürs erste konnte er sich in dieser Stadt herrlich amüsieren, lange genug hatte er dies entbehren müssen.

Die Bushmen’s Bar quoll über von Männern, die von den alljährlichen Einjährigen-Auktionen kamen, die an diesem Morgen auf der Rennbahn stattgefunden hatten. Rupe wünschte, er wäre dorthin gegangen, anstatt seine Zeit mit Cleo und ihrer häßlichen Tante zu verschwenden. Er wollte nicht länger über sie nachdenken und stürzte sich lieber in die aufregenden Fachsimpeleien um ihn herum. Wer hatte wieviel für einen Abkömmling welchen Stammbaums gezahlt? Wer hatte zuviel bezahlt? Wer war jetzt der stolze Besitzer des Fohlens von Kerry Star aus Irland?

Der Champagner floß in Strömen. Niemand interessierte sich dafür, wer die Zeche zahlte. Pfundnoten wurden unermüdlich auf die Theke geknallt, wo sie vergossenen Champagner aufsogen und von den schwitzenden Barkeepern in überquellende Kassen gestopft wurden. Doch Rupe bemerkte in diesem ganzen Gerede und Schulterklopfen, dem Gesang und der trunkenen Prahlerei noch einen Unterton, ein Flüstern, verbunden mit wachsamen Seitenblicken. In Gruppen standen Männer in Ecken zusammen und führten ernsthafte Diskussionen.

Während er mit seinen eigenen Freunden trank und alte Geschichten hervorkramte, beobachtete er die Männer aufmerksam. Etwas lag in der Luft. Er trat näher zu Lindsay Knox heran, einem alten Bekannten aus der Schule, der im Mittelpunkt des Interesses zu stehen schien.

»Hast du heute gekauft oder verkauft?«

Lindsay grinste. »Keins von beidem. Ich habe gehört, dein alter Herr ist gestorben. Mein Beileid. Bist du wegen der Auktion gekommen?«

»Nein, ich wollte nur mal weg von der Farm. Mich ein bißchen umsehen. Vielleicht ein bißchen reisen.«

»Ach ja? Wohin soll’s denn gehen?« Rupe bemerkte, daß Lindsay nicht bei der Sache war. Seine Fragen klangen zerstreut, er schien keine Antwort zu erwarten, sondern sah schon wieder woanders hin. Rupe jedoch würde ihn nicht so leicht davonkommen lassen.

»Das habe ich noch nicht entschieden«, sagte er entschlossen. »Ich dachte an Übersee, aber es heißt, man solle zuerst einmal sein eigenes Land kennenlernen. Ich fahre vielleicht nach Cairns, sehe mir mal die Tropen an. Es heißt, dort seien die Frauen ebenso heiß wie das Wetter.«

Das Wort ›Frauen‹ erregte anscheinend dann doch Lindsays Aufmerksamkeit.

»Weshalb gerade Cairns?« fragte er unvermittelt.

»Weshalb nicht?« Rupes Lächeln sollte andeuten, er kenne sich mit der Erotik der Damen aus dem Norden aus, doch Lindsay nahm ihm das nicht ab.

»Komm schon, Kumpel, nimm mich nicht auf den Arm. Du weißt doch Bescheid.« Er schwankte leicht und lehnte sich an die Theke. »Bin wohl ein bißchen betrunken. Dann kann ich mir auch den Rest geben. Noch ein Glas von dem Sprudelzeug.«

Rupe bestellte Nachschub und erhielt zwei randvolle Gläser.

»Viel Glück!«

»Da sagst du was«, lachte Lindsay. »Wann soll’s denn losgehen?«

Rupe nahm an, er meine die Reise nach Cairns, und beschloß aus Neugier, sich auf das Gespräch einzulassen. »In den nächsten Tagen. Was ist mit dir?«

Lindsay stützte sich schwer auf Rupe. »Ich sag dir was, Kumpel. Ich hau ab. Das laß ich mir um keinen Preis entgehen. Aber ich brauche einen Partner. Die Kerle hier passen mir nicht, wenn du verstehst, was ich meine. Viele von ihnen spucken nur große Töne, und ich weiß nicht, ob sie genügend Rückgrat haben. Aber du und ich, wir sollten uns zusammentun. Was hältst du davon?«

Verwirrt trank Rupe seinen Champagner und suchte nach einer geeigneten Antwort.

»Ich weiß nicht, ob wir das gleiche im Sinn haben.«

Lindsays Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern. »Natürlich. Wir reden von Gold, das ist doch klar.«

Gold! Rupe war wie betäubt. Kein Wunder, daß man nur hinter vorgehaltener Hand davon sprach. Wo lag dieses Gold? In Cairns? Man war im ganzen Land auf riesige Goldadern gestoßen, aber seines Wissens noch nie so weit im Norden. Das hatte man nun davon, wenn man als Hinterwäldler lebte. Die interessanten Neuigkeiten drangen nicht bis zu einem durch. »Eine Partnerschaft? Ich werde es mir überlegen.« Und zwar genau eine halbe Minute, dachte er bei sich.

 

Am nächsten Morgen tauchte ein nüchterner Lindsay Knox mit einer Landkarte und Plänen bewaffnet in Rupes Hotelzimmer auf, wo sie sich ungestört unterhalten konnten. Er erkannte bald, daß die Karte, auf der nur Küstenorte und keine Goldfelder verzeichnet waren, nicht viel taugte, doch von so etwas ließ er sich nicht abschrecken.

»Wo genau liegt dieser Ort?«

»Am Palmer River. Irgendwo da oben. Wir können uns den Weg in Cairns beschreiben lassen, vor allem aber müssen wir uns beeilen, Rupe. Bisher ist es nur ein Gerücht, aber wenn es sich verbreitet, kriegen wir keinen Platz auf dem Schiff mehr.«

Sie unterhielten sich eine ganze Weile, kamen jedoch zu keinem konkreten Ergebnis. Immerhin erfuhr Rupe, daß sich die Goldfelder bei einem Ort namens Charters Towers befanden, der südwestlich von Townsville lag, und schlug vor, zuerst dorthin zu reisen. Aber Lindsay sprach sich dagegen aus.

»In dem Ort wimmelt es nur so von Goldgräbern. Bis wir da aufgetaucht sind, ist kein Gold mehr da. Ich dachte, wir versuchen es mal mit Cairns. Da will ich nämlich hin, ob du mitkommst oder nicht.«

Schließlich bat Rupe ihn um einige Stunden Bedenkzeit, in denen er noch ein paar Erkundigungen einziehen wollte.

»Wo denn? Du willst doch wohl nicht alles herumerzählen?«

»Auf keinen Fall. Ich habe einen alten Bekannten im Landministerium, der mit meinem Vater befreundet war. Ich höre mal nach, was er zu sagen hat.«

 

Leo Marshall war in der Tat ein Freund von Austin Broderick gewesen und ging mit dem jungen Mann in die Gasse hinter dem Gebäude, um ungestört mit ihm sprechen zu können.

»Dein Dad war gut zu mir und hat mir diese Stelle besorgt, als ich eine Pechsträhne hatte. Habe die ganzen Jahre hier gearbeitet, stehe kurz vor der Pensionierung. Ja, ich weiß Bescheid über den Palmer-Fund, er kann jeden Tag Schlagzeilen machen. Wir haben die Information vom Bergbauministerium erhalten. Es liegt zwar nicht bei Cairns, aber ihr müßt dennoch mit dem Schiff dorthin fahren. Von da aus nehmt ihr das nächste Schiff nach Cooktown, oben an der Mündung des Endeavour River, wo Kapitän Cook sein Schiff hat reparieren lassen. Ich nehme an, du hast in der Schule davon gehört.«

»Und dort liegt das Gold?«

»Nein. Ihr müßt erst ins Landesinnere reisen, ungefähr hundert Meilen in südwestlicher Richtung.«

»Aber es gibt Gold an diesem Fluß?«

»Ja.«

»Viel?«

Leo zog an seiner Pfeife. »Es scheint sich um ein anständiges Vorkommen zu handeln.«

»Hundert Meilen sind nicht weit, wir könnten die Strecke in ein paar Tagen schaffen, wenn wir reiten. Kein Problem.«

»Genau da irrst du dich. Es ist gefährlich. Ein furchtbares Land, vom Fieber heimgesucht, und die Schwarzen sind uns feindselig gesonnen. Von denen lebt da oben eine ganze Menge. Ich gebe dir einen guten Rat: Geh nicht dorthin. Laß dich nicht dazu überreden. Dieser Ort ist einfach zu gefährlich.«

»So schlimm kann es doch gar nicht sein. Offensichtlich ziehen viele Goldgräber hin.«

»Und gehen ein beträchtliches Risiko ein. Das haben die Männer, die heil zurückgekehrt sind, nachdrücklich erklärt.

Rupe, du darfst dir das nicht antun; der Weg zum Palmer River führt durch ein Dschungelgebiet, das von den kriegerischsten Aborigines bewohnt wird, eine Hölle auf Erden. Das ist nur etwas für Lebensmüde. Der Palmer gibt sein Gold nicht so leicht her, denk an meine Worte.«

Genau das tat Rupe. Er merkte sich, was Marshall über die Lage des Goldfeldes gesagt hatte, und leitete nur diese Information an Lindsay weiter. Dieser zeigte sich beeindruckt.

»Gut gemacht. Morgen legt ein Schiff nach Cairns ab. Was hältst du davon? Sollen wir es nehmen?«

»Ja!« stieß Rupe aufgeregt hervor. Es fiel ihm nun sichtlich schwer, die nötige Ruhe zu bewahren. »Die Ausrüstung können wir uns in Cairns besorgen, aber wir brauchen außerdem Gewehre und Munition, um uns vor Räubern zu schützen.«

»Natürlich! Wo es Gold gibt, finden sich auch Gesetzlose ein«, stimmte Lindsay begeistert zu.

»Am besten kaufen wir die Waffen hier, das kommt billiger.« Kein Wunder, in dieser Gegend waren sie auch nicht so gefragt. »Aber kein Wort zu irgend jemandem, Lindsay. Wir verziehen uns morgen ganz unauffällig. In Ordnung?«

»Selbstverständlich, Partner. Während die anderen noch darüber reden, sind wir schon unterwegs.«

Erst als es um die Berechnung der Kosten ging, stellte sich heraus, daß Lindsay nur fünfzehn Pfund beisteuern konnte. Kein Wunder, daß er einen Partner brauchte!

Dennoch, Rupe hatte Leos Warnungen soweit beherzigt, daß er nicht allein aufbrechen wollte. Wenn sie es mit zum Äußersten entschlossenen Männern zu tun bekämen, hätte er eine Rückendeckung bitter nötig, und ein Bekannter war allemal besser als irgendein Fremder. Er sorgte sich ein wenig, weil Lindsay alles als einen großen Spaß zu betrachten schien.

Sicher, er war kräftig und in guter Form, aber kein Bushie. Er hatte sein ganzes Leben als Arztsohn in Brisbane verbracht. Rupe fragte sich, wie er mit dem von Leo beschriebenen mühseligen Marsch zurechtkommen würde.

»Kannst du dir nicht was von deinem Vater leihen?«

»Nein. Ich habe keinen Kredit mehr bei ihm.«

Rupe wollte seinen Plan auf keinen Fall mehr aufgeben. »Na schön, ich habe genug für uns beide. Wir richten vorerst eine Gemeinschaftskasse ein, und du kannst mir das vorgestreckte Geld dann von den Gewinnen zurückzahlen.«

»In Gold, Kumpel!« lachte Lindsay. »Und jetzt müssen wir den letzten Abend in der Zivilisation feiern.«

Rupe besaß eine ungefähre Vorstellung von den Vorräten und der Ausrüstung, die sie für den Weg von Cooktown ins Landesinnere brauchten, dazu kamen noch die Packpferde. Daher hatte er keine Lust, Lindsays Lokalrunden zu übernehmen. Als er am nächsten Morgen die Hotelrechnung in Händen hielt, fiel ihm eine weitere Sparmöglichkeit ein.

Er hatte die Schiffspassagen bereits gekauft und schickte Lindsay hin, um zwei anständige Kojen auf dem Küstendampfer zu reservieren, während er seine Sachen packte. Dann ließ er sie aus dem Fenster in einen dichten Oleanderstrauch fallen.

In seiner neuen Kleidung, deren Kauf er mittlerweile bereute, trat er an die Rezeption und teilte dem Empfangschef mit, daß er Gäste zum Mittagessen erwarte.

»Führen Sie sie bitte ins Lesezimmer, sobald sie eintreffen. Ich bin bald wieder da.«

»Gewiß, Mr. Broderick.«

Mit diesen Worten schlenderte Rupe Broderick aus der Tür, setzte schwungvoll den Hut auf, huschte um die Ecke und holte seine Tasche aus dem Gebüsch. Dann ging er hinunter zum Hafen, zu dem Schiff, das ihm den Weg zu ungeahntem Reichtum verhieß.

Es kam tatsächlich ein Gast, der zu Rupe wollte. Man führte eine nervöse junge Dame in das mit Teppichen ausgelegte Lesezimmer mit den Fenstern aus Mattglas, den dick gepolsterten Sesseln, den grün-goldenen Lampen und Landschaftsporträts an den Wänden.

Cleo hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Sie waren zu hart mit Rupe gewesen, vermutlich aus dem Schock heraus. Sie schämte sich inzwischen für ihre abscheuliche Reaktion. Anstatt sich über Teddys wunderbare Rettung zu freuen, hatte sie Rupe angegriffen. Oder war es ihre Tante gewesen? Sie fühlte sich noch immer nicht gut, aber um Längen besser als in den letzten Wochen. Eine Last war ihr von der Seele genommen, Schuld und Scham waren wie weggeblasen. Sie hatte neben dem Bett gekniet und Gott für seine Gnade gedankt. Doch was war mit Rupe? Er verdiente eine Entschuldigung. Wenn sie nun wirklich nur vergessen hatten, ihr Bescheid zu geben? In der allgemeinen Euphorie nur noch Teddy für sie zählte? Wie vermessen von ihr zu glauben, daß die Brodericks in einer solchen Situation ausgerechnet an sie denken würden.

Die Reaktion ihrer Tante auf die demütigende Entlassung war verständlich. Sie hatte nur ihre zutiefst erschütterte Nichte gesehen, nicht deren mögliche Mitschuld, und sich auf ihre Seite gestellt, was ganz natürlich war. Deshalb hatte sie Rupe auch voller Vorurteile empfangen.

Es tat ihr nun alles furchtbar leid. Rupe war gekommen, sobald sich die Aufregung ein wenig gelegt hatte und er die Farm verlassen konnte. Wie gut er ausgesehen hatte! Und dieses zauberhafte Lächeln! Sie umklammerte ihre gute Handtasche mit dem bernsteinfarbenen Besatz, die sie in London gekauft hatte, und sah auf ihre Hände nieder. Sie trug die beiden großen Diamantringe, die ihre Mutter ihr hinterlassen hatte. Cleo hatte sie nicht mit nach Springfield genommen, da sie ihrer Ansicht nach weder zu einer Gouvernante noch auf eine Schaffarm paßten, doch hier in der Stadt konnte sie den Schmuck getrost tragen. An ihrem Revers glitzerte außerdem eine Diamantbrosche in Form einer Feder.

Cleo blieb lange in dem Sessel sitzen, starrte die Wand an und bereitete sich innerlich auf ihr Gespräch mit Rupe vor. Sie würde sich natürlich entschuldigen und ihm sagen, wie glücklich sie über Teddys Rettung sei. Ihn um Vergebung bitten. Vor allem aber sollte er erfahren, wie sehr sie sich über seinen Besuch gefreut hatte. Er liebte sie, das hatte sie in seinen Augen lesen können, und auch seine Enttäuschung war ihr nicht entgangen, als ihre Tante sich zwischen sie gesetzt hatte. Hätten sie sich nur allein unterhalten können, wäre es vermutlich nie zu all den Mißverständnissen gekommen. Cleo wußte, wie sehr ihre Tante sie liebte, aber Rupe tat es auch und verdiente eine zweite Chance.

Deshalb hatte sie das Haus unter einem Vorwand verlassen. Sie mußte ihn suchen, ihm alles erklären und ihm sagen, daß sie ihn liebte.

Sie sah auf die kleine goldene Uhr, die sie an einer Kette trug. Angeblich wurde er zum Mittagessen zurückerwartet, doch nun war es beinahe zwei Uhr. Sie ging zu den Gepäckträgern in der Halle und bat einen freundlichen Burschen nachzusehen, ob Mr. Broderick im Speisesaal sei.

Sie erfuhr, daß er immer noch nicht eingetroffen war, und fragte den jungen Mann, ob er ihm die Nachricht aufs Zimmer bringen könne, daß eine Besucherin ihn im Lesezimmer erwarte.

»Natürlich, Miss. Und wenn ich Mr. Broderick sehe, schicke ich ihn sofort zu Ihnen.«

»Vielen Dank, das ist sehr freundlich.« Diesmal nahm sie in einem Sessel mit Blick zur Tür Platz. Ein Herr bot ihr eine Zeitung an, die sie ablehnte. Es gab so viel zu bedenken. Sie könnte Rupe in den Norden einladen, da sie ohnehin vorhatte, demnächst ihre Familie zu besuchen. Wie schön wäre es, mit ihm zusammen dorthin zu reisen. Als seine Braut. Sie hatte stets davon geträumt, ihrer Familie ihren Verlobten vorzustellen. Alle würden ihn mögen, da war sie ganz sicher.

Die Stunden zogen sich endlos dahin, doch das Warten machte ihr wenig aus. Schließlich wußte Rupe ja nicht, daß sie kommen würde. Er hatte so viele Freunde in Brisbane, da konnte es schon mal später werden.

Irgendwann wurde Cleo dann aber doch ungeduldig. Elegante, fürs Abendessen gekleidete Damen gingen an der Tür vorbei; die Pagen zündeten die Lampen an, im Foyer herrschte fieberhafte Aktivität. Sie würde ihren Wachposten aufgeben müssen, wenn sie sich nicht vollends lächerlich machen wollte. Schüchtern näherte sie sich der Rezeption, um noch einmal darum zu bitten, Rupe eine Nachricht zukommen zu lassen.

»Würden Sie Mr. …« setzte sie an.

Doch der Mann starrte sie wütend an und schnaubte: »Mr. Broderick ist nicht länger Gast in diesem Hause, Miss.«

»Oh, das tut mir leid, Verzeihung«, stammelte sie und eilte hinaus. Wie schade, daß sie ihn verpaßt hatte. Wahrscheinlich war er nach Hause gefahren. Nun, sie konnte ihm schreiben; ohnehin würde es ihr auf diesem Wege leichter fallen, ihre Schüchternheit zu überwinden und ihm alles zu erklären.

Sie nahm eine Pferdedroschke. In einem Brief würde sie es sogar wagen, ihm ihre Liebe zu gestehen. Noch war nicht alles verloren.

 

Als das Schiff den Fluß verließ und Kurs auf Moreton Bay und den Norden nahm, hatte Rupe Cleo und Springfield bereits vergessen. Ihn interessierten weder die verschwindende Küste hinter ihm noch die anderen Goldsucher, die auf diesem Schiff fuhren. Er saß mit seinem Partner und einer Flasche Rum in einer Ecke des Salons und träumte von einer Zukunft in Reichtum. Sogar Lindsay verhielt sich still. Zwischen ihnen herrschte Frieden, der letzte Frieden, den Rupe je erleben würde. Daher war es nur gerecht, daß ihm dieses sanfte Zwischenspiel, die ruhige See, die laue Mondnacht vergönnt waren.

Rupe genoß die Seereise nach Cairns und von dort aus nach Cooktown, die durch Gewässer führte, die im Schutz des Großen Barrier-Riffs lagen. Endlich war er frei von familiären Bindungen. Er wünschte, er könnte auf ewig sorglos durch dieses aquamarinblaue Wasser gleiten. Warum nur hatte er den Staub von Springfield nicht schon früher hinter sich gelassen? Dies hier war das wahre Leben.

Er war kein Broderick mehr, mußte keinem Befehl mehr gehorchen. Er war nur ein Mann unter übermütigen Männern, bereit für das Abenteuer seines Lebens.

 

Zunächst spürte er nur einen dumpfen Schlag im Rücken – bis Lindsay versuchte, den Speer herauszuziehen. Rupes Schrei hallte durch die Finsternis dieser furchtbaren Nacht. Er wollte etwas sagen, Lindsay befehlen, bis zum Morgen zu warten, da er sich mit Sicherheit verlaufen würde. Doch der arme, tapfere Lindsay zerrte seinen Körper weg von dem Pfad, tiefer ins Gebüsch, weil er dies für das Richtige hielt. Ihm fehlte jeglicher Orientierungssinn. Die Schwarzen waren weg. Kein Grund mehr zur Panik. Rupe dachte an Kelly, den Partner seines Vaters. Auch er war durch einen Speer umgekommen, aber auf noch schrecklichere Art und Weise. Das hier war gar nicht so schlimm. Er wollte Lindsay von Kelly erzählen, doch seine Stimme ging unter im Rauschen eines öligen Stromes, der über die glitschigen Felsen über ihnen stürzte.

Er hörte Lindsay keuchen, während sich dieser durch das nasse Unterholz kämpfte. Sein Freund war zu schwach zum Umkehren, seit Tagen krank gewesen, hatte unter hohem Fieber und schwerem Durchfall gelitten, sich aber unermüdlich weitergeschleppt und ständig entschuldigt. Hatte darauf bestanden, daß es ihm besser ginge, sobald sie den moskitoverseuchten Dschungel hinter sich gelassen hätten.

In dieser Gegend brach die Dunkelheit rasch herein. Urplötzlich und absolut. Nicht ein Mondstrahl drang durch den uralten Baldachin aus Baumkronen und Schlingpflanzen, doch Rupe war alles egal. Er riß sich nur um Lindsays willen zusammen, der sich als verdammt guter Kamerad erwiesen hatte. Mit all seiner verbliebenen Lebenskraft wünschte er sich, sein Freund möge umkehren und wenigstens sein eigenes Leben retten. Er mußte einfach weiterlaufen, der schlammige Abhang würde ihn bis zum Morgen ans Ziel bringen. Irgendwann würde er die Meeresküste erreichen und in Sicherheit sein. Er könnte einen Pfad finden, der ihn zu anderen Goldsuchern führte, die einem kranken Mann ihre Hilfe nicht verweigern würden.

Lindsay mußte ihn gehört haben. »Rupe«, rief er mit schwacher, rauher Stimme. »Wir haben es nicht geschafft. Wir sind nicht mal bis dorthin gekommen.«

Sein Schmerz und seine Enttäuschung waren verständlich, aber unbedeutend. Wieso wußte er das nicht? Es ging doch nur noch darum, an die Küste zu gelangen.

Lindsay sprach beruhigend auf ihn ein. »Keine Sorge, Kumpel, alles wird gut.« Er stieß keuchend Worte hervor, die Rupe nicht mehr hörte. »Ich lasse dich nicht allein.«

Doch sein Freund war ihm bereits vorausgegangen.