Coda

Sieben Jahre später

Die beiden Damen trafen sich in dem hübschen Teehaus mit Blick auf den Brisbane River und umarmten sich zur Begrüßung.

Ada hatte Charlotte, die nun Mrs. Craig Winters hieß, seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesehen, und so gab es viel zu erzählen. Sie plauderten bereits angeregt, während die Kellnerin sie zu der sonnigen Nische führte, die Stammgästen vorbehalten war.

»Wie herrlich«, sagte Ada und schaute sich um. »Ich muß es unbedingt Connie empfehlen, hierher zu kommen, wenn sie das nächste Mal in der Stadt ist.«

»Wie geht es ihr?«

»Sehr gut. Harry ebenfalls. Seit Pa tot ist, hat er sich als Fels in der Brandung erwiesen. Er ist ein ebenso guter Verwalter für Lochearn wie Victor für Springfield. Du solltest die beiden mal zusammen erleben, das ist wie bei Pa und Austin früher; wenn sie nicht gerade ihre Aufzeichnungen vergleichen, streiten sie über irgend etwas …«

»Aber sie verstehen sich gut?« wollte Charlotte besorgt wissen.

»Natürlich, das ist doch alles nur Schau. Im Grunde sind sie die besten Freunde. Connie und Louisa kommen auch gut miteinander aus; die beiden sind das gesellschaftliche Rückgrat des Bezirks. Aber ich muß sagen, Harry ist und bleibt mein Liebling, ein richtiger Schatz.«

»Das kann ich mir vorstellen. Ich habe es sogar läuten hören, daß du ihn als deinen Schwiegersohn vorgestellt hast«, bemerkte Charlotte lächelnd.

»Na ja, ein bißchen Angeberei muß sein. Ich hatte nie Kinder und genieße die Enkel nun um so mehr. Die Jungen nennen mich Oma, das finde ich wunderbar. Nach den beiden Söhnen wünsche ich mir von Connie nun noch eine Enkelin.«

Sie hielt inne. »Du lieber Himmel, ich hoffe, es macht dir nichts aus. Schließlich sind es in Wirklichkeit deine Enkelkinder, aber dich rufen sie ja Nanny. Ich will dich nicht von deinem Platz verdrängen. Aber ihre Großmutter mütterlicherseits besucht sie ohnehin nie auf der Farm.«

»Schon gut«, sagte Charlotte traurig.

Doch Ada Crossley in ihrer direkten Art konnte es nicht einfach auf sich beruhen lassen. »Sag es mir nur, wenn ich dich gekränkt haben sollte. Ich wollte dich nicht verletzen. Ich meine, die Kinder sind und bleiben doch Brodericks. Sei mir bitte nicht böse.«

Charlotte sah durchs Fenster hinaus auf den Fluß, wo sich gerade eine kleine Fähre ans andere Ufer kämpfte. »Nein, darum geht es nicht.«

»Worum dann? Irgend etwas stimmt doch nicht. Du solltest es mir besser sagen, bevor Craig auftaucht. Bist du unglücklich in eurer Ehe? Ich habe gehört, ihr wärt wie die Turteltauben …«

»Das stimmt auch.« Charlotte verbarg ihr Gesicht und kramte nach einem Taschentuch, um die aufsteigenden Tränen abzuwischen. »Damit hat es nichts zu tun. Ada, Rupe … er hat heute Geburtstag.«

»Mein Gott.«

Sie saßen schweigend da, bis sich Charlotte wieder gefaßt hatte.

»Nicht ein Wort?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben in aller Welt Erkundigungen eingezogen, weil er immer gesagt hatte, er wolle auf Reisen gehen. Nichts. Wir wissen nur, daß er sich einige Tage in Brisbane aufhielt, nachdem er Springfield verlassen hatte. Er besuchte diese frühere Gouvernante von Teddy, saß mit Freunden in einer Bar zusammen und ist dann verschwunden. Seither haben wir nichts mehr von ihm gehört.«

»So wie ich Rupe kenne, ist er in Europa und lebt dort in Saus und Braus. Er wird irgendwann unangekündigt heimkommen, um dich zu überraschen. Du weißt doch, wie er ist.«

»Schön wär’s, aber ich glaube nicht daran. Die Pastoral Company läuft übrigens gut, ich habe einen Trust auf Rupes Namen eingerichtet, in den jeder Penny seines jährlichen Gewinnanteils einbezahlt wird.«

»Gut, dann erwartet ihn bei seiner Heimkehr eine schöne Überraschung«, sagte Ada munter, um Charlotte von ihren trüben Gedanken abzulenken. »Dein verlorener Sohn wird aus allen Wolken fallen, wenn er erfährt, daß er zu einem reichen Mann geworden ist. Und reich wird er doch sein, oder nicht? Zumindest unsere eigenen Gewinne können sich sehen lassen, und die sind doch bestimmt mit denen von Springfield vergleichbar.«

Charlotte sah sie an. »Eines kann ich dir mit Sicherheit sagen, Ada. Ich kenne Rupe. Er würde wissen, daß hier Geld zu holen ist, und es nicht einfach jahrelang liegen lassen. Er kann nie genug davon haben.«

Sie sah auf ihre Hände nieder, die wie im Gebet gefaltet waren. »Nein, er ist tot. Das spüre ich. Auch seine Brüder wissen es, bemühen sich aber, mir gegenüber den Schein zu wahren.«

»Das tut mir unendlich leid, meine Liebe.«

Charlottes Stimme klang gequält. »Wie lange sollen wir noch so weitermachen? Wir haben nie eine Messe lesen lassen, nicht einmal einen Gedenkgottesdienst abgehalten. Er ist nicht zur letzten Ruhe gebettet worden.«

Ada, die jetzt auch den Tränen nahe war, wußte keinen Rat.

»Charlotte, ich kann dir wirklich nicht helfen. Du solltest mit Craig darüber sprechen.«

 

Charlottes Mann wartete in seinem Zimmer auf Teddy Broderick, der jeden zweiten Samstag das Internat verlassen und mit seinen Großeltern in der Stadt essen durfte. Er freute sich jedesmal schon lange im voraus darauf. Teddy war ein hübscher, hochgewachsener Bursche mit den kräftigen Gesichtszügen der Brodericks und einem kupfernen Schimmer im Haar, über den sich Charlotte besonders freute. Ihre drei Söhne hatten das blonde Haar ihres Vaters geerbt, doch bei ihrem Enkel hatte sich ihre eigene Haarfarbe durchgesetzt.

Victor zog sie gern damit auf und erklärte, die Sonne von Springfield würde Teddy das Haar schon bleichen, wenn er erst wieder dort lebte, doch Charlotte war nicht zu überzeugen. Sie glaubte fest daran, daß das Rot mit der Zeit noch deutlicher hervorkäme, zumal Harrys Söhne ebenfalls blond waren. Inzwischen war es bei ihnen zu einer Art Familienwitz geworden.

Craig Winters lächelte. Seine Ehe mit Charlotte hatte ihm mehr Glück beschert, als er je glaubte zu verdienen. Selbst kinderlos, hatte er nun nicht nur eine wunderbare Frau, sondern eine ganze Familie mit dazu, die er wie seine eigene liebte.

Sein Sekretär klopfte und kündigte mit einem Seufzer an, daß ein Klient im Vorzimmer warte.

»Wer ist es denn? Ich erwarte für heute niemanden mehr.«

»Ein Kapitän Logan«, sagte der Sekretär mit hochgezogenen Augenbrauen. »Jedenfalls nennt er sich so.«

»Haben Sie ihm gesagt, daß ich heute nur halbtags geöffnet habe? Ich muß gleich weg.«

Ein stämmiger Mann in Seemannskleidung schob sich ins Zimmer und hinkte auf den Schreibtisch zu. »Ich will Sie nicht lange aufhalten, Sir. Ich möchte nur mein Testament machen, ein paar Zeilen. Kriegen Sie das hin, Mr. Winters, oder soll ich mir einen anderen Rechtsverdreher suchen?«

Craig starrte ihn an. Das Gesicht des alten Knaben verschwand beinahe hinter dem ungepflegten grauen Bart und den überlangen Koteletten. Auf dem Kopf saß eine schwarze Mütze, die er beim Eintreten nicht abgenommen hatte. Die Augen unter den buschigen Brauen wirkten hart.

Craig sah auf die Uhr. »Ich habe wirklich nicht viel Zeit.«

»Ich kann Sie bezahlen, wenn es das ist, was Ihnen Kopfzerbrechen macht. Ich will mir von Ihnen nur ein Testament aufsetzen lassen.«

»Es ist keine Frage des Geldes …«

»Gut. Wir haben alle zu tun, Mr. Winters, ich mache es kurz.« Logan pflanzte sich auf einen Stuhl dem Schreibtisch gegenüber und rief nach draußen: »Komm her, Robbie, mein Junge. Du mußt mit dabei sein.«

Craig gab es auf. Es hatte keinen Sinn, diese Landplage wegschicken zu wollen. Erstaunt sah er den jungen Aborigine an, der zur Tür hereinspähte.

»Komm schon, komm schon«, forderte ihn Logan ungeduldig auf. »Setz dich hin. Der Herr hier hat nicht den ganzen Tag Zeit.«

Der junge Bursche trug die gleiche Kleidung wie Logan: schwarzes Wams, Latzhosen und Segeltuchschuhe. Er wirkte sauber und ordentlich. Zögerlich setzte der Anwalt sich hin und nahm einen Stift zur Hand.

»Sehr schön. Was genau kann ich für Sie tun?«

Der angebliche Kapitän verschwendete keine Zeit. »Gut. Schreiben Sie: Mein Name ist Kapitän Theo Logan.«

»Theobald?«

»Nein, nur Theo. Und das hier ist Robert Burns, mein Junge. Ich hab’ ihn aufgezogen, er arbeitet auf meinem Boot. Vielleicht kennen Sie die Marigold?«

»Natürlich kenne ich sie.«

»Na, dann wissen Sie auch, wer ich bin.«

Craig nickte und schrieb. Nun konnte er sein Gegenüber einordnen. Logan galt als Original und war entlang des gesamten Flusses wohlbekannt.

»Die Sache ist so. Ich komme langsam in die Jahre. Kann nicht mehr gut sehen, und die Pumpe will auch nicht mehr so recht. Also frag’ ich mich, was aus der Marigold wird, wenn ich den Löffel abgebe. Robbie hier kennt das Boot und das Geschäft, hat schließlich auf dem Schiff gearbeitet, seit er so klein war. Schreiben Sie ein Testament, in dem ich ihm das Boot und alle weltlichen Güter hinterlasse. Geht das?«

»Ja. Ich brauche dazu nur Ihrer beider Anschrift.«

»Die haben Sie doch schon. Marigold. Wir leben beide an Bord. Er ist eine Waise, hat niemanden außer mir. Wenn ich abtrete, ist das Schiff sein Lebensunterhalt. Er kann sonst nichts.« Der Kapitän beugte sich vor. »Sie sehen mir wie ein ehrlicher Mann aus. Ich will, daß es eine absolut wasserdichte Sache wird, ist das klar? Keiner soll ihm sein Recht streitig machen können, bloß weil er schwarz ist. Gibt zu viele Schweine, die Schwarze übers Ohr hauen. Das soll ihm nicht passieren. Verstehen Sie mich?«

»Selbstverständlich.«

»Das wär’s dann. Schreiben Sie es auf, dann sind Sie uns los.«

»Einen Moment, Kapitän. Ich kann dieses Dokument aufsetzen, aber es braucht ein wenig Zeit. Nächste Woche ist es fertig.«

»Ich wollte es aber jetzt. Ich habe das Geld dabei.«

Robbie stand auf und tippte Logan auf die Schulter. »Laß gut sein, Kapitän.« Mit einem selbstsicheren Grinsen wandte er sich an Craig. »Dieser Herr weiß, was zu tun ist. Er muß es so machen, wie es sich gehört.« Seine Stimme wurde sanft, als er Logan ansah. »Du wirst weder nächste Woche noch nächstes Jahr sterben. Den entscheidenden Schritt, an dem dir so viel lag, hast du nun getan, überlassen wir Mr. Winters alles Weitere.«

Der alte Mann erhob sich brummend. »Hoffentlich. Das hier darf nicht schiefgehen.«

»Ich werde mich darum kümmern, Kapitän Logan. Ich setze Ihr Testament auf, und nächste Woche können Sie es unterzeichnen.«

»Dann ist alles legal?«

»Auf mein Wort.«

»Gut. Hand drauf.« Craigs Hand verschwand in seiner schweren Pranke.

»Du auch, Robbie«, bellte Logan. »Schüttle ihm die Hand. Du hast jetzt einen Anwalt. Sieh zu, daß du alles Nötige unternimmst, wenn es soweit ist.« Er zwinkerte Craig zu. »Sonst schicke ich dir einen Teufel hinterher.«

Er bemerkte, daß Craig auf die Uhr sah, und sagte verärgert:

»Den Wink können Sie sich sparen, Mister. Wir gehen ja schon!«

Der Anwalt stammelte eine Entschuldigung. »Nein, es tut mit leid, kein Grund zur Eile. Ich wollte nur sehen, wie spät es ist, weil ich meinen Enkel erwarte. Er müßte eigentlich schon da sein.« Er sprach gern von Teddy als seinem Enkel und sah plötzlich, daß er da mit Theo Logan etwas gemein hatte. Auch er war unverhofft zu einem Enkel gekommen. Also gab es doch einen Gott.

»Er müßte ungefähr so alt sein wie du, Robbie«, fügte er hinzu und erntete vom Kapitän ein anerkennendes Nicken.

 

Teddy schlenderte auf dem Weg zu Grandpa Winters’ Kanzlei gemütlich die Queen Street entlang. Er war hinsichtlich dieser Samstagsausflüge immer ein wenig hin- und hergerissen. Charlotte und Craig waren ein nettes, altes Paar, nicht so steif und pompös wie Richter und Nana Walker, die ihn sonntags gelegentlich zu sich einluden. Glücklicherweise nicht allzu oft, wie er in Gedanken hinzufügte. Die Sonntagsnachmittagstees bei ihnen waren allein schon deshalb fürchterlich, weil er sich die Vorträge des Richters über die Sünden der heutigen Jugend anhören mußte. Außerdem war er geizig, mehr als drei Pence waren bei ihm nicht zu holen, während Grandpa Winters ihm immer zehn Shilling zusteckte. Nanny übrigens auch, dachte er grinsend.

Dennoch langweilte es ihn, sich jedesmal die gleichen Fragen gefallen lassen zu müssen, während sich die Jungs in der Schule beim Sport austoben durften. Andererseits gingen sie mit ihm in schicke Restaurants, wo er essen konnte, bis er platzte. In der Schule konnte er dann genüßlich jedes Fitzelchen, das er gegessen hatte, bis ins letzte Detail beschreiben und seine Freunde damit ärgern, vor allem die Desserts: Regenbogeneis, dreistöckige Schokoladentorten mit zentimeterdicker, auf der Zunge zergehender Glasur und Tonnen von Schlagsahne.

Dabei fiel ihm ein, daß er sich beeilen mußte. Er verließ das Geschäft, in dem er die allerneuesten Fahrräder bewundert hatte, und legte einen Schritt zu. Richter Walker ging wie selbstverständlich davon aus, daß er nach der Schule Jura studieren würde, auch Grandpa Winters sähe es gern. Sie hatten sogar seinen Vater bedrängt, ihm in diesem Sinne zuzureden, doch Victor war der Ansicht, er solle selbst entscheiden.

»Und ob«, sagte Teddy zu sich. Er ging jedem Streit mit dem zänkischen Richter wohlweislich aus dem Weg, denn die Zeit im Internat hatte ihn gelehrt, den Mund zu halten, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten. In Richter Walkers Haus hatten Kinder ohnehin nur höflich zuzuhören und zu allem ja und amen zu sagen. Doch insgeheim schmiedete Teddy eigene Pläne. Sobald er die Schule beendet hätte, wollte er nach Springfield heimkehren. Er wußte, er gehörte dorthin, und war bereit, bei Null anzufangen und sich vom Viehhüter hochzuarbeiten.

Sein Vater würde zweifellos sehr glücklich darüber sein, auch wenn er ihn nie gedrängt hatte, weil er selbst vom alten Grandpa Austin seinerzeit so unter Druck gesetzt worden war. Er vermied es sogar, mit ihm über seine Zukunft zu sprechen, was Teddy zunächst sehr enttäuscht hatte, bis Onkel Harry ihm die Zusammenhänge erklärte. Außerdem war Victor kein Mann großer Worte, neigte nicht zu langen Diskussionen und haßte Auseinandersetzungen. Er wollte für seinen Sohn einfach nur das Beste.

»Du sollst tun können, was du willst«, hatte Harry gesagt. »Aber natürlich liegt es ihm am Herzen, laß dich durch seine Schweigsamkeit nicht täuschen.«

Teddy mochte Onkel Harry gern; bei ihm gab es immer was zu lachen. Er bat den Schulleiter nie um Erlaubnis für einen Besuch, sondern tauchte einfach gelegentlich auf dem Schulhof auf, wenn er in der Stadt war. Dann brachte er eine Riesendose Karamelbonbons oder Kekse mit und steigerte damit noch die Beliebtheit seines Neffen bei seinen Kameraden.

Teddy registrierte es mit einem Grinsen.

Harry glaubte ebenfalls, daß Teddy nach Springfield gehörte und diesem Weg folgen sollte, wenigstens für ein paar Jahre. »Und was kommt danach?« hatte Teddy überrascht gefragt. »Dann gehst du wieder zur Schule. In Victoria eröffnet demnächst eine landwirtschaftliche Fachschule, das Dookie-College. Heutzutage mußt du mehr über Schafzucht wissen, als irgendein Viehhüter dir beibringen kann. Arbeite ein paar Jahre in dem Beruf und lerne dann, wie man eine Farm richtig führt.«

»Warum kann ich nicht direkt von der Schule aus hingehen?«

»Weil du auf einer leeren Wiese sitzen würdest. Sie fangen gerade erst an zu bauen. Außerdem kann es nicht schaden, wenn du dir erst einmal ein paar praktische Kenntnisse aneignest. Du bist zwar auf Springfield aufgewachsen, weißt aber so gut wie gar nichts von der Arbeit auf einer Farm.«

Das also war sein Plan.

»Soll ich an meinen Vater schreiben und ihm davon berichten?« hatte er Harry gefragt.

»Ja, dann fühlt er sich besser und wird höllisch stolz auf dich sein. Aber du solltest dich mehr um die Schule kümmern. Wie ich höre, sind deine Zeugnisse höchstens mittelmäßig. Du wirst wie ein Trottel dastehen, wenn dich das Dookie-College nicht aufnimmt. Der Andrang wird groß sein, und sie nehmen sicher nur die Besten.«

Zur großen Überraschung seiner Lehrer entwickelte sich Teddy Broderick nach diesem Gespräch zu einem Büffler sondergleichen. Der Gedanke an die zahlreichen Abenteuer, die vor ihm lagen, beflügelte ihn dabei sehr, nicht zuletzt die Reise nach Victoria, dem Staat weit unten im Süden, wo er lernen würde, wie er seinem Vater am besten zur Seite stehen konnte.

 

Bobbo schob den Kapitän durchs Vorzimmer der Kanzlei. Er war traurig, schrecklich traurig. Sein beflissenes Lächeln war verschwunden, denn er hatte seine Rolle, die er auf wütende Anweisung des Kapitäns gespielt hatte, abgelegt. Eigentlich hatte er gar nicht herkommen wollen. Das Gerede über das Testament, den Todespakt, machte ihm angst. Es war, als fordere man das Schicksal heraus, als treibe man Scherze mit den Geistern, als gehe man über sein eigenes Grab und trotze den Elementen.

Sie hatten monatelang deswegen gestritten, bis der Kapitän erklärte, dann wolle er eben allein gehen, doch das konnte Bobbo nicht zulassen. So flink Logan sich an Bord auch bewegen mochte, in der Stadt mit ihrem gefährlichen Verkehr war er nicht sicher. Sein Sehvermögen ließ rasch nach. Wenn er nicht aufpaßte, würde er unter die Hufe der Pferde geraten.

Bobbo hatte mit befreundeten Stammpassagieren über das Leiden des Kapitäns gesprochen, und sie hatten ihm einige Ärzte empfohlen, doch Logan weigerte sich strikt, sie aufzusuchen. Er sagte, sein Augenlicht läge in der Hand Gottes und nicht in der irgendwelcher Kurpfuscher. Darauf wußte Bobbo keine Antwort, machte sich aber dennoch weiterhin Sorgen.

Obwohl er all die Jahre unter dem Namen Robbie gelebt und nie daran Anstoß genommen hatte, da er dem Kapitän das Recht zugestand, einen Namen für ihn auszusuchen, hielt er unverwandt an seiner Identität fest. Er bewahrte seinen wirklichen Namen wie einen Schatz, den er niemals preisgeben würde, zumal er die letzte zerbrechliche Verbindung zu seiner verlorenen Familie bedeutete. Er dachte selten an jenen Teil seines Lebens zurück, der wie ein bedrückender Traum für ihn war, nämlich der, in dem seine Mutter ertrank. Nicht in reißenden Fluten, sondern in ungefährlichen Gewässern. Dieser Punkt verwirrte ihn immer wieder aufs neue. Eines wußte er jedoch ganz genau: Immer wieder rief sie in diesem Traum seinen Namen und legte ihre ganze wunderbare, zärtliche Liebe hinein.

Mit der Zeit hatte er sich vom Kabinenjungen zum ersten Maat einer dreiköpfigen Mannschaft hochgearbeitet. Ihr derzeitiger Matrose war ein Chinese namens Willy Chong, der schon seit Jahren mit ihnen fuhr, da er fähig, klug und zuverlässig war. Und taub. Die Beleidigungen und Beschimpfungen des Kapitäns prallten an ihm ab. Auf seinem Gesicht stand immer ein leicht entrücktes Lächeln.

So waren sie mit der Zeit zu einer Familie geworden. Einer netten Familie mit Nähe und Abstand. Zu dritt lebten sie auf dem Boot. Der Kapitän war der unumstrittene Chef; von dem ungefähr zwanzigjährigen Willy war nichts zu erfahren über ihn selbst oder seine Vergangenheit. Trotz seines Alters sehnte sich Bobbo in geradezu kindlicher Weise nach einer Geborgenheit, die ihm die Männer nicht geben konnten, so sehr er sich auch bemühte, den sentimentalen Gedanken an eine Heimkehr zu verdrängen. Hätte es ein Zuhause gegeben, hätte der Kapitän es zweifellos für ihn gefunden. Also blieb ihm nur der Name Bobbo, den er hütete wie einen Talisman. Er war sein Zwilling, sein Vertrauter, sein Freund.

Der Kapitän war so verdammt eigensinnig, daß er sich hartnäckig geweigert hatte, für den Weg in dieses schicke Anwaltsbüro einen Gehstock zu Hilfe zu nehmen. Also führte Bobbo ihn vorsichtig über den glatten Linoleumboden. In dem langen Flur kam ihnen ein hochgewachsener Junge entgegen, vermutlich Mr. Winters’ Enkel. Mußte etwa in seinem Alter sein, war aber größer als er selbst. Größer und dünner. Bobbo war auf einmal stolz auf seinen harten, muskulösen Körper. Diesen Burschen hätte er in Sekundenschnelle zu Fall gebracht. Er bemerkte seine elegante Kleidung und sah ihn verächtlich an.

Aus Gewohnheit machten der Kapitän und Bobbo dem Jugendlichen Platz, der ihnen höflich zunickte und das Büro seines Großvaters betrat. Das gefiel Bobbo. Manche Leute schoben den Kapitän einfach beiseite.

Logan war bereits auf dem Weg zur Tür und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, doch Bobbo zögerte noch und folgte dem Jungen mit den Augen. Die Neugier trieb ihn dazu, einen Blick in eine andere Welt zu werfen, die Welt dieses wohlhabenden Schuljungen, dessen Großvater eine bedeutende Persönlichkeit zu sein schien. Ein Rechtsanwalt. Wie mochte es sich leben als Angehöriger der weißen Oberschicht?

Der hochnäsige Sekretär hatte ihn an die gemeinen Kerle in den schäbigen Hafenbüros erinnert, die ihn warten ließen und wie Dreck behandelten, weil er ein Abo war. Daran war er gewöhnt. Doch Mr. Winters’ Sekretär hatte den Kapitän ebenfalls mit diesem eisigen, beleidigenden Blick bedacht, als habe er kein Recht, hier zu sein, und verschmutze die Luft oder den Boden.

Logan hatte es aufgrund seiner schlechten Augen nicht bemerkt, sonst wären sie binnen einer Minute wieder auf der Straße gewesen. Oder er hätte dem höhnisch grinsenden Kerl den Hals umgedreht.

Bei diesem Gedanken hielt Bobbo inne. Er wollte nur hören, wie dieser gleichaltrige Junge empfangen wurde. Der Junge, der so elegant war und bestimmt die Macht besaß, jedes höhnische Grinsen verschwinden zu lassen, wenn ihm danach war. Er hoffte, der Sekretär möge den Jungen ebenso grob behandeln wie ihn, was er natürlich nicht tat.

Er hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde, als der Sekretär aufstand und ihn in kriecherischem Ton begrüßte. Seine Stimme klang schrill.

»Oh, guten Morgen! Verzeihen Sie, ich meine guten Tag, es ist schon nach zwölf. Guten Tag, Master Broderick. Kommen Sie herein, Ihr Großvater erwartet Sie bereits. Treten Sie bitte ein …«

Die Stimme verstummte, doch Bobbo stand stocksteif da. Irgend etwas kam ihm vertraut vor. Am liebsten wäre er hineingegangen, um einem verschwommenen Klang, einem unbestimmten Gefühl zu folgen. Es hatte mit diesem Jungen zu tun, vielleicht mit seinem Namen. Was war es nur? Er konnte nicht vor noch zurück. Seine Füßen waren wie angewurzelt. Er mußte unbedingt diesem reichen Jungen folgen, ihn festhalten, ihn bitten mit ihm zu sprechen! Seine Gedanken wirbelten durcheinander wie eine Spirale, in deren Zentrum der Junge stand. Er kannte ihn, da war er ganz sicher! Sein Lächeln hatte echt gewirkt, sanft und freundlich. Er kannte es von irgendwoher.

»Willst du den ganzen Tag da stehenbleiben?« bellte der Kapitän vom Ende des Flurs und brach damit den Zauber.

Bobbo tauchte ein wenig aus seiner Versunkenheit auf. Wie war er nur auf die Idee gekommen, er könnte einen so eleganten Jungen kennen? Doch der Name hatte wie ein Signal gewirkt, das ihn in eine ferne Vergangenheit stieß, hin zu diesem Jungen, der so alt sein mochte wie er selbst. Wie gebannt bewegte er sich auf die Tür zu, hörte, wie der Junge von seinem Großvater begrüßt wurde … hörte plötzlich Lachen und Scherze, roch warmes Brot in einer Küche, war umgeben von Frauen, atmete Staub ein, den allgegenwärtigen Staub, sah das glückliche Spiel am Flußufer, das Seil, mit dem sie sich übers Wasser geschwungen hatten …

»Was ist los mit dir?« rief der Kapitän, dessen gebeugte Silhouette sich vor der Eingangstür abzeichnete. Der Augenblick der Erinnerung glitt davon.

Bobbo schüttelte die nostalgische Stimmung ab und fragte sich, was sie ausgelöst haben mochte. Die Tatsache, daß der Junge einem alten Mann und einem Schwarzen höflich begegnet war, machte ihn noch lange nicht zu einem Freund; er hatte Bobbo gar nicht richtig wahrgenommen. Dennoch, es war eine ungewöhnliche Begegnung gewesen, die er dem Kapitän gegenüber niemals erwähnen würde.

»Wie lange soll ich denn noch warten?« brüllte Logan jetzt wütend.

Bobbo zuckte die Achseln. »Ich komme schon.«

Teddy Broderick öffnete die Tür, um nach der Quelle des Lärms zu sehen, doch er bemerkte nur, wie der schwarze Junge den Flur entlanglief. Eine Sekunde lang empfand auch er ein Gefühl von Nostalgie. Als er sehr klein gewesen war, hatte er mit schwarzen Kindern gespielt, die immer noch einen besonderen Platz in seinem Herzen einnahmen.

Dann wandte er sich wieder seinem Großvater zu, der darauf drängte, Nanny nicht zu lange warten zu lassen.

Als Teddy kurz darauf noch einmal auf den Flur hinausschaute, waren der alten Mann und der junge Schwarze verschwunden.