3. Kapitel
Der Frühnebel schwebte geheimnisvoll über dem Fluß. Wasservögel auf langen Stelzbeinen wateten durchs seichte Wasser und schenkten der Frau, die allein am abschüssigen Ufer stand, keine Beachtung. Sie schaute auf den Fluß hinaus, als könne sein gemächliches Dahinfließen ihre Ängste vertreiben.
Charlotte war die ganze Nacht an Austins Seite geblieben, hatte versucht, seine Schmerzen zu lindern, für ihn gebetet, ihn getröstet. Aber würde er je wieder gesund werden? Sein Sprachvermögen hatte schwer gelitten, und anscheinend konnte er den rechten Arm nicht bewegen. Schlimmer noch, er war sich dessen bewußt und reagierte mit Zorn, verzweifeltem Zorn darauf. Sie betete, daß der Arzt bald kommen möge, um ihn zu beruhigen und ihm Zuversicht zu schenken. Rupe war bestimmt geritten wie der Teufel, aber was, wenn Dr. Tennant außer Haus war? Ein Landarzt konnte sich überall im Bezirk aufhalten.
»Bitte, Gott, laß Rupe ihn finden, und zwar schnell. Ich weiß nicht mehr aus noch ein. Wenn er nun noch einen Schlaganfall erleidet? Oh Gott, laß ihn nicht sterben.«
Tränen liefen ihr übers Gesicht. Charlotte beugte sich nieder und benetzte ihre Augen mit dem kalten Flußwasser, damit er nicht merkte, daß sie geweint hatte. Ihr Kopf wurde dadurch wieder etwas klarer. Sie fühlte sich erfrischt, die Müdigkeit war verflogen.
Zögernd ging sie zum Haus zurück. Sie konnte es kaum ertragen, Austin, der stets so voller Leben war, in diesem Zustand zu sehen. Aber Louisa war ebenfalls die ganze Nacht auf gewesen und sollte sich nun ein wenig hinlegen können. Als Charlotte den Hof überquerte, schoß der Reverend auf sie zu. »Guten Morgen, meine Liebe. Wie geht es dem Patienten?«
»Keine Veränderung, danke der Nachfrage. Wir warten auf den Arzt, Mr. Billings. Ich hörte, Sie gedenken heute morgen aufzubrechen. Sie müssen aber nichts übereilen.«
»Leider doch. Ich hatte gestern abend eine Unterredung mit Mr. Broderick, es ging um die schwarzen Kinder. Er war ganz begeistert von unserem Programm und zeigte sich sehr großzügig. Er diktierte einen Brief an meinen Bischof, die Betreuung der drei Jungen betreffend, begleitet von einer generösen Spende …«
»Ich bin froh, daß er zugestimmt hat«, sagte Charlotte eilig.
»Sie halten uns doch über ihre Fortschritte auf dem laufenden?«
»Natürlich. Ich hoffe, Sie denken nicht, daß unsere kleine Unterhaltung diese schlimme Wendung herbeigeführt hat. Ich habe ihn nicht aufgebracht, er war guter Dinge während unseres Gesprächs …«
»Ja, dessen bin ich sicher …«
»Es war der Brief. Der hat ihn so erregt.«
»Welcher Brief?«
»Von seiner Bank. Darin warnte man ihn vor irgendeinem Gesetz. Sogar während er zusammenbrach, als er sich bereits vor Schmerzen wand, hat sich dieser gute Mann mir noch anvertraut. Er sagte: ›Ich hätte nie gedacht, daß es soweit kommen würde. Ich wollte sie nur auf Trab bringen.‹«
»Wo ist dieser Brief?«
»Auf dem Schreibtisch Ihres bedauernswerten Mannes, würde ich sagen. Oder vielleicht auf dem Boden. Es tut mir sehr leid, ich hatte keine Zeit, ihn an mich zu nehmen …«
»Schon gut. Wann brechen Sie auf?«
»Wenn wir ein zeitiges Frühstück bekommen könnten …«
»Ja, natürlich. Ich spreche mit der Köchin, Mr. Billings. Jetzt muß ich aber gehen. Ich komme mich von Ihnen verabschieden, sobald Sie reisefertig sind.«
Charlotte fand Victor neben Louisa am Krankenbett. Sie nahm ihn beiseite.
»Weißt du etwas über einen Brief von der Bank?«
»Nein.«
»Komm, wir suchen danach. Vermutlich hat der ihm diesen Schock versetzt.«
Victor fand das verhängnisvolle Blatt Papier neben Austins Schreibtisch auf dem Boden. Er überflog den Wortlaut und nickte dann. »Es ist durch, Mum. Das Land ist nun freigegeben, und wenn wir es behalten wollen, müssen wir es kaufen.«
»Aber Harry hat doch gesagt …«
»Dad hatte recht«, sagte Victor zähneknirschend. »Harry ist ein Windbeutel. Ich hoffe, Rupe denkt daran, ihm von Cobbside aus ein Telegramm zu schicken. Ich drehe Harry den Hals um, wenn ich ihn sehe …«
Charlotte brachte ihn zum Schweigen. »Das wirst du schön bleibenlassen. Wir haben ohnedies Schwierigkeiten genug. Dein Vater steht das nicht durch. Und erwähne bitte nichts davon in seiner Gegenwart. Er ist zu krank, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, und kann sich an den Brief vielleicht gar nicht mehr erinnern.«
»Da kennst du Vater aber schlecht«, murmelte Victor zwischen den Zähnen, während Charlotte an die Seite ihres Mannes eilte. Beim Aufräumen hatte sie alle Landkarten in einem Schrank verstaut und dabei alte mit neuen vermischt. Victor hatte sie stöhnend mit in sein Büro genommen, um sie zu ordnen. Er und Rupe hatten eine Menge Arbeit vor sich. Der alte Mann hatte ihnen einen Ausweg aus dem Dilemma gewiesen, und Victor war fest entschlossen, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er trat auf die Veranda hinaus und schaute über das Tal.
»Keine Sorge, alter Junge«, murmelte er. »Sie werden uns nicht kleinkriegen. Springfield wird überleben, das verspreche ich dir.«
Amy verließ Springfield nur ungern, da sie der Gedanke an die beschwerliche Reise und die Rückkehr in ihre schäbige Unterkunft in Brisbane schreckte. Ihr ganzer Besitz füllte nicht einmal diesen rumpelnden Wagen aus. In der Stadt lebten sie in einer drittklassigen Pension. Die Besitzerin war eine alte Dame, die ebenfalls ihrer Kirche angehörte. Gerüchteweise hatte sie dem Bischof das Haus laut Testament überschrieben, obgleich es vermutlich keinen großen Wert besaß, da es dort von Flöhen und anderem Ungeziefer nur so wimmelte. Zum ersten Mal, seit sie den Weg der Erlösung eingeschlagen hatten, beklagte sich Amy bei Tom über den Dreck, in dem sie leben mußte. Ihre Zweifel hatten ihn erschüttert, da er sie als Zeichen dafür hielt, daß sie bei Gott in Ungnade gefallen war.
Er hatte im Namen des Herrn verlangt, daß sie niederkniete und Armut und Demut schwor. Wie immer hatte Amy sich danach besser gefühlt und die schäbige Umgebung als Teil ihrer Pflichterfüllung akzeptiert. Sie bewunderte Tom, der sich nie beklagte, für seine stoische Haltung.
Nun mußte sie allerdings zugeben, daß der Aufenthalt in diesem prächtigen Haus sie verunsichert hatte. Als Mrs. Broderick sie nach ihrem Heim gefragt hatte, war ihre Antwort frei von jeder Demut gewesen. Ihren Worten zufolge wohnten sie in dem schmucken Vorort Hamilton und nicht in einer schäbigen Gasse in der Innenstadt. Tom hatte ihre Lüge zum Glück nicht gehört.
»Wie nett«, hatte Mrs. Broderick geantwortet. »Hamilton ist sehr hübsch am Fluß gelegen. Ich habe selbst oft davon geträumt, dort zu wohnen.«
Seufzend sah Amy zu, wie Tom die Pferde einspannte. Es war nur eine kleine Lüge gewesen.
Als ein Mann sie von hinten am Arm berührte, schrak sie zusammen.
»Entschuldigung, Missus, ich bin der Lagerverwalter. Mrs. Broderick sagt, die sind für Sie. Soll ich sie in den Wagen packen?«
Er wies auf zwei Kartons.
»Was ist da drin?«
»Kinderkleidung. Decken. Spenden für Ihre Organisation.«
»Oh, vielen Dank. Stellen Sie sie bitte in den Wagen.« Sie rief Tom zu: »Sieh mal, Mrs. Broderick hat uns Kleider gegeben.«
»Wir haben ihre Kleider nicht nötig«, versetzte er in scharfem Ton, da er sie falsch verstanden hatte. »Laß nur, ich sehe sie mir gleich an. Steig ein, Amy, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Sie nahm auf dem Bock Platz, zog das Band ihrer Haube fest, spannte den Sonnenschirm auf und setzte ein tapferes Lächeln auf. Der Wagen fuhr langsam zum Vordereingang, wo Tom anhielt, die Zügel festband und hinuntersprang.
»Du bleibst hier. Ich sehe zu, daß ich Mrs. Broderick auftreibe, damit wir uns von ihr verabschieden können.«
Die Herrin des Hauses kam als einzige heraus, um ihnen Lebewohl zu sagen, was Amy als Kränkung empfand. Charlotte schüttelte Tom die Hand und wollte gerade zu Amy gehen, als zwei Reiter den Hügel heraufpreschten.
»Gott sei Dank!« rief sie. »Da kommen Rupe und der Arzt!« Sie zögerte, als wolle sie noch etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders. »Gute Reise, Mrs. Billings. Ich muß mich beeilen. Auf Wiedersehen.« Mit diesen Worten hastete sie den Reitern entgegen.
»Kein Grund für uns, länger hierzubleiben«, sagte Tom und stieg auf. »Los geht’s!«
Er ließ die Zügel knallen, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Bevor sie auf der kreisförmigen Auffahrt den Schatten der Bäume erreichten, lenkte Tom den Wagen auf einen Weg, der über die Koppel zu einem Seitentor führte. Amy öffnete und schloß das Tor, und sie fuhren durch den Busch zum Lager der Schwarzen. Es war an der Zeit, die Kinder zu holen.
Im Lager war es ruhig. Die Sonne war vor vier Stunden aufgegangen, der Tag hatte für die Schwarzen längst begonnen. Die alten Männer hatten sich unter ihrem Lieblingsbaum versammelt, die Frauen liefen geschäftig umher oder hockten in Gruppen zusammen, während sie das Essen zubereiteten oder mit flinken Fingern Netze zum Fischen flochten. Rechts von dem schmalen Weg, der sich durch das Lager schlängelte, spielten einige Kinder. Lachend und kreischend schwangen sie sich an einem Seil über den Fluß und ließen sich ins Wasser plumpsen.
Die meisten jüngeren Leute, darunter auch Nioka, hatten sich im stetig schwindenden Buschland auf Nahrungssuche begeben.
Alle wußten, daß der Boß krank geworden war. Freundlich, wie sie waren, sorgten sie sich um ihn und schickten ihre Kinder an diesem Tag nicht zu Teddy ins große Haus. Nioka vermutete, daß Minnie den kleinen Jungen schon herbringen würde, wenn er sich einsam fühlte. Hier konnten die Kinder beim Spielen so viel Lärm machen, wie sie nur wollten, und Teddy liebte das sehr.
In der Zwischenzeit genoß sie die Tage, an denen sie mit ihren Freunden Meile um Meile umherwandern, mit ihrem Stock Wurzeln ausgraben, das Land erforschen konnte. Im Busch gab es immer etwas Neues zu entdecken.
Die Leute, die im Lager geblieben waren, sahen den Mann und die Frau kommen. Sie wußten, daß es der Betmann und seine Missus waren. Sie senkten den Blick und schenkten ihnen keine Beachtung. Oft verirrten sich weiße Leute ins Lager und schnüffelten herum, blieben aber für gewöhnlich nicht lange.
Tom sah sich um und verzog das Gesicht, als ihm der Geruch von Staub und verschwitzten Körpern in die Nase stieg. Zwei magere Hunde trotteten neugierig herbei. Er trat nach ihnen und bedeutete Amy, ihm zum Fluß zu folgen, wo die Kinder spielten. Entsetzt sah er, daß auch zwei nackte Frauen mit den Kindern im Wasser planschten. Er blieb abrupt stehen und wandte den Blick ab.
»Diese Frauen sind nackt. Ich kann nicht hinsehen. Geh du hin und suche den Jungen namens Bobbo heraus. Er soll herkommen. Wir müssen mit ihm anfangen, weil er das spricht, was diese Unglücklichen für Englisch halten.«
Amy klammerte sich an den Ästen der Bäume fest und hangelte sich Schritt für Schritt über das glitschige Ufer, bis sie in Rufweite der Kinder war. Es war allerdings schwer, den Jungen zwischen all den braunen Körpern zu entdecken.
Eine Frau mit großen Brüsten und dickem Bauch stand im flachen Wasser. Amy keuchte. Sie war nicht nur nackt, sondern auch noch schwanger! Noch nie hatte sie einen so abstoßenden Anblick ertragen müssen. Sie errötete und wollte davonlaufen, doch die Frau sprach sie mit überraschend sanfter Stimme an.
»Was Sie wollen, Missus?«
»Bobbo«, erwiderte Amy, bemüht, an ihr vorbeizuschauen. Inzwischen waren auch die Kinder auf sie aufmerksam geworden. Die Frau zeigte auf Bobbo, der sofort auf Amy zulief.
»Oh, Himmel«, sagte sie mit einem Blick auf den mageren kleinen Körper. »Wo sind deine Kleider? Oder hast du wenigstens ein Handtuch? Mr. Billings möchte mit dir sprechen.«
Bobbo zuckte die Achseln. »Keine Kleider hier, Missus.« Seufzend nahm Amy ihn mit zu ihrem Mann.
»Du lieber Himmel!« rief dieser. »Nackt vor den Augen einer Frau! Sie kennen wirklich kein Schamgefühl. Komm her, Junge.«
Er schlang dem grinsenden Kind sein Halstuch um die Hüften. »Bobbo, ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen. Hättest du Lust, in meinem Wagen mitzufahren?«
Bobbo nickte begeistert.
»Schön. Leider können wir nur drei Jungen mitnehmen. Deshalb möchte ich, daß du deine Freunde Jagga und Doombie holst. Machst du das?«
Der Junge nickte wieder.
»Dann lauf, und beeil dich.«
Innerhalb kürzester Zeit tanzten drei eifrige kleine Jungen um sie herum. Tom führte sie zum Wagen.
»Sieh in den Kartons nach, ob du dort etwas findest, um sie zu bedecken«, sagte er zu Amy. »So können wir sie jedenfalls nicht mitnehmen.«
Amy stieg auf die Ladefläche des Wagens und durchstöberte Mrs. Brodericks Kisten, während Tom den Versuch unternahm, den Jungen zu erklären, daß er sie auf eine lange Fahrt mitnehmen und in die Schule bringen werde. Er schilderte ihnen die Wunderdinge, die sie unterwegs zu sehen bekämen. Die Kinder hörten nicht zu, sondern kletterten wie die Affen so wild auf dem Wagen herum, daß Tom sie herunterscheuchen mußte.
»Diese Kiste hier ist voller Kinderkleider«, rief Amy. »Sie sind ganz neu!« Sie warf Tom drei Baumwollhemden zu. »Dies müßte reichen, bis wir etwas anderes gefunden haben.« Mit viel Mühe zogen sie den aufgeregten Kindern, die sich dieses Abenteuer auf keinen Fall entgehen lassen wollten und auf den Wagen zurücksprangen, die Hemden über.
Tom keuchte vor Anstrengung. »Endlich. Jetzt können wir aufbrechen.«
Da tauchte die schwangere Frau aus dem Gebüsch auf. »Wohin mitnehmen?« erkundigte sie sich neugierig.
Amy baute sich vor ihr auf. »Du bist nicht angezogen! So kannst du nicht mit dem Reverend sprechen!«
Zornig griff die Frau nach Amys Schal und schlang ihn sich um die Hüften. Die Brüste blieben nackt. »Jetzt angezogen. Wohin bringen Kinder?«
Tom trat auf sie zu. »Sie haben sehr viel Glück. Gott beweist diesen Jungen seine Güte. Sie werden in die Schule gehen.«
»Schule?«
Tom erklärte seine Mission, doch die Frau schien ihm nicht folgen zu können, also mußte Amy eingreifen.
»Tom, sie versteht dich nicht. Ich glaube, sie möchte wissen, was eine Schule ist.« Sie wandte sich wieder an die Frau.
»Schule. Du kennst Schule? Unterricht?«
Wie betäubt schüttelte die Eingeborene erneut den Kopf. »Mr. Broderick will, daß ich sie in die Schule bringe. Verstehst du das? Mr. Broderick.«
»Boß sagen sollen gehen?«
»Ja, Boß sagen.«
»Ich hole Mummas.«
»Nicht nötig. Du darfst dich nicht einmischen.« Toms Stimme klang energisch. »Boß sagen. Ich muß tun, was Boß sagen. Richtig?«
Sie nickte unsicher. »Wo sein Ort, wo du hingehen?«
»Du lieber Himmel! Am Ende der Straße. Amy, ich kann hier nicht den ganzen Tag herumstehen und diskutieren. Unternimm etwas.«
Amy nahm sanft ihr Tuch an sich. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte sie lächelnd und schob die Frau beiseite. »Die Kinder werden eine schöne Zeit haben. Sie dürfen im Wagen fahren. Bekommen gutes Essen. Alles in Ordnung.«
Doch die Frau spürte, daß dies nicht der Wahrheit entsprach.
»Nein. Jungen bleiben.«
Amy deutete auf die Jungen. »Schau, sie wollen mitkommen. Sind glücklich. Du gehst ins Lager zurück.«
Schließlich fuhr der Wagen mit den strahlenden Jungen davon. Sie winkten der Frau zu, die ihnen nachsah. Sie folgte ihnen durch den Busch, blieb aber stehen, als sie in Richtung des großen Hauses abbogen. Erleichtert sah Amy, wie sie kehrtmachte.
Schon bald rollten sie durch die Allee und hinaus auf die Straße, wo die ausgeruhten Pferde in einen flotten Trab fielen.
Endlich waren sie unterwegs.
Vier Stunden später hielten sie unter schattenspendenden Bäumen an und veranstalteten ein ›Picanik‹, wie Bobbo es nannte. Tom hatte im Laden auf der Farm Vorräte eingekauft, und die Köchin hatte sie außerdem mit einem Korb frischer Sandwiches und Kuchen versorgt. Die drei Jungen langten kräftig zu.
An diesem Abend aßen sie Bohnen aus der Dose und Kekse dazu, bevor sie im Freien kampierten. Die Jungen wickelten sich in ihre Decken und schliefen aneinandergedrängt wie junge Hunde im Wagen. Sie ahnten nicht, daß sie auf dem Weg in eine andere Welt waren.
Doch am Morgen begannen die Schwierigkeiten. Jagga weinte, weil er nach Hause wollte. Trotz des Zuspruchs der beiden wagemutigeren Jungen weigerte er sich weiterzufahren. Er fing an zu schreien und traktierte Amy mit den Fäusten.
Als der Reverend das Theater leid war, schlug er zu, woraufhin der Junge noch lauter schrie, sehr zum Erschrecken seiner Freunde. Plötzlich sprang er vom Wagen und rannte los, gefolgt von Tom, mit dessen langen Beinen er es nicht aufnehmen konnte. Bald schon kehrte der Reverend mit dem zappelnden Kind unter dem Arm zurück.
Sie fuhren weiter, wobei Bobbo und Doombie versuchten, den Jungen zu trösten, dessen Hände auf dem Rücken verschnürt waren. Das war kein fröhliches Abenteuer mehr, und die drei Sechsjährigen wirkten auf einmal sehr bedrückt.
Der Arzt blieb lange bei dem Patienten. Charlotte wartete draußen auf der Veranda und lauschte, konnte jedoch nicht verstehen, was drinnen gesprochen wurde.
Als er endlich zu ihr herauskam, wirkte Dr. Tennant gutgelaunt.
»Es könnte schlimmer sein. Ist ein zäher alter Bursche. Sein Sprachvermögen hat sehr gelitten, und er kann den rechten Arm und das rechte Bein nicht bewegen, aber das kann alles auch nur vorübergehend sein. Deshalb ist Ruhe nun oberstes Gebot. Wir können ihn nicht auf diesem Sofa liegen lassen. Wäre es möglich, ein richtiges Bett herunterzuschaffen?«
»Natürlich.«
»Und er braucht wirklich absolute Ruhe, Charlotte. Mindestens eine Woche lang keinen Besuch. Er kämpft schon jetzt gegen seine Gebrechlichkeit an und ist ziemlich unleidlich. Wenn er sprechen könnte, würde er mich vermutlich beschimpfen, weil ihm die Heilung nicht schnell genug vorangeht. Also habe ich ihn vorsichtshalber ruhiggestellt. Ich lasse Ihnen eine Arznei hier, die Sie ihm bitte drei Tage lang einmal täglich verabreichen. Wir müssen einen weiteren Schlaganfall unter allen Umständen verhindern. Ansonsten können Sie nicht viel tun, außer es ihm bequem machen.«
»Meinen Sie wirklich, es wird wieder besser mit ihm?«
»Jedenfalls stirbt er nicht und sollte später auch nicht wie ein Invalide behandelt werden. Ganz abgesehen davon, daß Austin das auch gar nicht zulassen würde. Wir müssen einfach abwarten, welche Fortschritte er macht.«
Als sie leise das Zimmer betraten, sah Charlotte beruhigt, daß ihr Mann friedlich schlief. Dennoch war sie besorgt und bat den Arzt, über Nacht zu bleiben.
»Es war ein langer Ritt. Sie sollten sich ausruhen. Ich mache Ihnen ein Zimmer zurecht und lasse die Köchin ein Tablett mit etwas zu essen herrichten.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Dr. Tennant reckte sich.
»Ein heißes Bad würde meinen alten Knochen sicher nicht schaden. Reitet Austin noch?«
»Ja.«
»In nächster Zeit wird er das schön bleibenlassen, selbst wenn er wieder auf den Beinen ist. Charlotte, Sie sehen gut aus, das freut mich.«
»Danke. Ich versuche mich zu halten, so gut es eben geht.«
Als sich Dr. Tennant in der Wanne ausstreckte, betrachtete er bewundernd das geräumige, weiß geflieste Badezimmer. Er freute sich immer, in dieses Haus zu kommen, und war dankbar, nicht gleich wieder den Heimritt antreten zu müssen. Morgen würde er noch einige Hausbesuche in der Umgebung machen, wenn er schon einmal hier war.
Schade, daß Austin krank war. Er hätte nichts einzuwenden gehabt gegen ein anständiges Kartenspiel mit den Brodericks. Oder eine Partie Billard. Aber der Billardtisch stand leider im Krankenzimmer.
Er seufzte. Austin und Charlotte waren schon ein seltsames, da so ungleiches Paar: Broderick war groß, gutaussehend, dominant, dabei aber ein guter Gesellschafter, seine Frau dagegen linkisch, wenig attraktiv. Häßlich wäre zuviel gesagt, eher unscheinbar, mit knochigem Gesicht, karottenrotem Haar und unregelmäßigen Zähnen. Mrs. Broderick war eine stille Frau, die im Schatten ihres Mannes stand, aber als ausgezeichnete Hausfrau galt. Springfield verdankte ihr viel.
Tennant wußte von Gerüchten über Broderick und eine andere Frau, die ihn nicht überraschten. Früher hatte Austin es wild getrieben, wenn er fern von der Farm und seiner Ehefrau war. In letzter Zeit munkelte man etwas über eine Frau in Brisbane, deren Namen allerdings niemand kannte.
Der Arzt stieg aus der Badewanne. Vielleicht gehörte das alles auch nur zum Mythos des unbesiegbaren Austin Broderick.
In seinem Schlafzimmer wartete bereits ein Tablett auf ihn. Tennant stürzte sich hungrig auf die Sandwiches mit Corned Beef, die warmen Käse-Scones mit Butter und den frisch aufgebrühten Tee.
»Ich muß schon sagen, diese Squatter wissen zu leben«, murmelte er. »Ich hätte damals selbst hier draußen Land pachten sollen.«
Er verschlang ein Sandwich mit süßen Pickles und spann den Gedanken weiter. Wenn das Gesetz über den freien Landbesitz durchkam, könnte er sich eine Weide leisten, sie mit Vieh bestücken und einen Verwalter einstellen. Das war schon eine Überlegung wert. Wie es hieß, konnte man dieses hervorragende Weideland hier bald für einen Spottpreis erwerben.
Am späten Nachmittag wachte Austin auf und fand sich in einem fremden Bett wieder, das zudem nicht in seinem Schlafzimmer stand. Einen Moment lang glaubte er, man habe ihn ins Krankenhaus gebracht. Dann ließ er die Blicke durch den Raum wandern und entdeckte zu seiner Beruhigung das Glitzern einer Messinglampe neben hohen Bücherregalen. Sie hatten ihn unten, in seinem Reich gelassen. Sehr gut, denn oben wäre er völlig abgeschnitten von der Welt gewesen.
Er versuchte, jemanden herbeizurufen. Man sollte die Vorhänge öffnen, außerdem brauchte er eine Tasse Tee, um den unangenehmen Geschmack im Mund zu vertreiben. Doch seine Lippen zuckten nur, und seine Zunge reagierte auch nicht. Die gutturalen Laute, die er ausstieß, ängstigten ihn.
Wie wahnsinnig versuchte er, sich an Tennants Worte zu erinnern. Was hatte er doch gleich gesagt? Ein Schlaganfall. Vorübergehende Behinderungen. Sprache. Der Arm. Und Jesus, das verdammte Bein ebenfalls! Hoffentlich war das alles wirklich kein Dauerzustand, denn er hatte nicht vor, den Rest seiner Tage untätig und bewegungslos wie ein Stück Holz zu verbringen.
Mit ungeheurer Mühe zog er sich in eine sitzende Position, überrascht, daß ihm dabei der Schweiß ausbrach; doch er kämpfte weiter, bis er auf der Bettkante saß, die Füße auf dem Boden.
Das sollte für den Anfang genügen, sagte er sich. Als er es sich wieder bequem machen wollte, stieß er den Nachttisch um, und Medizinflaschen, Gläser und ein Wasserkrug krachten zu Boden.
Die Tür flog auf, und Minnie, die offensichtlich vor der Tür gewacht hatte, stürzte herein.
»Was los, Boß?« schrie sie. »In Ordnung?«
Seine Warnung vor dem Glas auf dem Boden kam zu spät. Der laute Schrei des barfüßigen Mädchens verriet ihm, daß es bereits hineingetreten war.
Austin konnte nur wie betäubt dasitzen, während Minnie zum Fenster humpelte und die Vorhänge öffnete, damit sie den Splitter aus ihrem Fuß ziehen konnte. Sie hinterließ eine Blutspur auf dem gebohnerten Boden.
»Au, au!« schrie sie, als sie den Splitter herauszog. Dann hüpfte sie zur Tür.
»Ich holen Besen.«
Austin schüttelte den Kopf. Typisch Minnie. Wenn schon jemand Pech haben mußte, dann immer sie.
Charlotte hatte Minnies Schreie gehört und kam herbeigelaufen. Sie machte viel Aufhebens um die Sache, befahl ihm, sich wieder hinzulegen, rief nach dem Arzt und wirkte insgesamt noch aufgeregter als das schwarze Mädchen. Er wünschte, sie würde sich beruhigen, ihm Tee bringen, ihm das verfluchte Oberteil des Schlafanzugs ausziehen – sie wußte doch, wie sehr er Oberteile haßte –, ihn einfach in Ruhe lassen.
Dann tauchte Tennant mit seiner aufreizenden Fröhlichkeit wieder auf, gefolgt von Victor, Louisa und Rupe, die ihn alle anstarrten und sich nach seinem Befinden erkundigten. Das konnten sie doch wohl selber sehen! Der kleine Teddy stürmte herein und sprang zu ihm aufs Bett. Sein Großvater versuchte zu lächeln, doch Louisa zerrte den Jungen weg.
»Runter mit dir, Teddy! Opa ist krank.«
»Ich will ihm nur das Jo-Jo zeigen.« Die kleinen Hände warfen das rote Jo-Jo in die Luft, doch die Schnur entglitt ihnen und das Spielzeug sauste knapp an Austins Kopf vorbei an die Wand.
»Sieh nur, was du angerichtet hast!« schalt ihn Louisa.
»Nimm ihn mit«, ordnete Charlotte an. »Austin braucht Ruhe.« Sie drückte ihrer Schwiegertochter einen Papierkorb voller Glasscherben in die Hand. »Und den hier bitte auch.« Als alle außer Charlotte den Raum verlassen hatten, kehrte erneut Ruhe ein. Sie richtete den Nachttisch wieder auf. »Ich stelle dir hier eine kleine Glocke hin. Dann kannst du klingeln, wenn du etwas brauchst. Ich bleibe immer in deiner Nähe. Victor holt außerdem den Nachtstuhl, den wir für Justin hatten …«
Austin wandte sich angewidert ab. Nachtstuhl? Wie tief wollten sie ihn eigentlich noch sinken lassen?
Er dachte an Justin, seinen verstorbenen Bruder. Vor sieben Jahren war er hier bei ihnen an Krebs gestorben. Ein qualvoller Tod nach langem Dahinsiechen. Armer Justin! Er war immer ein scheuer, konservativer Bursche gewesen, drei Jahre älter als Austin, mit vorzeitig ergrautem Haar. Dessen Träume von einer großen Schaffarm hatten ihn nicht interessiert. Er war ein Stadtmensch, der eine öde Stelle als Lehrling bei einem Goldschmied dem Leben im Busch vorzog.
Schließlich kaufte er jedoch ein Geschäft, das in einer Passage in der Queen Street von Brisbane gelegen war, und brauchte seinem Bruder den Erfolg nicht zu neiden, denn er brachte es selbst zu einigem Wohlstand. Dann hatte er Fern geheiratet, die liebenswerte, wunderschöne Fern.
Austin war anläßlich der Hochzeit mit seiner Familie nach Brisbane gereist und hatte zu seiner Verblüffung dieser Schönheit gegenübergestanden. Er konnte einfach nicht verstehen, wie der langsame, steife Justin das Herz einer so attraktiven Frau hatte gewinnen können. Die Braut trug cremefarbene Spitze, die ihre Pfirsichhaut, die dunklen Locken und blauen Augen wunderbar zur Geltung brachte. Fern lachte viel, und ihre Augen lachten immer mit. Austin hatte sich auf der Stelle in sie verliebt.
Doch Fern und Justin waren sehr glücklich miteinander, das mußte Austin zugeben. Obwohl damals schon krank, hatte Justin darauf bestanden, sich Austins Haus anzusehen, als es endlich fertiggestellt war. Er war hergereist und nach wenigen Tagen hier zusammengebrochen.
Es war eine schwere Zeit gewesen, für alle Beteiligten. Dr. Tennant konnte nur wenig gegen Justins quälende Schmerzen ausrichten. Austin brach es fast das Herz, seinen Bruder so leiden zu sehen, und der Tod kam letztendlich als Erlösung. Austin hatte seine Schwägerin nach Brisbane zurückbegleitet und ihr jede erdenkliche Hilfe angeboten, doch Fern war eine sehr unabhängige Frau. Anstatt das Geschäft zu verkaufen, übernahm sie selbst dessen Leitung und sorgte dafür, daß der Name Broderick in der Schmuckbranche auch weiterhin einen guten Klang behielt. Insgeheim hatte Austin gehofft, sie würde damit scheitern, weil er ihr dann zu Hilfe eilen und sie vor dem finanziellen Ruin retten könnte, doch es blieb ihm versagt, den edlen Ritter zu spielen.
Wann immer er danach mit oder ohne Charlotte nach Brisbane kam, fand er stets eine Gelegenheit, um mit Fern allein zu sein. Zunächst sprachen sie natürlich übers Geschäft, und danach genoß er die amüsante Unterhaltung mit dieser reizenden Frau.
Irgendwann konnte Austin Broderick es nicht länger ertragen und platzte eines Abends beim Essen mit der Wahrheit heraus.
»Fern, ich muß dir etwas sagen. Ich liebe dich.«
Sie lächelte. »Oh, das weiß ich.«
Er konnte es kaum fassen. »Aber weshalb hast du dann nichts gesagt?«
»Ich?« fragte sie lachend. »Was hätte ich denn sagen sollen? Menschen verlieben sich eben. Es passiert einfach. Ich liebe dich auch, aber du bist ein verheirateter Mann. Also iß endlich auf, denn es erwartet dich noch dein Lieblingsnachtisch, Erdbeeren mit Sahne.«
Austin starrte sie an. »Ist das alles?«
»Ja, mein Lieber. Sprechen wir nicht mehr davon.«
Er hatte sich mit ihrer platonischen Beziehung nie abfinden können und machte ihr wie zum Ausgleich ausgefallene Geschenke, die sie mit Freude annahm. Doch an der Situation hatte sich nie etwas geändert. Nun tröstete er sich mit dem Gedanken an Fern über sein derzeitiges Unglück hinweg und hoffte, sie werde ihren leidenden Schwager wenigstens besuchen kommen, wie es sich gehörte. Seit Justins Tod war sie nicht mehr auf Springfield gewesen. Sie könnte bei ihm sitzen, ihn trösten, mit lustigen Geschichten über ihre Kundschaft unterhalten.
Austin war ein Optimist, der immer das Licht am Ende des Tunnels sah. Und der Gedanke an Fern lenkte ihn von dem Brief des Bankdirektors ab, den er keineswegs vergessen hatte.
Desgleichen galt für Victor und Rupe. Die entscheidenden Landkarten waren inzwischen säuberlich aufgerollt und in Victors Büro verstaut worden.
»Sobald Tennant weg ist, breiten wir sie in der Bibliothek aus«, sagte Victor. »Der Tisch dort ist größer. Und wir können die Tür abschließen, wenn Besucher kommen. Eine Menge Entscheidungen steht an, bevor wir einen Vermesser kommen lassen können.«
»Ich habe Harry ein Telegramm geschickt. Er kann uns ruhig ein wenig helfen.«
Victor griff sich mit der Hand an den Kopf. »Ich wünschte, das hättest du nicht getan!«
»Was soll das denn schon wieder heißen? Du hast es mir doch selbst aufgetragen, und Charlotte wollte es auch.«
»Aber da kannten wir den Brief von der Bank noch nicht. Mathews schrieb, daß die Verabschiedung unmittelbar bevorstehe … Es könnte noch eine Chance geben, daß die Gesetzesvorlage abgeschmettert wird. Wir brauchen jede Stimme. Wenn Harry die Abstimmung verpaßt …«
Rupe verzog das Gesicht. »… und wir mit einer Stimme Differenz verlieren …«
»Dann ist unser Leben keinen Pfifferling mehr wert. Austin bringt uns um.«
»Ich bin schon unterwegs!« rief Rupe.
»Wohin willst du?«
»Ich schicke einen Viehhüter nach Cobbside. Er soll Harry in Austins Namen telegrafieren und ihn anweisen, in Brisbane zu bleiben.«
»Hör zu, wenn du wiederkommst, gehen wir zum Essen, als sei nichts geschehen. Tennant braucht nichts von der Sache zu erfahren.«
»Ich hoffe, du hast Charlotte vorgewarnt.«
»Ja, sie hat sehr gut reagiert. Als der Arzt fragte, was den Anfall ausgelöst haben könnte, hielt sie dicht. Was nicht heißen soll, daß sie das Ausmaß des Ganzen erfaßt hätte …«
Doch Rupe war bereits verschwunden.
Victor zündete sich einen Stumpen an. Austins Krankheit bot ihnen eine Entschuldigung, um Besucher fürs erste fernzuhalten. Ihm war durchaus bewußt, daß Investoren aus Cobbside und größeren Städten wie Toowoomba und Brisbane bereits in den Startlöchern standen, um sich ehemaliges Pachtland unter den Nagel zu reißen, das die Squatter nicht länger halten konnten. Männer wie Tennant, der gerade im Salon mit den Frauen zusammensaß. Oder Ladenbesitzer, die auf die Squatter schlecht zu sprechen waren, weil diese ihre kleinen, teuren Geschäfte mieden und lieber in den Lagerhäusern der Städte en gros einkauften. Ganz zu schweigen von Verwaltern großer Farmen, die ihre Chance nutzen wollten, um sich mit kleineren Weiden selbständig zu machen.
»Nicht zu vergessen all die anderen!« grollte er. »Alle wollen sie ein Stück vom Kuchen. Wir brauchen einfach mehr Grenzreiter.«
Die Unterhaltung bei Tisch drehte sich um Austin. Jeder gab sich angestrengt fröhlich, um Charlotte nicht zu beunruhigen. Sie hatten darauf bestehen müssen, daß sie zum Essen herunterkam.
»In ein paar Tagen sind Harry und Connie da«, sagte sie.
»Austin wird sich freuen. Für den armen Harry wird es ein furchtbarer Schock sein.«
»Er wird es überleben«, sagte Rupe unbeeindruckt und nickte Victor vielsagend zu. Auftrag ausgeführt.
Die Suppe wurde aufgetragen, doch schien es Probleme mit dem Hauptgang zu geben. Charlotte wollte schon in der Küche nachsehen, als das Geschrei losbrach.
»Oh, mein Gott«, schrie sie, »Austin muß etwas zugestoßen sein!«
Sie sprang von ihrem Stuhl auf und rannte aus dem Zimmer.
»Ich gehe ihr besser nach«, sagte Tennant und ließ seine Serviette fallen, doch in diesem Moment stürmte Hannah, die Köchin, ins Speisezimmer. »Wo ist Mrs. Broderick?«
»Sie sieht nach Dad«, antwortete Victor, der nun ebenfalls aufgesprungen war.
»Es geht nicht um den Boß«, keuchte Hannah. »Es sind die Schwarzen. Minnie hat einen hysterischen Anfall, und vor der Hintertür steht eine ganze Horde von ihnen.«
Als Nioka an jenem Abend ins Lager zurückgekehrt war und die verworrene Geschichte über die Freunde vom Boß hörte, die ihren Sohn, ihren Neffen und Doombie für eine Fahrt im Wagen mitgenommen hatten, war sie verärgert, aber noch nicht beunruhigt. Minnie würde ihnen schon etwas zu essen geben. Die Brodericks hatten nichts dagegen, wenn kleine Kinder auf ihrem Besitz herumliefen, und den Heimweg kannten die Jungen ja.
Doombies Eltern, die ebenfalls an der Sammelexpedition teilgenommen und einen Sack mit den Lieblingsbeeren ihres Sohnes mitgebracht hatten, zeigten sich da schon weitaus besorgter. Sie befragten die schwangere Djallini und hörten von ihr das Wort ›Schule‹.
Das reichte aus, um Gabbidgees Mißtrauen zu wecken. Er war nicht mehr jung und hinkte, seit er sich vor einigen Jahren das Bein gebrochen hatte. Er mußte am Fluß bleiben, wo das Leben einfacher war, während die körperlich kräftigeren Männer umherzogen. Doombie stammte aus der Verbindung mit seiner zweiten Frau. Seine anderen Kinder waren schon erwachsen und zum Teil davongezogen, doch Doombie hütete er wie seinen Augapfel. Auch aus diesem Grund war er auf Springfield geblieben, wo Doombie unter dem Schutz des weißen Bosses stand.
Gabbidgee wußte, was eine Schule war, doch er verstand nicht, was das mit ihnen zu tun haben sollte. Die weißen Jungen hatten Unterrichtszimmer und Lehrer und gingen irgendwann weg auf die Schule. Schwarze Kinder hingegen nie.
Bei Einbruch der Dämmerung teilte er Nioka seine Befürchtungen mit. Sie wollte sofort zum Haus aufbrechen, doch Gabbidgees Frau hielt sie zurück.
»Du bleibst hier. Minnie sagt, wir sollen hierbleiben, wo der Boß so krank ist. Der Doktor wurde gerufen.«
Die anderen rissen erstaunt die Augen auf. Sie alle kannten Dr. Tennant, da er oft ins Lager kam, um nach ihnen zu sehen und ihnen Medizin zu geben. Allerdings mußte man schon sehr krank sein, wenn er eigens herbeigerufen wurde.
»Er ist schon hier«, warf jemand ein. »Er kam diesen Morgen mit Rupe angeritten. Vielleicht liegt der Boß ja im Sterben.«
Nun wirkte selbst Nioka eingeschüchtert.
»Gut«, sagte Gabbidgee, »ihr bleibt alle hier. Ich sehe mich mal um, ohne daß es jemand merkt. Ich suche nach dem Wagen.«
Im Gebüsch fand er die Wagenspuren und folgte ihnen. Trotz des Hinkens bewegte er sich erstaunlich schnell. Gabbidgee erwartete, daß die Spuren zum großen Haus führen würden, doch sie bogen an der Abzweigung in die andere Richtung ab. Seine Füße orientierten sich im Dunkeln an den Furchen im dicken Staub, doch um sicherzugehen, hockte er sich nieder und untersuchte die Spur. Er hoffte, zwei Spuren zu finden. Dann würde er wissen, daß der Wagen nur bis zum Haupttor und wieder zurück gefahren war. Jemand hatte nämlich gesagt, der Betmann habe die Jungen bloß zu einer Spazierfahrt eingeladen. Doch es gab nur diese eine Spur.
Voller Sorge lief er die Allee hinunter und konzentrierte sich auf die Spur der Räder, da auch andere Pferde diesen Weg entlanggekommen waren. Die Furchen wurden jetzt flacher; der Wagen mußte seine Fahrt beschleunigt haben. An dieser Stelle bog eine Straße, die hauptsächlich als Viehweg genutzt wurde, nach links ab. Eine andere mit grasbewachsenem Mittelstreifen durchquerte das Tal. Seine Augen suchten im feinen, roten Staub nach den flacheren Eindrücken der Wagenräder. Er erhob sich und starrte auf die lange, verlassene Straße hinaus.
Wohin mochten sie gefahren sein? Es gab keine Schulen hier in der Nähe, und die nächsten Nachbarn lebten in der entgegengesetzten Richtung. Sie waren schon den ganzen Tag unterwegs und müßten eigentlich längst zurück sein. Gabbidgee kratzte sich am Kopf und rückte den Kordelgurt zurecht, der auf seinen schmalen Hüften saß und den Laplap genannten Lendenschurz an Ort und Stelle hielt. Vielleicht hatten sie einen Unfall gehabt. Manchmal verloren Wagen auf den holprigen Straßen die Räder. Waren sie den Weißen nicht oft genug zu Hilfe gekommen deswegen? Doch warum hatten sie sie dann nicht auch heute geholt? Warum suchten ihre Reiter nicht nach den Vermißten? Das war alles sehr geheimnisvoll. Er kehrte mit seinen Neuigkeiten ins Lager zurück.
»Das reicht«, erklärte Nioka. »Ich gehe zu Minnie und frage, wo sie sind. Mir ist es egal, ob der Doktor da ist.«
»Ich komme mit«, sagte Doombies Mutter.
»Wartet auf mich«, rief Gabbidgee, denn ihm waren die Vorschriften eingefallen. Er rannte zu einer Ansammlung ausrangierter Teekisten. Sie enthielten ein seltsames Sammelsurium von Gegenständen, das die Leute aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen aufgehoben hatten: verrostete Töpfe und Pfannen, eine zerbrochene Teekanne, abgetragene Stiefel, Lederfetzen, Kinderwagenräder, leere Büchsen … Doch Gabbidgee wußte genau, wonach er suchte. Er wühlte in den Sachen und zog schließlich eine zerlumpte Hose heraus. Wenn er sich in die Nähe des großen Hauses begab, mußte er bekleidet sein.
Als er die Frauen eingeholt hatte, entdeckte er, daß sich noch andere der Gruppe angeschlossen hatten. Zügig schritten sie auf die Lichter des Herrenhauses zu.
Victor packte Minnie bei den Schultern und schüttelte sie. »Halt den Mund! Weißt du denn nicht, daß der Boß krank ist?«
Zum Glück befand sich Austins Flügel am anderen Ende des Hauses. »Was zum Teufel ist los mit dir?« schrie er. »Beruhige dich doch, du dummes Ding.«
»Wo mein Junge?« heulte Minnie. »Was ihr mit Bobbo gemacht?«
Nioka stand mit verschränkten Armen und zusammengepreßten Lippen in der Tür. Die Haltung erinnerte Victor an ihre Mutter. »Wo sind Kinder?« fauchte sie. »Wo ihr sie haben?«
»Du solltest dich auch beruhigen«, fuhr er sie an. »Und was soll die Versammlung da draußen? Sag ihnen, sie sollen verschwinden.«
Charlotte kam zurückgeeilt. »Austin schläft. Was ist los?«
»Ich glaube, irgendwelche Kinder sind verlorengegangen«, erklärte Victor. Er wandte sich an Minnie: »Hör auf zu heulen. Wir werden sie schon finden.« Schwarze Kinder gingen nicht einfach verloren. Er fragte sich, was sie wohl jetzt wieder angestellt hatten.
»Wo ist Teddy?« fragte er Louisa. »Ist er mit ihnen unterwegs?«
»Nein, er schläft oben. Ich glaube, ich weiß, warum sie sich so aufregen. Die Billings’ haben heute drei kleine Kinder mitgenommen, um sie in die Schule zu bringen.«
Minnie begann wieder zu stöhnen und zerrte an ihrer Schürze. Nioka fragte fassungslos: »Was sagen? Was?«
»Oh, mein Gott!« Charlotte trat vor. »Ihr geht zurück ins Speisezimmer; ich werde es den Mädchen erklären.«
»Was?« schnappte Nioka. »Was ihr verdammt getan mit unseren Kindern?«
»Das reicht, Nioka«, fuhr Victor wütend dazwischen. »Noch ein Wort, und du darfst dieses Haus nie wieder betreten.«
»Gib mir Jagga und mir verdammt egal!«
Victor bedeutete Louisa hineinzugehen. Tennant schloß sich ihr an. Dann drohte Victor Nioka mit dem Zeigefinger. »Benimm dich gefälligst!«
Charlotte griff ein. »Schon gut, Victor. Ich war so aufgeregt, daß ich die Abreise von Mr. und Mrs. Billings völlig vergessen hatte. Sie haben Bobbo, Jagga und Doombie in die Schule mitgenommen.«
»Was? Mit wessen Erlaubnis?«
»Mit Austins«, erwiderte sie streng. »Er hatte eine lange Unterredung mit Mr. Billings und war einverstanden. Er gab ihm auch eine beträchtliche Spende für den Unterhalt der Kinder mit.«
Heulend warf sich Minnie in Hannahs Arme, während Nioka mit offenem Mund in der Tür stand.
»Ihr denen unsere Kinder geben?«
»Hat es ihnen denn keiner erklärt?« fragte Victor zornig.
»Natürlich. Mr. Billings hat es sicher erklärt. Sie verstehen es bloß nicht. Das ganze Theater ist unnötig, für die Kinder wird gut gesorgt sein. Sie haben großes Glück gehabt.«
Victor sah Gabbidgee hinter Nioka auf der Veranda stehen, und ein Schauder überlief ihn.
»Da dürften allerdings einige Erklärungen vonnöten sein. Das hätte man aber auch anders handhaben können. Weshalb hast du es Billings überlassen? Er ist ein eiskalter Hund.«
»Fang jetzt nicht auch noch an«, stöhnte Charlotte. »Das halte ich nicht aus. Du weißt ganz genau, daß es dieses Bildungsprogramm für junge Schwarze bereits seit einiger Zeit gibt. Austin wußte, daß es zu ihrem Besten war, sonst hätte er es niemals zugelassen. Geh jetzt bitte mit ihnen hinaus und erkläre es ihnen richtig. Sie müssen lernen, es als gute Sache zu betrachten.«
»Na dann!«
Rupe hatte alles schweigend mit angehört. »Mir scheint, Billings hat ihnen kein Wort davon gesagt. Man hätte zumindest die Eltern um Erlaubnis fragen müssen.«
Doch Victor begriff, daß die Reaktion womöglich noch heftiger ausgefallen wäre, wenn man Nioka, Minnie und Gabbidgee gefragt hätte. Ihre Weigerung hätte zu einem Aufruhr führen können, den Billings vermutlich vermeiden wollte. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, daß er so unauffällig mit den Kindern verschwunden war.
Er trat auf die Veranda hinaus und schickte alle bis auf die Eltern der drei Kinder ins Lager zurück. Dann hockte er sich unter einen Baum.
Eine Stunde lang kaute er die Geschichte mit ihnen durch, begleitet von Minnies Schluchzen und Niokas Wutausbrüchen. Gabbidgee und seine Frau waren ob der unerwarteten Ereignisse vollkommen verstört.
Victor erinnerte sie daran, daß auch er und seine Brüder auf die Schule gegangen waren. Charlotte hatte geweint, als sie ihr Zuhause verließen. Er sagte, wieviel Glück die Jungen hätten, und daß sie nicht einsam sein würden. Er fragte nach, ob die Kinder geweint hätten, und hörte erleichtert, daß dies nicht der Fall gewesen war. Hannah brachte auf seine Anweisung heißen, gesüßten Tee und Kuchen, den nur Nioka entschieden ablehnte. Anscheinend gewann er an Boden. Victor erklärte, daß die Jungen in die große Stadt gefahren seien, wo sie alle möglichen Wunderdinge erleben würden, so daß sie bei ihrer Rückkehr eine Menge Geschichten zu erzählen hätten.
»Wann kommen zurück?« schluchzte Minnie.
Da er sie nicht belügen wollte, sagte Victor nur: »Wenn es an der Zeit ist.«
Schließlich fragte Gabbidgee: »Boß-Mann, dein Daddy, er sagen ist gut? Er sagen Jungen sollen in Schule lernen wie seine Jungen?«
»Ja.«
Der Schwarze nickte unglücklich. Dann machte er seiner Frau ein Zeichen, und wortlos gingen sie davon.
Nur die beiden Schwestern blieben zurück. Minnie schien sich in das Unvermeidliche zu fügen, war aber zutiefst erschüttert. Nioka war noch immer sehr zornig. Man mußte ihr einfach Zeit lassen, damit fertig zu werden, dachte Victor bei sich. Hunderte von schwarzen Eltern machten in diesen Tagen das gleiche durch. Ihre Welt veränderte sich. So einfach war das. Er verstand ihren Schmerz, konnte aber nichts weiter für sie tun.
Im Lager herrschte bedrücktes Schweigen. Die Jahre der Einschüchterung zeigten nun Wirkung. Gabbidgee drohte in einem Anfall von Tollkühnheit damit, den Wagen aufzuspüren und die Jungen heimzuholen, doch die Ältesten warnten ihn vor den Gewehren der weißen Männer. Sie fühlten sich an die schrecklichen Zeiten zurückerinnert und weinten, als Gabbidgee seinen Speer schärfte und den Frauen gestattete, ihm bei der zeremoniellen Körperbemalung vor der Schlacht zu helfen.
Seine anderen Kinder flehten ihn an, nicht zu gehen, und sprachen von der Verpflichtung, die er ihnen und seinen Enkelkindern gegenüber habe; zur Zeit gab es einfach zu wenige Männer im Lager. Es ging sogar so weit, daß ein ritueller Kampf ausgetragen werden mußte zwischen seiner Frau und seiner ältesten Tochter, bei der sie einander mit schweren Keulen schlugen, bis eine nachgab. Blutend mußte sich Doombies Mutter geschlagen geben, da sie der stärkeren – und älteren – Gegnerin nicht gewachsen war. Gabbidgee hatte bei seiner Familie zu bleiben; sein jüngster Sohn interessierte die anderen Kinder nicht.
Nioka verhöhnte ihn. Sie würde selbst gehen, wenn sie über seine Erfahrungen als Fährtenleser verfügte. Sie fürchte sich nicht vor den Waffen der Weißen. Erschüttert und erfüllt von Trauer um seinen geliebten Doombie, zerschnitt Gabbidgee seinen Körper mit dem Messer und verkroch sich im Gebüsch, um für sein Versagen beim Beschützen des Sohnes zu büßen.
Es war nur gut, daß er dem Wagen nicht gefolgt war, da sich Billings inzwischen einer Gruppe von Viehtreibern angeschlossen hatte, die eine riesige Schafherde über die Viehwege nach Toowoomba trieb. Sie reisten mit einem Rollwagen, der ihnen bei ihrem Umherziehen als bewegliche Unterkunft diente.
Billings war erleichtert. Die Viehtreiber kannten den Weg im offenen Gelände und ermöglichten ihnen ein zügigeres Vorankommen. Da er alles andere als ein Buschkenner war, schätzte er ihre Fähigkeiten bei der Zubereitung von Mahlzeiten und dem Auffinden von Wasserstellen. Dies ersparte ihm unnötige Umwege und das Übernachten auf Farmen, wo er die Gegenwart der drei schwarzen Jungen hätte erklären müssen.
Die Viehtreiber waren zunächst ebenfalls neugierig gewesen, freuten sich aber, als sie hörten, woher die Jungen kamen. »Aus Springfield?« meinte ihr Anführer. »Eins muß man Broderick lassen: Er mag vor Jahren gegen die Schwarzen gekämpft haben, doch heute behandelt er sie anständig. Im Gegensatz zu vielen anderen Squattern. Gut, daß er den Kindern eine Ausbildung ermöglicht. Bin selbst nie zur Schule gegangen.«
Seine Frau war dankbar für Amys Anwesenheit. »Machen Sie sich keine Sorgen, im Busch brauchen Sie sich nicht zu fürchten. Wir bringen Sie und die Kinder sicher in die Stadt, und von da müssen sie immer nur geradeaus nach Brisbane fahren.«
Sie mochte die schwarzen Kinder und heiterte Jagga soweit auf, daß man ihn nicht mehr an den Wagen binden mußte. Die Jungen konnten abwechselnd auf ihrem Rollwagen mitfahren, und ihr Mann hob dann und wann einen von ihnen auf sein Pferd, wo er vor ihm sitzen und mitreiten durfte. Dieses Privileg genossen die kleinen Burschen sogar noch mehr als die Karamellen, die die Frau des Treibers für sie machte.
Obwohl die Männer den Bekehrungsversuchen des Reverend eher zynisch gegenüberstanden, stieß sich die Frau nicht an Amys ständigen Anrufungen des Herrn. Sie genoß einfach nur die weibliche Gesellschaft.
Wäre ein erzürnter Vater auf diese Gruppe aus sechs Männern und zwei Frauen gestoßen, hätten sie ihn wohl kaum mit Schußwaffen bedroht, sondern einfach mit ihren Viehpeitschen davongejagt. Sie hätten nur gelacht über den Schwarzen, dieses Relikt aus der Vergangenheit.
Minnie war nicht nach Arbeit zumute. Sie war untröstlich und geschwächt vom pausenlosen Weinen. Nacheinander lauerte sie Victor, Rupe, der Missus und sogar Louisa auf, erhielt aber stets die gleiche Antwort: Keine Sorge, Bobbo geht es gut.
Als größte Enttäuschung erwies sich dabei Hannah. Minnie trieb sich in der Küche herum und flüsterte Hannah zu, sie solle ihr ihren Jungen wiederbringen. Obwohl sich die Köchin mitfühlender als die anderen gezeigt hatte und Minnies nagende Sorge verstand, konnte auch sie ihr nicht helfen. Sie ermutigte sie, ihre Arbeit wiederaufzunehmen, stieß aber auf hartnäckigen Widerstand.
Dann war da noch Nioka, die gegen Minnie wütete. »Geschieht dir recht. Du hast immer gesagt, sie seien deine Freunde. Jetzt sieh dir an, was sie getan haben. Dein Junge ist weg. Haben sie dir gesagt, wann sie unsere Kinder zurückbringen? Nein! Wahrscheinlich nie. Wir sehen sie nie wieder. Das hast du nun davon, daß du dich bei ihnen lieb Kind gemacht hast. Alles nur deine Schuld.«
Minnie starrte auf den Fluß hinaus. Wenn es stimmte, daß sie ihren lachenden Bobbo nie wiedersehen würde, hatte ihr Leben seinen Sinn verloren. Ebensogut konnte sie sich in den Fluß stürzen und ertrinken. Diese Trauer war schlimmer als der Tod.
Dann entdeckte sie den dreibeinigen Dingo, der über die abgeschliffenen Steine in der Flußbiegung auf sie zukam. Sie sprach ihn an.
»Was machst du hier, du armer Kerl? Hast du dich verlaufen?«
»Nein«, erklang eine Stimme zwischen den Bäumen hinter ihr, und der alte Moobuluk stakste auf seinen knochigen Beinen hervor.
Minnie erkannte ihn auf Anhieb. Bestimmt war niemand auf der ganzen Welt so alt wie Moobuluk. Doch sie war zu niedergeschlagen, um irgendwelches Interesse dafür aufzubringen, daß der Zauberer wieder bei ihnen aufgetaucht war. Er kam zu spät.
»Warum weinst du, kleines Mädchen?« fragte er. Die Anrede ärgerte sie. Sie war kein kleines Mädchen, sondern eine erwachsene Frau. Alles und jeder gingen ihr auf die Nerven. Sie hatte ihren Sohn im Stich gelassen, doch ihre Leute hatten wiederum sie im Stich gelassen, und nun kam dieser alte Mann … was sollte er ihnen jetzt noch nützen? Er hätte zum richtigen Zeitpunkt hier sein sollen, wo er hingehörte.
Er ging im Kreis um die Steine herum und tastete sich mit Hilfe seines Stocks das glitschige Ufer hinunter, bis er im seichten Wasser stand und sich die Füße kühlen konnte. »Ah«, seufzte er, »schon besser. Meine Füße haben vielleicht gebrannt. Ich glaube, die Sohlen nutzen sich allmählich ab.« Er sah sie an und lachte gackernd. »Glaubst du, der Boß schenkt mir ein Paar Stiefel, wie er sie trägt?«
Minnie zuckte nur die Achseln. Der Hund, der sich auf einem glatten Felsen niedergelassen hatte und die Zunge aus der Schnauze hängen ließ, schien bei Moobuluks Frage lächeln zu müssen.
»Ich habe immer geglaubt«, sagte der alte Mann an den Hund gewandt, »daß die Weißen schwach seien, weil sie Stiefel tragen müssen, doch inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher. Was beweist, daß man nicht immer recht haben kann.«
Seine krächzende, alte Stimme und die triviale Unterhaltung forderten Minnie schließlich doch zu einer Reaktion heraus. »Wo bist du so lange gewesen?« wollte sie wissen. Doch selbst bei diesen wenigen Worten brach sie in Tränen aus und wandte sich ab, als wolle sie weglaufen.
»Bleib hier, Moomabarrigah.« Seine Stimme klang nun klarer und sanfter. »Wenn du weinst, weine ich mit, aber den Grund dafür kenne ich nicht. Du mußt ihn mir sagen, damit ich weiß, wie groß mein Kummer sein muß.«
Er kletterte zu ihr hinauf und streckte hilfesuchend die Hand aus, so daß Minnie sie ergreifen mußte. Dann saß er geduldig neben ihr und sah aufs Wasser hinaus.
»Mein Junge Bobburah«, flüsterte Minnie, als sich ihr Schluchzen gelegt hatte. »Sie haben ihn mitgenommen.«
»Wer?«
»Die Betleute!« Zornig sah sie ihn an. »Du hättest hier sein müssen. Du hättest sie in Krähen verwandeln können. In zwei alte, schwarze Krähen!«
Angesichts dieser simplen Lösung mußte Moobuluk ein Lächeln unterdrücken, denn die Lage war offensichtlich ernst.
»Erzähl mir alles.«
Sie brach wieder in Tränen aus, doch die Geschichte enthüllte sich allmählich, trotz der Angst, Wut und Trauer, die sie erfüllten. Moobuluk war so betrübt, daß ihm ebenfalls Tränen über die ledrigen Wangen rannen. Minnie hatte recht. Er hätte da sein sollen. Er hatte die Stimmen im Wind, die ihn nach Hause riefen, unterschätzt. Wer aber hätte voraussehen können, daß diese friedlichen Menschen ein so furchtbares Unglück treffen würde?
»Warum wurdet ihr so bestraft? Was ist geschehen?«
»Das versuche ich dir doch die ganze Zeit zu sagen. Sie behaupten, es sei eine gute Sache. Sie haben unsere kleinen Jungen in die Schule geschickt. Wie ihre eigenen Söhne.«
»Aber sie sind doch noch so klein«, sagte Moobuluk.
Minnies Zorn flackerte erneut auf. »In dem Alter schicken sie ihre Kinder nicht weg. Sie sagen, unsere müßten so früh fort, damit sie Englisch lernen und in der Schule auch alles verstehen können. Ich hasse alle Weißen. Du mußt sie verzaubern, großer Daddy. Sag ihnen, wir wollen unsere Jungen zurückhaben.«
Er ließ sie die seltsame Geschichte mehrfach wiederholen, bis er die Ungeheuerlichkeit dieses Verbrechens erfaßt hatte. Moobuluk war sich bewußt, daß Moomabarrigah es aufgrund ihrer Kontakte zu den Weißen am besten erklären konnte. Und er sorgte sich um ihre aufbrausende Schwester Nioka. Minnie hatte erklärt, daß sie noch immer sehr aufgebracht sei. Wenn sie Unruhe stiftete, würde sich diese nicht so leicht wieder legen.
Außerdem begriff er, daß es hier zwei Probleme gab. Zunächst einmal hatten sie diese drei Jungen verschwinden lassen. Doch wie viele würden sie noch verlangen? Stellten diese besitzergreifenden Weißen etwa eine Gefahr für alle Kinder des Stammes dar? Er stöhnte auf. Hatten sie ihnen denn noch nicht genug angetan?
Moobuluk kehrte mit Minnie ins Lager zurück. Ruhig und scheinbar unbesorgt nahm er die aufgeregten Begrüßungen entgegen, suchte aber nach einer Unterredung mit Doombies Eltern Nioka auf.
Lange blieb er bei ihr sitzen, gab Ratschläge, bestand darauf, daß sie ihren Zorn in die Hände nahm und beiseite legte, bis sie Zeit zum Nachdenken gehabt hatte. Sie war ein schwieriges Mädchen, das selbst ihm gegenüber zum Schreien neigte, doch allmählich konnte er sie beruhigen.
An diesem Abend saß er mit den Ältesten des Clans am Lagerfeuer und lauschte ihrer Trauer.
»Kannst du uns helfen?« fragten sie ihn schließlich, doch seine Antwort fiel nicht eindeutig aus.
»Ich muß erst darüber nachdenken.«
Ihr Vater erholte sich nur langsam. Obwohl seit dem Schlaganfall mehr als zwei Wochen vergangen waren, fühlte sich Austin noch schwach. Sein erster Sitzversuch hatte nicht nur den Arzt bestürzt, sondern auch den Patienten erschreckt und dessen letzte Kräfte aufgezehrt. Er sah inzwischen ein, daß die Genesung länger auf sich warten lassen würde, was ihn jedoch nicht davon abhielt, tagtäglich seiner Ruhelosigkeit und Enttäuschung Luft zu machen.
Innerhalb der Familie herrschte die unausgesprochene Überzeugung, daß er weniger schwach wäre, wenn er sich ruhiger verhielte und auf seine Temperamentsausbrüche verzichtete, zu denen es unweigerlich kam, wenn Austin sich nicht verständlich machen konnte oder der Körper ihm den Dienst versagte. Charlotte hob mit endloser Geduld die Kissen und Decken auf, wenn er sie einmal mehr zu Boden geschleudert hatte; beim Füttern ließ sie sich von seiner Wut nicht beirren; sie brachte ihm Stifte und Papier, damit er aufschreiben konnte, was er von ihnen wünschte, und bückte sich klaglos danach, wenn er damit um sich warf. Er konnte mit der linken Hand nicht leserlich schreiben, und der Anblick seines Gekritzels verstärkte nur noch seinen Zorn.
Charlotte war die ganze Zeit bei ihm und verärgerte die anderen damit, daß sie selbst die trivialste Unterhaltung mit warnendem Stirnrunzeln begleitete oder gar unterbrach. Sie wußten, daß sie weder die Landgesetze noch die Landkarten oder den ominösen Brief des Bankdirektors erwähnen durften. Ebensowenig die Tatsache, daß bereits die ersten Scherer eintrafen, um sich die besten Unterkünfte zu sichern. Auch nicht, daß Minnie verschwunden war. Alles, was mit dem Besitz zu tun hatte, schien tabu. Laut Victor wurde Austin derart in Watte gepackt, daß ihnen kein Gesprächsthema mehr einfallen wollte, das nicht Charlottes Mißfallen erregt hätte.
»Das Hengstfohlen ist ein eigensinniger Bursche«, berichtete Victor seinem Vater. »Rennt herum und tritt in alle Richtungen.«
Charlotte, die hinter Austin stand, schüttelte den Kopf. Vermutlich stieß sie sich an den Worten »rennt herum«, die seinem Vater womöglich die eigene Bewegungslosigkeit in Erinnerung brachten. Doch er beschloß, ihr diesmal keine Beachtung zu schenken, und fuhr fort.
»Er ist eine richtige kleine Schönheit. Louisa durfte ihm einen Namen geben, weil …« Er wollte sagen, »weil ihr die Feier zu unserem Hochzeitstag entgangen ist«, begriff aber, daß er sich damit auf unsicheres Terrain begab, da Austin an jenem Abend den Schlaganfall erlitten hatte. Charlotte würde ihn erwürgen, wenn er diesen Tag erwähnte. Andererseits ruhte Austins Blick auf ihm, und er hörte aufmerksam zu. Die Namensgebung der Vollblüter sowie der edlen Merinoschafe lag ihm sehr am Herzen; schon oft war es darüber zu Auseinandersetzungen gekommen.
»Weil sie an der Reihe war«, stammelte er den Satz zu Ende.
»Die Stute stammt von Joybelle ab, deshalb hat Louisa das Fohlen ›Teddy’s Joy‹ genannt.«
Austins Augen und die linke Hälfte seines Gesichts verzogen sich zu einer lächelnden Grimasse. Victor lachte erleichtert mit. Teddy hatte ihn aus einer peinlichen Lage gerettet.
Draußen packte er Rupe am Arm. »Hast du sein Gesicht gesehen?«
»Ja, es ist förmlich auseinandergefallen.« Rupe haßte das Krankenzimmer und kam nur herein, wenn es die Pflicht verlangte.
»Aber vorher war es ganz schlaff. Als er eben gelächelt hat, konnte er die eine Hälfte bewegen!«
»Das bildest du dir bloß ein.«
»Nein. Meinst du, ich sollte es ihm sagen? Das würde ihn vielleicht aufmuntern.«
»Frag Mum. Sie hat hier das Sagen. Ich glaube, sie freut sich, daß sie ihn endlich unter ihrer Fuchtel hat.«
Victor kam es vor, als sähe sein Bruder den Vater auch nicht ungern als Invaliden. Er strahlte auf einmal eine ganze neue, beunruhigende Autorität aus. Während Austin und Victor die Farm geleitet hatten, hatte Rupe apathisch, ja sogar faul daneben gestanden und nur dann mit Hand angelegt, wenn es ihm in den Kram paßte. Jetzt jedoch steckte er voller Tatendrang und Ideen – nicht nur, was die neuen Grenzziehungen betraf, sondern auf allen Gebieten, von der Merinozucht bis zum Arbeitspensum ihrer Grenzreiter. Zum ersten Mal kam Victor ins Grübeln, ob sein Bruder irgendwann nicht auch seine eigene Autorität in Frage stellen würde.
»Erinnerst du dich übrigens an diesen alten Cullya-Burschen, den Daddy kannte, diesen Zauberer? Er ist wieder da. Wie hieß er doch gleich?«
»Moobuluk«, antwortete Victor.
»Genau. Ich haben ihn jetzt drei Abende hintereinander bei Sonnenuntergang gesehen.«
»Woher weißt du, daß er es ist?«
»Weil Austin sagte, er sei aufgetaucht, als Minnies Mutter starb. Er ist mit ihnen verwandt. Und zieht mit einem dreibeinigen Dingo umher. Jedenfalls ist der alte Bursche nach Hause gekommen und steht Abend für Abend auf der Felsklippe über dem Tennisplatz. Wir arbeiten da draußen. Wenn ich heimkomme, sehe ich ihn jedesmal wie eine Bronzestatue samt räudigem Dingo am Rand der Klippe stehen. Was er wohl von uns will?«
»Nichts. Er ist einfach nach Hause gekommen. Aber an deiner Stelle würde ich es Austin gegenüber nicht erwähnen.«
Rupe grinste. »Zu Befehl, Charlotte!«
Doch Victor nahm diese Neuigkeit nicht so gleichmütig auf, wie er vorgab. Abergläubische Vorstellungen quälten ihn. Als Junge hatten ihn die Geheimnisse der Aborigine-Kultur und die Geschichten über die Traumzeit fasziniert. Er und Harry sprachen den örtlichen Dialekt beinahe so gut wie Austin, da die schwarzen Kinder ihre einzigen Spielgefährten gewesen waren. Die Erzählungen über ehrfurchtgebietende Magier hatten sie oft in Schrecken versetzt, und einige dieser dunklen Ängste waren geblieben.
Austins Verhältnis zu den Schwarzen war immer zwiespältig gewesen und hing von seiner jeweiligen Stimmung ab. Gerade hatte er sich noch maßlos über sie geärgert, und im nächsten Moment bekam Victor mit, wie sein Vater Gäste mit erstaunlichen Geschichten über ihre Kenntnisse des Landes und ihr zweites Gesicht unterhielt. Er pflegte zu behaupten, daß einige von ihnen magische Kräfte besäßen. Oft genug hatte Victor die Geschichte von dem schwarzen Medizinmann mit angehört, einem Zauberer, der an zwei Orten gleichzeitig aufgetaucht war. Und sein Vater war angeblich selbst dabei gewesen, als sich einer dieser Magier vor seinen Augen in einen riesigen Dingo mit flammendem Schlund verwandelt hatte.
Victor wußte nicht, ob es sich dabei um die Geschichte eines Betrunkenen oder um eine Halluzination handelte. Obwohl er selbst nie das Glück gehabt hatte, Zeuge solcher Ereignisse zu werden, hatte auch er von Schwarzen mit erstaunlichen Fähigkeiten gehört. Es war nicht leicht, das Mögliche vom Unmöglichen zu trennen.
Nun sorgte sich Victor wegen des alten Zauberers, dem er noch nie begegnet war. Man erzählte sich viel über Moobuluk. War der Alte wieder einmal gekommen, um einen Tod zu bezeugen? Wie bei Minnies Mutter war er auch diesmal aus heiterem Himmel aufgetaucht, als wisse er, daß ein derartiges Ereignis bevorstand. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Ging es um Austin? Hatten die geheimnisvollen Kräfte Moobuluk ein Zeichen gegeben, daß der Boß bald sterben würde?
Victor schlug die Hände zusammen, um sich von diesen deprimierenden Gedanken loszureißen. Das war genau die Stimmung, die Schwarze vor Angst erzittern ließ. Und er wußte nichts Besseres, als es ihnen gleichzutun, wo doch Austins Genesung so offensichtliche Fortschritte machte.
»Dieser verdammte Moobuluk!« murmelte er vor sich hin.
»Der wird mir keine Angst einjagen.«
Dennoch machte Victor am späten Nachmittag – er befand sich gerade auf dem Heimweg von den Weiden, wo sie die Schafherden zusammentrieben, um sie zur Schur auf die Koppeln nahe des Hauses zu bringen – einen Umweg zum Hügelkamm. Und siehe da, der alte Kerl stand mit seinem Dingo wirklich dort. Beinahe arrogant hatte er sich genau dort aufgepflanzt, wo man den besten Ausblick auf das Haus genoß – in der uralten Position, bei der ein Fuß auf einem Knie ruhte. Den langen Stock hielt er entschlossen vor dem Körper.
Kein Wunder, daß Rupe ihn mit einer Bronzestatue vergleicht, dachte Victor grinsend. Das ist einer ihrer Tricks. Moobuluk stand nämlich mit dem Gesicht zur untergehenden Sonne, so daß sein Körper in kupferglänzendes Licht getaucht wurde und schon von weitem eine eindrucksvolle Erscheinung abgab.
Victor wandte sein Pferd und galoppierte auf den Hügelkamm zu. Er zwang das Tier einen steilen Zickzack-Pfad hinauf, doch als sie oben auf dem Plateau ankamen, erwartete sie nur der knurrende Dingo. Von seinem Herrn war nichts zu sehen.
Victor holte mit seiner Viehpeitsche aus, und der Hund wich grollend zurück.
»Was willst du, alter Mann?« rief er in ihrer Sprache. »Boß-Mann ist krank. Sprich mit mir.«
Eine staubgeschwängerte Bö wehte über den Hügelkamm heran, und der Hund wandte sich ab. Victor zog den Hut tiefer ins Gesicht und folgte dem Tier, wobei er sein Pferd fest am Zügel hielt. Der Staubsturm wurde stärker, die Sicht immer schlechter. Er schaute sich suchend um, da er dem alten Kerl von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen wollte. Dann könnte er Austin wenigstens erzählen, daß er dem legendären Zauberer begegnet war. Den Dingo konnte er gerade noch ausmachen. Vielleicht würde das Tier ihn zu Moobuluk führen. Doch plötzlich wieherte das Pferd und rutschte zur Seite. Victor stand am Rande einer tiefen Felsspalte.
»Jesus!« rief er aus und riß das Pferd mit klopfendem Herzen zurück.
Er stieg ab und tätschelte es, damit es sich beruhigte. »Braver Junge. Mein Gott, das war aber knapp. Ich hätte besser aufpassen sollen. Braver Junge, so dumm bist du nicht, was?«
Er ließ das Pferd stehen und trat allein vor. »An diesen Spalt kann ich mich gar nicht erinnern. Doch ich war auch schon lange nicht mehr hier.« Er untersuchte die Ränder, halb verborgen unter trockenem Gebüsch, und ihn schauderte. Der Dingo hatte sie hierhergeführt. Ein Hund konnte die Spalte mühelos überspringen, doch für einen nichtsahnenden Reiter und sein Pferd stellte sie eine gefährliche Falle dar.
Auch als er den Hang wieder hinunterritt, fühlte sich Victor noch unbehaglich. Seine mangelnde Vorsicht beunruhigte ihn. Doch als er um den Hügel vor dem Haus bog, schüttelte er die Gedanken an Moobuluk ab und lockerte die Zügel, damit das Pferd sich seine Anspannung von der Seele laufen konnte.
Rupe erwartete ihn bei den Ställen. »Wo warst du? Die beiden neuen Grenzreiter sind da. Sie wollen wissen, wieviel wir ihnen bezahlen.«
»Das sage ich ihnen am Ende der Woche, wenn ich weiß, was sie können. Schick sie morgen mit einem unserer Jungs hinaus. Sie müssen unsere Grenzen wie ihre Westentasche kennen. Damit sind sie mindestens eine Woche beschäftigt.«
»Ich habe ihnen gesagt, sie könnten sich Gewehre und Munition aus dem Lager holen.«
»Das war falsch. Sie brauchen im Augenblick keine Schußwaffen; damit lenken sie nur die Aufmerksamkeit auf sich. Offiziell werden sie als neue Viehhüter eingeführt, die nach streunenden Schafen suchen. Und dabei soll es vorerst auch bleiben. Du darfst nicht vergessen, daß dieses Gesetz noch nicht unter Dach und Fach ist. Es könnte sich immer noch als falscher Alarm erweisen.«
Moobuluk sah zu, wie der Sohn namens Victor den Hügelkamm verließ. Sein Haar war gelb wie das seines Vaters, und er war ebenso neugierig. Der dritte Sohn hingegen hatte ihm lediglich im Vorbeireiten einen Blick zugeworfen. Der mittlere, Harry, lebte nicht mehr hier, wie er sich hatte sagen lassen.
Was wollte er von ihnen? Er hatte Victors Frage gehört, wußte aber noch keine Antwort darauf.
Moobuluk hatte sich bei den Küchenlagern der Männer von der Farm verborgen und ihren Gesprächen gelauscht, doch die verschwundenen schwarzen Kinder waren mit keinem Wort erwähnt worden. Die schwarzen Hausmädchen bestätigten, daß auch die Familie nicht von ihnen sprach. Niemand schien einen Gedanken an sie zu verschwenden außer Teddy, der seine Freunde vermißte, und ihm hatte man lediglich gesagt, sie seien nicht mehr da. Die Weißen hatten sie völlig vergessen, als habe ihr kurzes Leben sie nie berührt; sie galten ihnen weniger als die unzähligen Schafe, die sie so liebevoll fütterten und bewachten.
Moobuluk hatte bemerkt, daß Victors Pferd beinahe in die Spalte geraten war, die der Schlangengeist vor Urzeiten geformt hatte, um seine Kinder darin zu verbergen. Der schlaue alte Dingo hatte sie absichtlich auf diesen Weg geführt; vermutlich wollte er sich für den Peitschenhieb rächen.
So. Er wischte sich den Staub aus den Augen. Was nun? Moobuluk besaß neben den schwarzen Hausmädchen noch einen weiteren Spion – Spinner, der mehr weiß als schwarz war. Jedenfalls, was die Hautfarbe betraf. Er entstammte der Verbindung zwischen Gabbidgees Schwester und einem Scherer, dessen Haar so gelb wie das der Brodericks gewesen war. Spinner hatte sich immer für die Lebensweise der Weißen interessiert und liebte Pferde. Niemand wußte, woher sein Name kam, doch das war auch nicht wichtig. Der Junge hatte sich von Kindesbeinen an in den Ställen herumgetrieben und willig mit Hand angelegt, solange er bei den Tieren bleiben durfte.
Als er sich eines Tages weigerte, ins Lager zurückzukehren, und lieber im Stall schlief, hatte ihn seine Mutter ziehen lassen. Sie wußte, daß er dort glücklich und sicher war. Irgendwann hatten die Weißen begonnen, seine Gegenwart als selbstverständlich hinzunehmen. Spinner entwickelte sich zu einem geschickten Reiter und arbeitete nun schon seit mehreren Jahren fest auf der Farm.
Da er wie ein Weißer lebte, beriet sich Moobuluk mit ihm in der Stille des Buschlandes.
»Wo sind unsere Kinder?«
»Man hat sie in die große Stadt gebracht.«
»Um sie zu lehren, wie Weiße zu leben?«
»Ja.«
»Warum konnten sie es ihnen nicht hier beibringen? Mit dir haben sie es doch auch so gemacht.«
»Weil sie ihnen beibringen, wie man ein Christ wird.«
»Was soll das sein?«
»Ich weiß es nicht genau. Aber sie knien sich zum Beten hin. Ich habe gesehen, wie Weiße es tun.«
»Was ist Beten?«
»Mit den Geistern sprechen.«
»Aha. Und was wissen sie von den Geistern?«
Spinner lachte. »Keine Ahnung.«
»Wann kommen sie wieder?«
Spinner schüttelte den Kopf. »Frag mich nicht.«
»Du solltest dich doch für mich danach erkundigen.«
»Keiner weiß Bescheid. Vielleicht nie. Ich habe mit diesem neuen Scherer gesprochen, und er sagt, sie sollen in der Stadt vergessen, daß sie Schwarze sind.«
»Wie soll das gehen? Das ist unmöglich.«
Spinner streckte hilflos die Hände aus. »Ich weiß es nicht. Es tut mir auch leid, aber ich kann nichts daran ändern.«
»Du könntest sie holen. Du bist in ihren Städten gewesen.«
»Aber noch nie so weit. Außerdem würden sie mich nicht gehen lassen. Vielleicht kommen sie ja nächstes Jahr zurück, wenn sie ein Jahr lang gelernt haben.«
Er klang nicht allzu überzeugt, doch Moobuluk nahm ihm ein Versprechen ab. Spinner sollte ihm Bescheid geben, sobald die Jungen zurück wären.
»Bleibst du dieses Mal bei uns, alter Mann?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte Moobuluk betrübt. »Doch ich werde Nachrichtenstäbe vorbereiten lassen. Kennst du dich noch damit aus?«
»Sicher.«
»Dann halte die Ohren offen. Ich werde es dir nicht verzeihen, wenn du mich im Stich läßt.«
Spinner nickte und knackte nervös mit den Knöcheln. Er war nicht so sehr Weißer, als daß er es gewagt hätte, diesem Mann gegenüber sein Wort zu brechen. Wenn Moobuluk mit dem Knochen auf ihn zeigte, hätte sein letztes Stündlein geschlagen.
»Also …«, erklärte Moobuluk den Ältesten, »mir erscheint es als der einzige Weg, wenn ihr nicht noch mehr Kinder verlieren wollt. Ich werde mich zurückziehen, damit ihr in Ruhe entscheiden könnt. Wenn ihr meinem Vorschlag zustimmt, könnt ihr ihn den Leuten unterbreiten; die Entscheidung ist schwer, und sie müssen die Gelegenheit haben, ausführlich darüber zu sprechen.«
Die alten Männer berieten Tag um Tag ernsthaft miteinander, saßen dann gedankenverloren am Lagerfeuer und verkündeten schließlich, daß beim nächsten Mond ein Korrobori stattfinden würde. Dies war die übliche Zeit für das alljährliche Fest der Bäume, die den Menschen ihre Reichtümer, die harten, runden Nüsse schenkten, die nach dem wilden Honig als süßeste Gabe der Natur galten. Die Ältesten besaßen das Recht, den genauen Tag festzusetzen.
Sie hatten vereinbart, daß dies die beste Gelegenheit sei, um dem Clan eine Sache zu unterbreiten, die für sie alle von höchster Wichtigkeit war.