9. Kapitel

Spinner spielte mit dem Gedanken, sich eine Frau zu nehmen, doch es gab da gewisse Hindernisse. Seine Wahl war auf Dixie gefallen, eine aufgeweckte junge Frau, die als Wäscherin für den alten Jock arbeitete. Sie war von seiner Werbung sehr angetan, da es nicht viele Männer ihres Stammes gab, die feste, respektable Stellen als Viehhüter innehatten. Doch als es darum ging, sich für einen gemeinsamen Wohnort zu entscheiden, kam ein Problem auf.

Er konnte Dixie nicht nach Springfield bringen, da es dort keine Unterkünfte für schwarze Frauen gab. Zudem hatte die dortige Horde vor langem ihr Lager verlassen, so daß sie auch da nicht unterkommen konnte.

»Dann mußt du eben hier leben«, sagte sie zu ihm.

Spinner sah sich vor eine schwere Entscheidung gestellt. Diese Farm war sein Zuhause; er liebte Springfield und kannte es so gut wie seine Westentasche. Da er aber auch Dixie liebte, ja ganz wild nach ihr war, gestattete er ihr, diesbezüglich Erkundigungen einzuholen.

Als er sie das nächste Mal besuchte, rannte sie ihm aufgeregt entgegen. »Du bekommst die Stelle. Die Missus sagt, sie will mich nicht verlieren, also kannst du hier als Viehhüter arbeiten. Sie spricht mit dem jungen Mr. Victor darüber. Und soll ich dir noch was verraten? Sie hat gesagt, wir können in der alten Schererhütte hinter den Ställen wohnen! Die anderen Mädchen helfen mir beim Saubermachen und Einrichten. Dann haben wir unser eigenes Zuhause.«

Spinner war begeistert ob dieser überwältigenden Neuigkeiten. Außerdem schmeichelte es ihm, daß Mrs. Crossley, Jocks verwitwete Tochter, ihnen behilflich sein wollte. Seine zukünftige Familie würde in einem richtigen Heim leben! Tatsächlich wären sie dadurch besser gestellt als viele weiße Viehhüter, die in den schlafsaalähnlichen Männerunterkünften wohnten und oft keine Familie gründen konnten, da es kaum Wohnungen für Verheiratete gab. Für Spinner bedeutete die Schererhütte einen gewaltigen Schritt nach vorn; endlich würde er so leben, wie er es sich immer gewünscht hatte. Wie eine weiße Familie. Er war nicht gezwungen, mit seiner Frau bei seiner Horde unten am Fluß zu leben.

Im übrigen war er froh, daß sie weg waren.

Schließlich waren alle Vorbereitungen getroffen, und in Springfield wußten alle Bescheid, daß Spinner heiraten und den Besitz verlassen würde. Sie zogen ihn zwar unbarmherzig damit auf, aber er merkte, daß sie sich insgeheim für ihn freuten.

Doch dann änderte er plötzlich seine Meinung und weigerte sich strikt, Springfield zu verlassen.

Dixie war ebenso verwirrt wie empört, und Mrs. Crossley empfand Mitleid mit ihr. Sie erkundigte sich bei Victor nach der Ursache für diesen Sinneswandel, doch auch ihm waren Spinners Gründe unbekannt. Auf Anfragen hatte dieser lediglich erklärt, er liebe Dixie noch immer und wolle sie nach wie vor heiraten, könne aber den Besitz nicht verlassen.

Vermutlich sei die Bindung an den Clan doch noch zu stark, antwortete Victor Mrs. Crossley, und Spinner fürchte sich vor dem Heimweh. Er würde schon darüber hinwegkommen, es brauche nur ein wenig Geduld.

Doch in Wahrheit hatte Spinner sich plötzlich an Bobbo, Jagga, Doombie und das Versprechen erinnert, das er Moobuluk gegeben hatte. Sein Versprechen, nach ihnen Ausschau zu halten, sich umzuhören und ihm sofort zu berichten, wenn er etwas in Erfahrung brachte. Natürlich hätte er auch von Zeit zu Zeit nach Springfield hinüberreiten und sich nach den Kindern erkundigen können, doch das wäre nicht das, was der Zauberer von ihm erwartete. Als letztes Clanmitglied mußte er dortbleiben.

Wann aber würde er die Farm endlich verlassen können?

Als er eines Tages mit Jack Ballard am Vorratsraum vorbeikam, sah er drinnen Teddy mit seinem Vater stehen und fragte beiläufig: »Teddy ist schon großer Junge. Wann geht zur Schule?«

Jack lachte. »Noch lange nicht. Er hat hier eine Lehrerin. Das Mädchen, dem Rupe schöne Augen macht.«

»Klar.« Spinner nickte. »Wann sind Bobbo und andere Kinder wohl mit Schule fertig?«

»Wer weiß«, antwortete Jack gleichgültig und ging zu Victor hinüber. Also hatte Spinner noch immer keine Neuigkeiten für Moobuluk. Vielleicht kehrten die Jungen niemals mehr heim.

Als dann der Boß starb, machte sich Spinner noch größere Sorgen. Er spürte, daß sein Clan mit dem Dahinscheiden dieses Mannes eine wichtige Brücke zu der Welt der Weißen verloren hatte. Der Boß hätte sicher gewußt, wo die Kinder waren; er hätte nicht zugelassen, daß man sie einfach wegholte und irgendwo verschwinden ließ.

Während des Trubels anläßlich der Beerdigung nutzte Spinner die Gelegenheit und stahl sich unbemerkt davon. Er ritt einen ganzen Tag lang nach Norden, bis er das Lager des Warrigal-Stammes mit dem Dingo-Totem erreichte. An dieser Stelle vereinigten sich zwei Flüsse. Er hinterließ dort für Moobuluk die Nachricht von Boß Brodericks Tod. Er ging nicht davon aus, daß es den Alten sonderlich interessierte, doch er wollte ihm dadurch beweisen, daß er nach wie vor loyal war. Vielleicht würde Moobuluk sogar Kontakt zu ihm aufnehmen. Spinner wünschte sich sehnlichst, bei dieser Gelegenheit von seinem Versprechen entbunden zu werden.

 

Moobuluk erhielt die Nachricht, als er die große Hügelkette erkletterte, die sich wie ein Rückgrat an der Ostküste entlangzog und den Menschen half, sich zu orientieren. Er besuchte alte Freunde bei den Hügelstämmen und sandte Späher aus, die sich nach Nioka umhören sollten. Niemand hatte sie gesehen, was angesichts der Entfernung, die sie zurücklegen mußte, nicht weiter verwunderlich war. Falls sie überhaupt unterwegs nach Süden war. Er hatte sich einige Tage zurückgezogen und meditiert, um geistigen Kontakt zu ihr aufzunehmen und ihre Geheimnisse zu ergründen, war aber nur auf Zorn gestoßen. Keinerlei Hinweise auf ihren Aufenthaltsort. Immerhin war sie noch am Leben.

Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Tod von Boß Broderick zu, der ihn betroffen machte. Er selbst litt unter Beschwerden, die ihn darauf hinwiesen, daß auch seine Tage gezählt waren. Dabei gab es noch so viel zu tun.

Nun, da er wußte, daß Nioka ihr eigenes Leben nicht so leichtfertig verschenkt hatte wie ihre Schwester, hatte er es nicht mehr eilig, sie zu finden. Es war besser, wenn sie ihrem Zorn auf ihre Weise Luft machte. Früher oder später würde er sie ausfindig machen. In der Zwischenzeit brauchten ihn die Hügelbewohner, um ihre zahlreichen Probleme zu lösen. Es mußte entschieden werden, welche Ältesten zu Hütern des Liedes ernannt werden sollten, welche Väter aufgrund ihrer erworbenen Weisheit die wichtigsten Initiationsriten ausführen durften; daneben ging es um Streitigkeiten im Zusammenhang mit Totems und Eheschließungen wie auch um die unvermeidliche Sorge um das Vorrücken der Weißen.

Entsetzt erfuhr er, daß die Weißen Angehörige aller Clans und Stämme in riesige Lager drängten, die man Reservate nannte und die von den Schwarzen nicht verlassen werden durften. Eines davon lag in Yarrabah, ein anderes außerhalb einer Weißenstadt namens Ipswich. Diesen Ort kannte er gut. Er befand sich auf den Ebenen, die sich bis zu den weiten Grasplateaus, seiner eigenen Heimat, erstreckten.

Er hörte von all den bedauernswerten Menschen, die an diese Orte gebracht, sogar mit dem Schiff aus dem Süden herauftransportiert und wie Schafe eingepfercht wurden, und daß dort niemand Verständnis für Stammestabus aufbrachte, nach denen bestimmte Clans nicht gemeinsam am Lagerfeuer sitzen durften.

»Ich muß an diese Orte gehen«, sagte Moobuluk. »Ich muß es mit eigenen Augen sehen, denn diese Geschichten sind nur sehr schwer zu glauben.«

Yarrabah lag weit im Norden, das andere Reservat näher. Er folgte der Hügelkette nach Süden und erreichte von Westen her über Boß Brodericks Schafweiden das große Plateau. Spinner war noch dort. Obwohl er anscheinend keine Nachricht von den Kindern erhalten hatte, könnte er Nioka begegnet sein. Vielleicht war sie in der Hoffnung, sie dort anzutreffen, nach Springfield zurückgekehrt.

Moobuluk selbst hielt diese Hoffnung für vergeblich, da sie nun schon ganze Familien aus ihrer Heimat wegbrachten. Ihm liefen die Tränen über das vernarbte Gesicht. »Was soll bloß aus uns werden?«

Nioka hatte einen anderen Weg eingeschlagen als bei der gemeinsamen Wanderung der Horde nach Norden. Auf dem kürzesten Weg hatte sie die Siedlungen der Weißen aufgesucht, wo sie verzweifelt nach den Kindern Ausschau hielt.

Dieser Plan war ihr im Traum eingefallen, einem Alptraum, in dem sie mit ihrer Schwester gekämpft und versucht hatte, sich vor Minnies heftigen Keulenschlägen zu schützen. Dabei drohten sie beide in einem See zu ertrinken, über dem ein wilder Sturm tobte.

»Finde meinen Bobbo!« kreischte Minnie.

»Das geht nicht. Laß mich in Ruhe. Ich muß an Land.«

Sie schwamm wie wahnsinnig, war zornig auf Minnie, schluchzte vor Angst und schrie: »Ich weiß nicht, wo ich suchen soll.«

»Und ob du es weißt, du faules Miststück. Hättest du besser auf sie aufgepaßt, während ich gearbeitet habe, wären sie gar nicht erst verlorengegangen.«

Minnie schlug, unterstützt von unbekannten Dämonen, auf Nioka ein, die verzweifelt auf das unsichtbare Ufer zustrebte. Sie erwachte schweißgebadet und fand sich in der einsamen Hütte wieder, die sie für sich im Wald oberhalb des Sees errichtet hatte. Doch die Dämonen waren noch da. Wütend sprang sie auf und rannte schreiend ins Gebüsch.

»Laßt das, ihr bösen Wesen! Laßt meine Schwester ruhen, sonst rufe ich die Geister auf euch nieder. Meine Schwester war schwach, ich bin es nicht. Meine Mutter auch nicht.« Sie hob die Faust gegen die bedrohlich wirkenden Bäume. »Wir sind von hoher Herkunft. Nachkommen großer Häuptlinge. Ich werde ihren Sohn und meinen Sohn und Gabbidgees Sohn finden. Auf euer und ihr Geheul kann ich gut verzichten!«

Die Worte entsetzten sie, doch sie konnte sie nicht mehr zurücknehmen. Sie kehrte in den Schatten der Hütte zurück, setzte sich nieder und aß ein paar Nüsse.

Mit welchem Recht sagte Minnie, sie wüßte, wo sie zu suchen hätte? Wie konnten sie es wagen, ihr die Schuld zu geben? Wo sollte sie überhaupt mit ihrer Suche anfangen?

Und dann fiel es ihr ein. Natürlich bei den Weißen. Sie mußten dort irgendwo sein.

Sie würde von den Hügeln hinuntersteigen und die erleuchteten Häuser der Weißen aufsuchen. Straßen folgen, die zu anderen Lagern und Städten führten, und dabei jeden Zentimeter ausspähen. Damit würde sie ihre Schwester endlich zum Schweigen bringen.

Als sie aufbrach, war sie wütend auf Minnie, die Dämonen und vor allem auf den weißen Betmann und seine Sippschaft. Diese Wut trieb sie vorwärts.

Im ersten Dorf stahl sie eine Bluse und einen Rock von einer Wäscheleine, schwamm durch einen Bach, um sich vom Reiseschmutz zu befreien, und band ihr Haar mit einem Streifen Stoff von der Bluse zusammen. Barfuß, aber bekleidet, ging sie die Straße entlang, als kenne sie ihr Ziel genau, sah sich dabei aber ständig um und horchte auf Kinderstimmen.

Schon bald lernte Nioka die Schulen zu erkennen, doch sie schienen weißen Kindern vorbehalten zu sein; sie bemerkte Betmänner in schwarzer Kleidung mit umgedrehten Kragen und folgte ihnen in ihre Bethäuser. Einer von ihnen, ein alter, weißhaariger Mann, lud sie sogar zur Besichtigung seiner Kirche ein, doch Nioka traute sich nicht hinein, aus Angst, es sei eine Falle. Zu ihrer Überraschung fragte er, ob sie hungrig sei, womit er den Nagel auf den Kopf traf. Er bat sie zu warten. Vorsichtig blieb sie unter einem Baum stehen, und er kehrte mit einem Gefäß voll warmer Suppe zurück, die sie gierig trank.

»Woher kommst du?« fragte er freundlich.

»Nirgendwo.«

»Du lebst nicht hier?«

»Nein.«

»Bist du einfach auf Wanderschaft gegangen?«

»Ja.«

»Ganz allein? Das ist aber ungewöhnlich. Du scheinst ein anständiges Mädchen zu sein. Es ist sehr gefährlich, allein umherzuwandern. Du solltest mit meiner Frau sprechen, sie könnte dir eine Stelle besorgen …«

Nioka verstand von alledem nur, daß er von einer Stelle sprach, und zum Arbeiten hatte sie keine Zeit. Da er es aber anscheinend gut mit ihr meinte, nahm sie allen Mut zusammen und fragte: »Wo ist Schule für schwarze Kinder, Mister?«

»Die Schule für schwarze Kinder?« wiederholte er. »Nun, hier gibt es jedenfalls keine. Sie brauchen nicht zur Schule zu gehen. Warum fragst du? Hast du Kinder bei dir?«

Nioka ging wortlos davon, da sie nicht mehr Zeit für den alten Burschen erübrigen konnte. Sie hatte erfahren, was sie wissen wollte: Hier gab es keine Schule für ihre Jungen.

Außerhalb der kleinen Städte stieß sie oft auf traurige, erbarmungswürdige Aborigine-Lager, in denen die pure Verzweiflung herrschte. Für diese Menschen war es zu spät, um in ihre Jagdgründe zurückzukehren, und zu früh, um die Welt der herrschenden Weißen zu verstehen. Demütig nahm Nioka ihren Schutz und die armseligen Nahrungsmittel an, die sie ihr anboten. Sie sah mit eigenen Augen, welche Wirkung der Schnaps auf die jungen Männer hatte. Ihre Mutter und zugegebenermaßen auch Boß Broderick hatten sie oft genug davor gewarnt. Beide hatten im Lager jeglichen Schnaps verboten und Viehhüter oder Scherer, die ihn trotzdem hinbrachten, umgehend der Farm verwiesen.

Von diesen Menschen erfuhr sie etwas über die Missionen, wo sie Kinder hinschafften, und über Reservate, in die ganze Familien verfrachtet wurden. Sie waren nicht mehr wert als der Staub unter ihren Füßen. Wohin sie auch kam, überall fürchteten die Aborigines, sie könnten die nächsten sein, und warnten sie vor der Polizei.

Nioka wanderte weiter und fragte sich, ob die Reservate wohl noch schlimmer als diese ausgedörrten, staubigen Lager sein konnten, in denen man den ganzen Tag lang nur auf Besucher hoffte, die Schnaps oder Essen mitbrachten. Andererseits konnten die Menschen die Reservate nicht einfach verlassen, was diese auf eine Stufe mit einem Gefängnis stellte. Vor dem Gefangensein empfand sie Angst. Sie stellte sich vor, welche Unruhen entstehen mußten, wenn sie Menschen mit den unterschiedlichsten Totems in einen Raum sperrten. Die Geister würden verrückt spielen und die Leute vollends verwirren.

In ihrer Einsamkeit verkroch sich Nioka, kurz bevor sie eine weitere Stadt erreichte, in einer Scheune und weinte. Sie hatte einfach zuviel gesehen. Diese Wanderung war ein furchtbarer Fehler gewesen. In der Geborgenheit von Springfield und des Landes am See, in das Moobuluk sie voller Umsicht geführt hatte, hatte Nioka sich diese Welt gar nicht vorstellen können. Ihre Kleidung war inzwischen zerfetzt und schmutzig, und sie fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben minderwertig – eine furchtbare Empfindung. Alle Schwarzen, denen sie begegnet war, wußten so viel über diese Welt und andere Dinge. Sie begriff, daß sie in ihren Augen nur eine verlassene und nicht allzu kluge Stammesangehörige war.

In dieser Nacht kam ihre Mutter zu ihr, doch sie spendete ihr keinen Trost. »Was hast du denn erwartet? Du wolltest ja nicht auf mich hören. Oh nein, für dich sollte die Welt stillstehen. Und jetzt tust du dir selber leid. Du wolltest keinen Platz in der Welt der Weißen, und diesen Wunsch hat man dir erfüllt. Für sie existierst du überhaupt nicht.«

Doch auch Boß Broderick, der grundsätzlich nie einer Meinung mit Niokas Mutter war, erschien ihr. »Geh nach Hause, du gehörst nach Springfield«, sagte er.

Er wirkte traurig, als er das sagte. »Warum bist du fortgegangen? Warum seid ihr alle gegangen? Keiner von euch war da, um mich mit einem Lied auf die Reise zu schicken, und ich habe euch vermißt. Das hat mein Sterben traurig gemacht. Ich habe euch nie etwas Böses gewollt.«

Moobuluk hatte recht behalten. Nioka hatte ihren Zorn bei der Wanderung nach und nach abgestreift. Die seltsamen Welten, in die sie gelangt war, hatten das Feuer in ihrem Inneren gelöscht, sie demütig gemacht, weil sie keine Antwort auf ihre quälenden Fragen fand.

Was soll aus uns werden? fragte sie sich unablässig, wußte aber nicht, weshalb dieser Gedanke sie so hartnäckig verfolgte. Sie war doch nur eine unbedeutende Schwarze. Nioka wanderte weiter, durch die Vororte einer Stadt, bis sie zu einem Fluß kam.

Die Dämonen nutzten ihre Hilflosigkeit sofort aus. »Sieh nur, dies ist ein großer Fluß. Breit und aufregend. Ergib dich den Flußgeistern, sie werden dich in ihre Herzen schließen …«

Vielleicht hatten sie ja recht. Der mächtige, schnell fließende Strom führte zu den Wundern der Ozeane, von denen Nioka nur gehört hatte und die sie niemals sehen würde. Es wäre so leicht, sich einfach im warmen, samtigen Wasser aufzulösen …

Sie setzte sich ans Ende eines Anlegestegs und spielte mit dem Gedanken, sich um ihres Friedens willen in den Traum gleiten zu lassen und sich auf diese Weise von all den furchtbaren Wirrnissen zu befreien.

»Was machst du hier, Mädchen?« fragte ein Mann, der dabei war, seine Angelleine auszuwerfen.

Nioka drehte sich zu ihm um.

Was machte sie hier? Was war geschehen? Hatte sie vergessen, weshalb sie den See verlassen hatte? Sie vermeinte, die Jungen weinen zu hören. Niemand sonst suchte nach ihnen. Minnie war tot, Gabbidgee hatte aufgegeben. Würde sie sie nun auch noch im Stich lassen?

»Wie heißt dieser Ort?« fragte sie müde.

Er grinste. »Nun, du bist hier in Brisbane, Missy. Das hier ist der gute alte Brisbane River, verdammt mächtiger Fluß.«

Nioka blickte stromabwärts und schrak zusammen. Dies war kein Dorf, sondern eine riesengroße Stadt. An den Ufern drängten sich Häuser, und eine ungeheure Brücke überspannte den Fluß.

»Alles in Ordnung?« fragte der Angler.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Boß. Hab’ mich wohl verlaufen.«

»Wohin willst du denn?«

»Springfield.«

Er kaute auf seiner Pfeife. »Hab’ nie von der Stadt gehört.«

»Keine Stadt, Ort mit vielen Schafen.«

»Ach so, dann kann es nicht hier in der Nähe sein.«

Nioka war fassunglos. So weit war es also schon mit ihr gekommen – sie mußte einen Weißen nach dem Weg in ihre Heimat fragen!

Tränen liefen über ihre schmutzigen Wangen. »Ich will nach Hause.«

»Na, na, das ist doch kein Grund zum Weinen. Nimm erst mal das Brötchen hier. Wenn ich unser Essen gefangen habe, rede ich mit meiner Missus. Vielleicht weiß sie ja, was zu tun ist. Es gibt ja nicht viel, was sie nicht weiß. Aber erzähl ihr ja nicht, daß ich das gesagt habe!«

 

Freda Omeara stand in der schmalen Gasse mit den schäbigen Häuschen und wedelte ungeduldig mit ihrer Schürze. »Rein mit euch, Kinder!« rief sie. Die zerlumpte Schar riß sich von ihrem Spiel los und drängte sich an die Mutter. Dann blieben die Kinder jedoch stehen und spähten ihrem Vater entgegen, der die Straße hinaufkam, an den leeren Bierkästen vorbei, die vor dem Hintereingang des Pubs aufstapelt waren. Die Kinder wußten, daß sie seinetwegen mit der Schürze wedelte; das tat sie immer, wenn sie wütend war. Es war beinahe dunkel, und er würde zu spät zu seiner Arbeit als Nachtwächter kommen.

Sie stießen einander an und grinsten, warteten auf die Explosion, denn ihr Pa kam nie zur rechten Zeit.

»Du kommst noch mal zu spät zu deiner eigenen Beerdigung«, pflegte Freda zu sagen.

Auch diesmal wurden die Kinder nicht enttäuscht. »Du warst im Pub, du Unglückswurm!« kreischte sie, als er nah genug herangekommen war. »Willst du diese Stelle auch noch verlieren? Und wir sind schon mit der Miete im Rückstand. Denkst du denn gar nicht an die Kleinen?«

Pa nahm sie nie ernst; er schien überhaupt nichts ernst zu nehmen. Verschmitzt drohte er ihr mit der Angelrute. Freda wich ihm aus, wobei sich die Kinder weiter an ihrer Schürze festklammerten.

»War nicht im Pub, sondern fischen, siehst du das nicht? Und hier im Korb ist unser Essen.«

Doch seine Frau starrte an ihm vorbei auf die große, heruntergekommene Schwarze, die sie zuerst für eine Passantin gehalten hatte. Nun blieb sie jedoch unmittelbar neben den Omearas stehen.

»Wen hast du da bei dir?«

»Hm, das hier ist Nioka. Eine tolle Anglerin. Hat schöne, fette Flußkrebse gefangen. Sieh dir die mal an! Zusammen mit den Fischen gibt das ein richtiges Festessen.« Er drehte sich zu Nioka um. »Sag Mrs. Omeara guten Tag, dann gehen wir rein.«

Als Nioka schüchtern nickte, sahen die Kinder zu ihrer Mutter auf.

»Was denkst du dir dabei, eine Schwarze mitzubringen? Bist du völlig von Sinnen?«

Dann geschah etwas, das nur selten vorkam. Das Lächeln verschwand aus seinem breiten Gesicht, und die blauen Augen wurden schmal.

»Das ist nur fair, Mrs. Omeara. Sie hat uns die Krebse gefangen.«

»Dann gib sie ihr und schick sie weg!«

Er zögerte, sah von einer zur anderen. Dann ergriff er den Arm seiner Frau, um sie zu beruhigen, und strahlte sie an. Erleichtert sahen die Kinder, daß sich das Gewitter verzogen hatte.

»Das geht nicht, da wäre nämlich noch etwas. Sie hat sich verlaufen, und ich hab’ ihr gesagt, daß meine liebe Frau gebildet ist und lesen und schreiben kann. Wenn jemand ihr helfen kann, dann du.«

Die Kinder spürten förmlich, wie sich ihre Mutter entspannte. Sie war stolz auf ihre Bildung, konnte sie aber in ihrer ärmlichen Umgebung selten nutzen, außer wenn sie ihren Kindern mit Tafel, Kreide und Spucke Buchstaben und Zahlen einbleute.

»Was kann ich ihr schon sagen?«

»Laß uns erst mal reingehen, sonst komme ich wirklich noch zu spät zur Arbeit«, murmelte er und grinste vielsagend.

Sie drängten sich in das Zweizimmerhäuschen mit dem Schindeldach.

»Nicht so schnell«, fauchte Mrs. Omeara und schickte ihren Mann erst einmal auf den Hinterhof, um die Fische zu säubern und die Schalen der Flußkrebse zu entfernen. Die älteste Tochter feuerte den Herd an, wärmte den Haferschleim auf und wies ihre Schwester an, das von Rüsselkäfern wimmelnde Mehl und die Fettbüchse zu holen, um die Fische darin zu braten.

Das dunkelhäutige Mädchen drückte sich an der Tür herum, als wolle es jeden Augenblick die Flucht ergreifen.

»Nioka heißt du?« fragte Mrs. Omeara entschlossen. Sie nickte.

»Sprichst du Englisch?«

»Kleines bißchen«, flüsterte sie.

»Immerhin etwas. Aber eins muß ich dir sagen: Hier bestimme ich, was getan wird. Und ich kann dich nicht in meinem Haus dulden, wenn du so stinkst wie jetzt. Komm mit.«

Sie führte Nioka durch die Hintertür, vorbei an der Bank, wo ihr Mann mit Hilfe der beiden Söhne die Fische säuberte, hinein in die Waschküche. Sie schloß die klapprige Tür hinter ihnen.

»Weißt du, was das ist?« fragte sie und deutete auf die große Blechbadewanne.

»Ja, Missus.«

»Gut. Denn du wirst dich jetzt von Kopf bis Fuß abschrubben.« Sie öffnete die Tür und rief einer ihrer Töchter zu: »Sheila, bring mir den Eimer und die Kernseife, und zwar schnell!«

Allmählich ging Nioka dieses herrische Benehmen auf die Nerven. Sie war einsam, niedergeschlagen und sehr hungrig, besaß aber auch ihren Stolz. Ungerührt sah sie zu, wie die Badewanne einige Zentimeter tief mit Wasser gefüllt wurde. Dann schickte die Missus Sheila ins Haus, damit sie ihrem Vater sein Essen vorsetzte.

»Steig hinein und wasch dich. Die Haare auch, verstanden?«

Nioka richtete sich würdevoll auf und blickte auf die rundliche Frau hinunter. »Ich brauche ein Handtuch.«

Die Frau sah sie erstaunt an. »Wie bitte? Ach so, ja, da hast du wohl recht. Warte, ich hole dir eins.«

Nioka kannte nur die kuschelig weichen Handtücher aus der Wäscherei von Springfield und sah den erbärmlichen Stoffetzen, den ihr die Frau brachte, etwas befremdet an. Ohne ein Zeichen der Dankbarkeit nahm sie es entgegen.

 

Im Haus knallte Mrs. Omeara die Teller der Kinder auf den Tisch.

»Ganz schön hochnäsig, die junge Frau. Hält sich anscheinend für was Besseres.«

Ihr Mann sah von seinem Essen auf. »Sie tut nur so. Sieh zu, ob du ihr helfen kannst.«

»Was denkst du, daß ich die ganze Zeit tue? Ich kann sie übrigens nicht wieder in diese verdreckten Lumpen stecken, die sind nur noch zum Verbrennen gut. Was soll ich ihr zum Anziehen geben?«

»Hinter deiner Schroffheit steckt doch ein gutes Herz. Du wirst schon etwas finden.«

»Gott steh uns bei!«

Zu ihrem Entsetzen besaß das Mädchen keine Unterhose, nur Rock und Bluse. Mrs. Omeara fand in ihrer Kleiderkiste eine rosa Unterhose, eine schwarze Strickjacke und einen verblichenen, braunen Rock, den sie eigentlich als Flicken verwenden wollte. Sie legte die Kleidungsstücke rasch auf den Hocker in der Waschküche und suchte die Augen von dem Mädchen in der Wanne abzuwenden. Zum ersten Mal hatte sie einen Blick auf den glänzenden, schwarzen Körper einer Aborigine-Frau erhascht. Sie errötete beim Hinausgehen, denn der kurze Moment hatte ihr eine geschmeidige Figur enthüllt, die beinahe schön zu nennen war.

Als alle gegessen hatten, das Dutzend fetter Flußkrebse verschwunden und Mr. Omeara zur Arbeit gegangen war, stellte seine Frau die Lampe auf den frisch geschrubbten Tisch.

»Nun, worum geht es denn eigentlich?«

Nioka holte tief Luft, heraus kam jedoch etwas, das verdächtig nach einem Schluchzen klang. Sie hatte gehofft, den Mann nach den Jungen fragen zu können, doch nun saß sie hier allein mit der barschen Frau und ihren gaffenden Kindern. Sie fühlte sich von ihnen eingeschüchtert.

»Der Herr sagen, Sie wissen, wo Springfield ist.«

»So, so, der ›Herr‹ hat das gesagt. Hat es aber weit gebracht in der Welt. Lebst du in Springfield?«

Nioka nickte.

»Und du möchtest nach Hause?«

»Ja, Missus.«

»Laß mich mal überlegen. Er sagte, es sei eine Schaffarm. Stimmt das?«

»Ja, Missus.«

»Wie kommst du nach Brisbane?«

»Hab’ mich verlaufen.« Nioka hielt das, im Gegensatz zu Mrs. Omeara, für die einleuchtendste Erklärung.

»Ich wußte gar nicht, daß Leute wie du sich verlaufen können. Dachte, ihr würdet eurer Nase folgen. Sieht aber so aus, als hättest du dich tatsächlich verlaufen. Hier in der Gegend gibt’s keine Schaffarmen. Wo soll sie denn liegen?«

Nioka hielt die Frage für dumm. Hätte sie es gewußt, müßte sie nicht danach fragen. Sie sah die Frau ausdruckslos an.

»In welcher Richtung? Norden? Süden?«

»Weiß nicht.«

»Du lieber Himmel! Dann suchen wir ja die Nadel im Heuhaufen. Sheila, hol mir meine Landkarte!«

Das Mädchen lief ins Nebenzimmer und kam nach einer Weile mit einer zusammengefalteten Karte zurück. »Meinst du die hier?«

»Ja. Breite sie hier aus. Nun«, sie schaute ihre versammelten Kinder an, da sich die Gelegenheit zu einer Lektion bot, »dies ist meine Karte von Queensland. Ich habe sie von meinem eigenen Geld gekauft, weil ich gerne weiß, wo ich mich befinde. Kannst du lesen, Mädchen?«

»Nein, Missus.«

»Das hatte ich auch nicht erwartet. Ihr Kinder paßt jetzt gut auf. Wenn sie lesen könnte, hätte sie dieses Problem gar nicht. Sie könnte sich eine Landkarte besorgen und würde den Weg nach Hause ganz leicht finden. Also ist es wichtig, Lesen zu lernen. Habt ihr mich verstanden?«

»Ja, Mutter«, erklang ein Chor ernsthafter Stimmen.

Ihre Augen wanderten aufmerksam über die Karte. »Dieser Staat ist riesengroß, vierzigmal größer als Irland, wo Pa und ich hergekommen sind. Vielleicht sogar fünfzigmal. Von da oben kann sie aber nicht gekommen sein, dann hätte sie keine Fußsohlen mehr. Sehen wir mal hier unten nach. Hier liegt Brisbane, da sind wir. Da ist der Fluß.«

Sie lehnte sich zurück, damit die Kinder sehen konnten, auf welcher Stelle ihr Finger ruhte. Fasziniert beugte sich Nioka ebenfalls nach vorn.

Dann mußten sie beiseite treten, damit Mrs. Omeara nach dem Namen suchen konnte. Ihr Finger wanderte über die Karte, hielt inne, bewegte sich weiter, und Nioka begriff plötzlich, daß diese Boßfrau die Suche richtig genoß. Sie wirkte auf einmal viel fröhlicher und erinnerte sie an Hannah, die Köchin auf Springfield. Diese war oft herrisch und gereizt gewesen, doch abends nach getaner Arbeit zeigte sie sich viel netter und war freundlich zu Minnie und den Kindern, die sie großzügig mit Essensresten bedachte.

Sie schaute sich in der winzigen Küche mit dem alles beherrschenden Herd um, betrachtete den Steinboden und die wackligen Möbel. Was würde diese weiße Frau wohl von der geräumigen Küche auf Springfield halten, die größer war als das ganze Haus der Omearas zusammen? Erstaunlich, daß weiße Menschen so arm sein konnten.

Mrs. Omeara setzte kopfschüttelnd ihre Suche fort.

»Kannst du es nicht finden, Mutter?« erkundigte sich einer der Jungen besorgt.

»Vielleicht steht es hier gar nicht drin. Nicht alle großen Farmen sind auf den Karten verzeichnet. Nur die Städte. Hör zu, Mädchen, in der Nähe muß es doch eine Stadt geben. Kennst du ihren Namen?«

Nioka runzelte die Stirn. »Stadt?«

»Ja, sie müssen ihre Vorräte doch in irgendeiner Stadt kaufen. Die kennst du doch sicher.«

Da leuchtete der Name wie eine Sternschnuppe vor Niokas innerem Auge auf. »Ja, Stadt! Ich weiß, Missus. Ist Cobbside.« Sie sprach den Namen langsam und deutlich aus. Der Finger sauste wieder über die Karte.

»Bring mir mal das Lineal, Johnny«, sagte Mrs. Omeara. Der Junge holte es aus der Kommodenschublade, und seine Mutter bewegte es quälend langsam über das Blatt. Alle sahen in atemloser Spannung zu.

»Hab’ nie davon gehört«, murmelte sie. »Obwohl ich diese Karte tausendmal studiert habe, kann ich mich an kein Cobbside erinnern. Stimmt der Name wirklich, Nioka?«

Zum ersten Mal hatte sie ihren Namen ausgesprochen, und Nioka war stolz. Sie fühlte sich akzeptiert.

»Ja, Missus.«

»Ist es ein kleiner Ort? Vielleicht zu klein, zu unbedeutend, um auf dieser Karte zu stehen? Wir müssen es noch einmal versuchen. Kennst du noch eine andere Stadt da draußen?«

Der Kinder seufzten, als Nioka den Kopf schüttelte. Die Frau aber sah sich einer Herausforderung gegenüber, die ihr ganzes Wissen verlangte, und würde nicht aufgeben, schon gar nicht vor Zeugen, die es ihrem Mann weitererzählen könnten, der doch so fest an sie glaubte.

»Ich sage dir was. Ich lese dir jetzt ein paar Städtenamen vor, und du sagst mir, ob bei dir etwas klingelt.«

Nioka wußte nicht genau, woher das Klingeln wohl kommen sollte, verstand aber, was von ihr verlangt wurde. Die Missus beugte sich über die Karte und las Namen vor.

Bei ihren Reisen hatte Nioka bemerkt, daß sie viel mehr Englisch verstand, als sie vermutet hatte. Auf Springfield hatte sie die Ohren vor der Sprache der Weißen verschlossen und vor allem in Minnies Gegenwart vorgegeben, sie nicht zu verstehen.

Doch nun war sie völlig hilflos, als ihr die Missus willkürlich einzelne Namen an den Kopf warf.

»Maryborough. Sandgate. Redcliffe …«

Sie sagten ihr gar nichts, doch als Gympie erwähnt wurde, meinte sie, einen Kommentar abgeben zu müssen.

»Stechender Baum«, übersetzte sie beflissen.

»Was? Ist das der Ort?« fragte die Missus erwartungsvoll.

»Nein.«

»Ist das die Bedeutung des Namens?«

»Ja.«

»Na so was! Wie steht es denn mit dem hier – Gyandah?«

»Donner«, erwiderte Nioka grinsend. Damit begann ein neues Spiel.

Yarraman hieß Pferd. Kingaroy rote Ameisen. Nambour war die Keulenlilie, Bundaberg die Heimat des Bunda-Volkes. Mrs. Omeara klatschte vor Freude in die Hände. Das konnte sie nicht aus Büchern lernen. Sie würde die Namen später aufschreiben. Dann suchte sie aus Spaß weitere einheimisch klingende Begriffe heraus, wobei sie den eigentlichen Zweck der Suche vorübergehend vergaß.

»Maroochy?«

»Schwarzer Schwan.«

»Indooroopilly?«

»Viele Blutegel im Bach.«

»Mareeba?«

»Weiß nicht, andere Sprache.«

»Toowoomba?«

»Großer Sumpf. Wasser unter Erde.« Sie hätte es beinahe übergangen, so vertieft war sie in das Spiel. »Das ist die Stadt, Toowoomba! Große Stadt. Boß Broderick reitet oft dorthin. Viele Leute da.«

»Gott sei Dank, wir kommen der Sache näher! Sieh mal, genau hier ist es. Wie weit ist die Farm von Toowoomba entfernt?«

Nioka maß Entfernungen nur in Tagesmärschen und war zudem noch nie in Toowoomba gewesen, hatte nur davon gehört. Sie zerbrach sich den Kopf und gab eine Schätzung ab, um nicht unwissend zu erscheinen.

»Drei Tage«, verkündete sie unbekümmert.

»Drei Tage, das ist ein langer Marsch. Und von hier aus ist es noch weiter. Bin selbst nie dagewesen, es ist ein paar hundert Meilen entfernt.« Mrs. Omeara grinste, stolz auf ihren Erfolg. »Da draußen gibt es Schaffarmen, da hast du schon recht, aber du hast dich gehörig verlaufen. Wir müssen meinen Mann fragen, was da zu tun ist.«

Nioka hatte sich eher im Geiste als räumlich verlaufen, weil sie auf der Suche nach den Jungen verzweifelt durch die Labyrinthe der Straßen und Gassen geirrt war. Die Angst hatte sie davon abgehalten, Weiße nach dem Weg zu fragen. Angst, man würde ihre Suche verdächtig finden und die Jungen nur noch besser im Gewirr der Städte verbergen.

Nun aber wurde sie angesteckt von der Aufregung, die in dieser Familie herrschte, als sie am nächsten Morgen auf den heimkommenden Mann zustürzten und verkündeten, daß sie Niokas Heimat gefunden hatten.

Er strahlte die Kinder an. »Hab’ ich nicht immer gesagt, eure Mutter ist eine bemerkenswerte Frau?«

Sie sprachen mit Nioka über Springfield, stellten Fragen, da noch keiner von ihnen je eine Schaffarm gesehen hatte, und wollten eifrig hinzulernen. Sie beantwortete ihre Fragen so gut sie konnte. Ja, großes Haus, viel Land. Viele, viele Schafe. Auch Känguruhs?

Nioka grinste. »Viele Känguruhs. Und auch Wallabies, die kleinen.« Mit der Tierwelt kannte sie sich weit besser aus und hielt damit ihre Zuhörer in Bann.

»Dieses Leben muß herrlich sein«, seufzte die Missus. »Wir müssen irgendwie dafür sorgen, daß du nach Hause kommst.«

Nach Hause? fragte sich Nioka. Ein Zuhause war es wohl kaum, doch die Begeisterung wirkte ansteckend, und sie konnte es nicht erwarten, nach Springfield zurückzukommen. Vielleicht war es ja ein Zeichen. Die Jungen konnten längst wieder zu Hause und ganz verwirrt sein, weil alle Aborigines verschwunden waren.

Mehrere Tage vergingen, während der Mann Erkundigungen einzog. Nioka war sich nun sicher, daß die Geister ihre Hilferufe doch noch erhört hatten und ihre Rückkehr nach Springfield vorbereiteten. Sie befand sich in ihren Händen.

In der Zwischenzeit überwand sie die Abneigung gegen die Tätigkeiten, die weiße Frauen verrichteten, und ging der Misus, die als Wäscherin arbeitete, bereitwillig zur Hand. Sie erwies sich als kräftige, fähige Arbeitskraft. Lächelnd hob sie die schweren, dampfenden Laken aus dem Kupferkessel und ließ sie in den Korb plumpsen. Falls ihre Schwester sie aus ihrem Heim bei den Geistern beobachtete, wäre sie sicher mehr als erstaunt über ihren Sinneswandel. Doch diese Menschen waren nett zu ihr, ließen sie in eine Decke gewickelt neben dem Herd schlafen und teilten das Essen mit ihr. Folglich war die Hilfe, die sie ihnen beim Waschen leistete, das mindeste, was sie tun konnte.

Als der große Tag gekommen war, versammelte sich die Familie am Ende der Gasse, um sich von ihr zu verabschieden. Sie umklammerte ihren Beutel, der etwas Proviant für die Reise enthielt, und ihre gewaschenen und geflickten Kleider, die in braunes Papier gewickelt waren. Nioka kletterte auf ein Brauereigespann und ließ sich oben auf den schweren Fässern nieder. Sie winkte den Omearas zu, als sich die Pferde schnaubend in Bewegung setzten.

»Komm wieder und besuch uns!« rief Mrs. Omeara. Nioka nickte traurig, denn ihre Zuversicht schwand angesichts ihres neuerlichen Alleinseins dahin. Der Kutscher schien sich nicht im mindesten für sie zu interessieren.

Sie überquerten den Fluß und fuhren aufs Land hinaus, als die Sonne die Morgennebel zum Schmelzen brachte. Nioka merkte sich gewisse Orientierungspunkte in der Landschaft, da sie seit der Begegnung mit Mrs. Omeara fest entschlossen war, mehr zu lernen. Heutzutage war es wichtig zu wissen, wohin diese ganzen Straßen führten.

Am späten Nachmittag hielten sie in Ipswich, wo ihr der Kutscher gestattete, bei seinen Pferden im Stall zu schlafen. Am Morgen setzten sie ihre Reise fort. Die Pferdehufe klapperten über eine Brücke. Sie fuhren tiefer ins Land hinein und gelangten auf steilen Straßen in die Berge. Die Tiere mußten mit ihrer schweren Ladung kämpfen, und Nioka klammerte sich in Todesangst am Wagen fest.

Schließlich erreichten sie eine langgestreckte, flache Straße, wo ihr der Kutscher zurief: »Hier ist Toowoomba, Missy. Weiter fahre ich nicht.«

Er wies ihr die Straße nach Cobbside. »Du kannst ruhig losgehen, sicher nimmt dich einer mit.«

Auf der sandigen Straße brauchte Nioka eine Weile, bis sie genügend Mut aufgebracht hatte, um vorübergehenden Wagen zuzuwinken. Die meisten fuhren vorbei, doch endlich ließen ein Mann und eine Frau sie hinten auf ihrem Gefährt aufsitzen. Nioka fand es erstaunlich, wie mühelos Weiße sich fortbewegten. Zum ersten Mal im Leben wünschte sie sich ein Pferd. Auf der Farm hatte sie die Tiere nicht weiter beachtet, doch nun sah sie bewundernd den schlanken Geschöpfen nach, die mit ihren Reitern auf den Rücken an ihnen vorbeitrabten. Die lange Reise aus dem Land am See hatte ihr wirklich die Augen geöffnet. Eine gute Lektion, wie Mrs. Omeara sagen würde.

Der Wagen hielt an einer Kreuzung, und die Frau wandte sich zu ihr um. »Du mußt hier absteigen, wir fahren nach Cobbside.«

Nioka sprang hinunter; die Luft kam ihr bereits vertraut vor; dies war ihr eigenes Land. »Danke, Missus.«

»Gehörst du zu den Schwarzen von Springfield?«

Sie nickte. Ihre Füße sehnten sich nach der Berührung mit dem Buschland jenseits der Straße.

»Ist Mrs. Broderick schon zurück?«

»Wo ist sie denn gewesen?« fragte der Fahrer seine Frau. »Das habe ich dir doch gesagt. Nachdem Austin gestorben war, ist sie mit Harry weggegangen. Man sagt, sie sei am Boden zerstört gewesen und brauchte eine Luftveränderung. Allerdings habe ich es auch anders gehört. Da war von Streitigkeiten wegen des Testaments die Rede.« Sie sah das schwarze Mädchen fragend an.

Nioka hatte keine Ahnung, wollte aber unbedingt weiter und sagte daher aufs Geratewohl: »Nein, noch nicht zurück.«

Bevor der Wagen außer Sicht war, tauchte Nioka schon in den Busch ein, vorbei an einer großen, alten Akazie, die von gelben Blüten überquoll. Vor lauter Aufregung rannte sie meilenweit an einem Stück. Sie sog die süßen, sie willkommen heißenden Düfte ein, stieg in eine Wasserrinne hinunter, erkannte auf den altvertrauten Wegen jeden Baum und jeden morschen Baumstamm wieder.

Eigentlich brauchte sie sich nicht so zu beeilen, da sie zu Hause war und nun auch ohne fremde Hilfe mühelos Nahrung finden konnte. Sie dachte an die Unterhaltung mit dem weißen Paar zurück.

Hatten sie nicht gesagt, Boß Broderick sei tot? Und Mrs. Charlotte habe den Besitz verlassen? Dies waren ungeheuerliche Neuigkeiten, die ihre Pläne zwar nicht durcheinanderbrachten, aber Fragen über seinen Tod und dessen Folgen aufwarfen. In Niokas Augen waren Boß Broderick und Springfield ein und dasselbe. Sie konnte sich das Anwesen ohne ihn nicht vorstellen. Was würden die weißen Leute jetzt anfangen? Es spielte keine Rolle, ob Mrs. Charlotte da war oder nicht – sollten die drei Jungen auftauchen, würde Mrs. Louisa sich schon um sie kümmern.

Doch wer sollte sie nach Hause bringen? Der Betmann? Nioka hoffte es und genoß in Gedanken die verschiedenen Strafen, die sie sich für ihn ausgedacht hatte. Sie würde ihn verprügeln. Sie könnte auch einen Speer schnitzen und ihn damit töten. Oder mit einem Beil zerstückeln. All das waren überaus anregende Vorstellungen.

Und wenn die Jungen nun schon da waren? Die Geister würden sie wieder zusammenführen, dessen war sie ganz sicher.

Nioka lief wieder schneller. Der Weg zum Fluß, wo sich das frühere Lager befand, und von dort zur Farm war lang. Selbst nach Sonnenuntergang lief sie weiter, getrieben von der Freude in ihrem Herzen und der Hoffnung, daß die Jungen sie vielleicht auf Springfield erwarten würden. Die Dunkelheit stellte für sie kein Hindernis dar, und sie schlug sich durch das vertraute Gebüsch, in dem sie sich so sicher bewegte wie die Nachttiere, die an ihr vorbeihuschten. Die Sterne leisteten ihr Gesellschaft, während sie durch das offene Land lief, in dem Schafe schliefen und Dingos umherstreiften. Sie rannte geradeaus, bis sie einige Felsen erreichte, von denen aus sie in der Ferne den Fluß schimmern sehen konnte.

 

Im Garten neben dem Haus blühte leuchtend rot der Lampenputzerbaum, farbenfrohe Loris sausten kreischend durchs Gebüsch, hüpften wie Kobolde über die Zweige und tranken den Nektar. Weiße Kakadus, deren Schreie lauter und rauher als die der kleineren Vögel klangen, flatterten wütend in den benachbarten Baumkronen, um die Rivalen zu vertreiben. Allerdings verlieh die schiere Überzahl den Loris Sicherheit, und sie dachten gar nicht daran, das Feld zu räumen.

Louisa liebte die Vögel, doch der Lärm, den sie veranstalteten, verursachte ihr Kopfschmerzen. Sie schloß die Fenster und fuhr mit dem Sortieren ihrer Kleider fort, da der Sommer bevorstand und die leichten Kleider gelüftet werden mußten.

Im Zimmer war es jetzt ruhiger, doch der Kopfschmerz wollte nicht weggehen. Ihr machten die verbalen Auseinandersetzungen zwischen Rupe und Victor Sorgen, die fortwährend Unruhe in den Haushalt brachten.

Rupe mußte wie immer alles verderben mit seinem verdammten Egoismus. Doch es lag nicht nur an Rupe, auch Charlotte trug Schuld an der gespannten Situation. Beide waren eigensinnig und wollten stets ihren Willen durchsetzen, während Victor dazwischenstand.

Anwälte beider Seiten hatten der törichten Frau erklärt, daß sie mit ihrer Klage gegen Austins Testament keine Chance habe, doch sie bestand auf einer gerichtlichen Anhörung. Auf diese Weise wollte sie ihre Söhne daran hindern, einen Teil der äußeren Grundstücke zu verkaufen, um an das so dringend benötigte Bargeld zu gelangen. Irgendwann war Victor dann zu Zugeständnissen bereit gewesen, doch Rupe wollte nichts davon hören.

»Du gibst zu leicht nach«, warf er ihm vor. »Sie kann nicht gewinnen. Laß sie doch vor Gericht ziehen.«

»Das kostet uns nur Geld.«

»Sie aber auch. Und woher will sie es nehmen? Sie hat keinen müden Penny.«

Doch dieses Argument brachte Victor nur noch mehr auf. »Es spricht nicht gerade für uns, daß unsere Mutter keinen müden Penny hat, nachdem sie all die Jahre auf Springfield gearbeitet hat, lange bevor dieses Haus überhaupt gebaut war. Sie hat viel für Springfield getan.«

»Und dafür lebenslanges Wohnrecht erhalten.«

»Aber kein Geld.«

»Wenn sie sich entsprechend benimmt, bekommt sie auch das. In Form einer Unterhaltszahlung.«

»Ich bin nach wie vor der Meinung, wir sollten unter der Voraussetzung, daß Harry auf seine Ansprüche verzichtet, mit ihr teilen.«

»Nein, auf gar keinen Fall. Springfield gehört uns. Wir müssen einfach den längeren Atem zeigen.«

»Sei nicht so unvernünftig. So viel Zeit haben wir nicht.«

Louisa war mit ihrem Mann einer Meinung. Sie konnte es nicht ertragen, ihn so voller Sorge zu sehen. Sie hatte versucht, mit Rupe zu reden, und war entsetzt über seine Haltung.

»Halt dich da raus. Du willst Mutter doch gar nicht wieder hier haben. Hast es doch genossen, die Herrin des Hauses zu spielen. Wenn sie einen Anteil bekommt, verbringt sie den Rest ihres Lebens hier, und du rangierst wieder unter ferner liefen. Solange sie ihren Anteil aber nicht erhält, wird sie Springfield aus Prinzip fernbleiben. Überleg dir gut, wo deine Interessen liegen, Louisa.«

Das Schlimme daran war, daß er recht hatte und es auch noch so unverblümt aussprach.

Sie seufzte, ließ die Kleider auf dem Bett liegen und ging nach unten, um eine Tasse Tee zu trinken.

Als einige Tage darauf die Post kam, brachte sie die Briefe in Victors Büro und begann sie zu öffnen. Sie genoß es, bei der Büroarbeit zu helfen und Victor etwas zu entlasten. Sein Vater hingegen hätte ihre Arbeit als Einmischung betrachtet. In seinen Augen hatten allein die Männer die Farm geleitet. Er selbst hatte die gesamte Buchführung beaufsichtigt, obwohl Victor offiziell der Verwalter war. Wenn es um die Bücher der Farm ging, hatte sein Sohn höchstens die Aufgaben eines Sekretärs erfüllt. Nun aber besaß Victor seine eigene Assistentin, die all die Bücher und Unterlagen überaus interessant fand.

Louisa sortierte die Zeitungen und Magazine aus, legte Rechnungen sorgfältig ab, las einen fröhlich klingenden Brief ihres Vaters und ging Rundschreiben durch, die aktuelle Informationen über Woll- und Viehverkäufe enthielten. Lächelnd schaute sie hoch. Endlich hatte sie eine Beschäftigung gefunden, die ihr zusagte. Welch eine Erleichterung!

 

Seit Austins Tod waren zwei Monate vergangen, und Charlotte vermißte ihn nach wie vor. Sie konnte es noch immer nicht fassen, daß er tatsächlich tot war. Der Schmerz war ein Dauergast in ihrem Herzen geworden. Nicht, daß sie in Brisbane der Gesellschaft ihres Mannes bedurft hätte – es gab hier viel zu tun. Der Schmerz reichte tiefer und erzeugte eine grausame Leere.

Sie wußte, daß Richter Walker und andere Freunde es seltsam fanden, daß sie Austins deutlich dargelegten letzten Willen anfechten wollte und dennoch um ihn zu trauern schien. In der Tat hielt man sie offensichtlich für eine Heuchlerin, doch das war nicht ihr Problem. Wie könnte sie denn auch erklären, daß diese Frage jahrelang an ihr genagt und sie sich nur nicht getraut hatte, sie offen auszusprechen?

Mittlerweile wünschte sie sich natürlich, sie wäre früher ein wenig mutiger gewesen, doch damals wäre es ihr nicht im Traum eingefallen, daß ihre Söhne sich weigern könnten, ihr zu ihrem Recht zu verhelfen. Oft genug hatten sie sich über Austins altmodische Ansichten beklagt, und sein Testament war ein typisches Beispiel dafür. Wie dumm von ihr zu glauben, sie könne sich auf ihre Kinder verlassen!

Ihre Räume im Park Private Hotel waren sehr komfortabel und boten einen herrlichen Blick auf den Botanischen Garten, in dem sie oft Abendspaziergänge unternahm. Dennoch vermißte sie Springfield. Sie hatte im Hotel einige Damen kennengelernt, die ständig dort lebten und der frisch verwitweten Mrs. Broderick überaus freundlich begegneten. Einige von ihnen waren ebenfalls verwitwet und bemüht, ihr zu helfen, doch Charlotte ging ihnen möglichst aus dem Weg. Ihr Leben schien aus ständigen Teekränzchen und anderen Mahlzeiten, Kartenpartien und Einkaufsbummeln zu bestehen, für die sie sich nicht im geringsten interessierte. Sie vermißte das geschäftige Leben auf Springfield, die Verantwortung, die der Haushalt mit sich brachte, die endlosen Aktivitäten im Freien … Charlotte hatte nie gern im Haus gehockt.

In dieser sterilen Atmosphäre vermißte sie plötzlich die maskuline Welt der Schaffarm. Männer bei der Arbeit. Reiter. Den Auftrieb der Schafe. Den hart arbeitenden Schmied, der dennoch immer zu einem Schwätzchen aufgelegt war. Die Zureiter, die hinter den hohen Zäunen pfiffen und mit der Peitsche knallten. Die ernsthaften Diskussionen im Zuchtstall, in dem Schafe mit edlem Stammbaum ihre schöne Wolle zur Schau trugen. Das Gelächter der Viehhüter. Die Aufregung in den großen Schuppen während der Schur. All das gehörte zu ihrem Leben, sie paßte einfach nicht in diese Treibhausatmosphäre.

Ein paarmal hatte sie sich mit dem Anwalt getroffen, den Richter Walker empfohlen hatte, da sie die Angelegenheit so schnell wie möglich bereinigen wollte, hatte aber den Eindruck gewonnen, daß er ihr auswich, nachdem er ihr seine Meinung zu dem Fall dargelegt hatte.

Gestern hatte sie sich jedoch nicht wieder abwimmeln lassen und hatte so lange in seiner Kanzlei gewartet, bis er endlich frei war. Dabei ließ sie sich noch einmal seine Argumente gegen eine gerichtliche Anfechtung des Testaments durch den Kopf gehen.

Als er sie endlich in sein Büro bat, wirkte er ungeduldig. »Meinen Sie wirklich, es wäre ratsam, in dieser Angelegenheit vor Gericht zu gehen, Mrs. Broderick?«

»Ich bestehe darauf. Ich will, daß meine Söhne sehen, wie töricht sie sich verhalten. Sie werden es nicht zu einer Gerichtsverhandlung kommen lassen. Victor würde es nicht dulden, daß Familienangelegenheiten in aller Öffentlichkeit breitgetreten werden. Er wird nicht gegen mich kämpfen, Sir. Sobald er begreift, daß ich fest entschlossen bin, meinen Anspruch durchzusetzen, wird er nachgeben.«

»Mit anderen Worten, Sie bluffen?«

Charlotte schob eine Haarsträhne unter ihren Hut. »So könnte man es ausdrücken.«

»Leider wird das nicht funktionieren.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Ich habe hier Briefe des Anwalts aus Toowoomba. Darin erklärt er, daß seine Klienten selbstverständlich vor Gericht gehen werden, wenn Sie es darauf ankommen lassen.«

Charlotte war verblüfft. »Sie wollen vor Gericht gegen mich antreten?« flüsterte sie ungläubig.

»Es sieht leider ganz danach aus.«

Sie saß eine Weile schweigend da und umklammerte ihre Handtasche, bevor sie antwortete. »Gut, dann soll es so sein. Wie gesagt, ich bin davon überzeugt, daß mir ein Anteil an diesem Besitz zusteht, nicht nur von seiten meines Mannes, sondern auch meines Bruders, seines ursprünglichen Partners. Wir gehen vor Gericht.«

»Mrs. Broderick, dürfte ich Sie daran erinnern, daß ich mir unserer Erfolgschancen keineswegs sicher bin? Zudem kommt ein derartiger Rechtsstreit sehr teuer. Vielleicht sollten Sie es sich noch einmal überlegen.«

»Es gibt nichts mehr zu überlegen. Mir bleibt keine andere Wahl. Es tut mir wirklich sehr leid, ich hatte gehofft, es würde nicht soweit kommen.«

Der Anwalt vertiefte sich mit gesenktem Kopf in die Papiere auf seinem Schreibtisch, sein feiner, weißer Bart strich dabei über die Dokumente. Dann sah er Charlotte über den Rand seiner Brille hinweg an, wobei sich seine buschigen Augenbrauen hoben.

»Hier ist eine Mitteilung vom Anwalt Ihrer Söhne, auf die ich Sie aufmerksam machen muß, bevor wir weitere Schritte unternehmen. Mrs. Broderick, besitzen Sie ein eigenes Einkommen?«

»Nein, das ist doch wohl offensichtlich. Besäße ich ein verbrieftes Recht auf einen Anteil an diesem Besitz, hätte ich auch ein Einkommen, nicht wahr?«

»Und wer bezahlt Ihre Unterkunft im Park Private Hotel?«

Sie errötete tief. »Victor. Er zahlt mir Unterhalt.«

»Anscheinend ist Ihr Sohn Rupe aber nicht damit einverstanden. Er fordert die Einstellung dieser Zahlungen, falls Sie die Sache nicht zu den Akten legen. Außerdem muß ich Sie davon in Kenntnis setzen, daß die beiden Besitzer von Springfield keinesfalls die Absicht haben, Ihnen die für einen Prozeß erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen.« Er räusperte sich und wich ihrem Blick aus. »Das war leider zu erwarten. Vom logischen Standpunkt her gesehen.«

Charlotte saß aufrecht auf ihrem Stuhl, sichtlich bemüht, angesichts dieser neuen Schläge keine Schwäche zu zeigen. Sie fragte sich, ob sie ihn um eine Stundung der Honorare bitten könnte, bis die Angelegenheit dem Gericht vorlag. Dann fiel ihr ein, daß sie im Falle einer Niederlage die Kosten selbst tragen müßte.

Er griff nach seiner Pfeife und legte sie wieder hin. »Die Begleichung meiner bisherigen Auslagen kann warten«, sagte er

freundlich, »dennoch sollten Sie sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen und mir dann mitteilen …«

Charlotte mußte sich geschlagen geben, wehrte sich aber dagegen, daß dieser Bursche sie als Sozialfall betrachtete. »Wieviel Honorar steht Ihnen bisher zu?« fauchte sie und kramte nach ihrem Portemonnaie. »Ich bezahle Sie auf der Stelle!«

Er erhob sich. »Das ist nicht nötig, Mrs. Broderick. Ich weiß, daß ich Ihnen vertrauen kann. Es hat keine Eile. Das beste wird sein, mit Ihren beiden Söhnen zu einer gütlichen Einigung zu kommen, dann wird sich alles zum Guten wenden.«

»Gönnerhafter Kerl«, murmelte sie, als sie auf die Queen Street hinaustrat, wo ihr der Sturm den Regen ins Gesicht peitschte. Sie war so aufgebracht, daß sie losstapfte, obwohl sie keinen Regenschirm bei sich trug. Die Krempe ihres Hutes flatterte wild im Wind, und ihr Kleid war schon bald völlig durchweicht.

Fern Broderick sah von drinnen, wie ihre Schwägerin mit grimmiger Miene ihr Geschäft passierte. Vermutlich ärgerte sie sich, weil sie in das Unwetter geraten war. Die meisten Fußgänger suchten irgendwo Zuflucht vor dem Regen. Sie holte einen Schirm aus dem Ständer neben der Tür und lief hinaus, doch Charlotte war bereits um die nächste Ecke verschwunden.

Fern sagte sich, daß sie Charlotte endlich einmal besuchen müßte. Sie hatte gehört, daß ihre Schwägerin zur Zeit im Park Private Hotel wohnte. Ihr war aber auch zu Ohren gekommen, daß sich die Brodericks angeblich wegen Austins Testament stritten. Sie war sehr neugierig zu erfahren, was es damit auf sich hatte. Normalerweise hätte sie Charlotte schon früher ihre Aufwartung gemacht, wußte aber, daß sie aus irgendeinem Grund ihren Unwillen erregt hatte. Schon bevor Austin starb, hatte sie sich zurückhaltend gezeigt, und die Antwort auf ihr Kondolenzschreiben hatte Louisa verfaßt. Auch hatte ihre Schwägerin sie mit keinem Wort wissen lassen, daß sie sich in der Stadt aufhielt.

Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist, dachte Fern und kehrte in ihr Büro zurück. Ich bin ihre einzige Verwandte in Brisbane, und sie ist bestimmt am Boden zerstört nach Austins Tod. Ich muß sie unbedingt besuchen, sonst heißt es noch, ich hätte sie bewußt ignoriert.

 

Als Mrs. Broderick ins Foyer ihres Hotels stürmte und den tropfenden Hut ausschüttelte, eilte ihr der Portier entgegen.

»Mein Gott, Madam, Sie sind ja völlig durchnäßt. Soll ich ein Mädchen mit Ihnen hinaufschicken?«

»Nicht nötig. Ein bißchen Regen hat noch niemandem geschadet.« Als sie an ihm vorbei zur Treppe eilte, rief er hinter ihr her: »Mrs. Broderick, für Sie ist ein Brief angekommen.«

Charlotte hielt inne. »Was soll denn das schon wieder?« fragte sie unwillig, wartete aber, bis er ihn brachte, und ging damit auf ihr Zimmer.

Der Brief stammte von Harry. Sie ließ ihn auf dem Tisch liegen und zog sich zitternd die nassen Kleider aus. Es war fünf Uhr, also noch eine Stunde bis zum Abendessen, doch im Zimmer herrschte wegen des Unwetters bereits Dunkelheit. Charlotte zündete alle Lampen an und wünschte sich, sie könnte ihren Morgenrock anziehen und einfach auf ihrem Zimmer bleiben. Ihr war nicht danach, den vielen Leuten im Speisesaal zu begegnen, die immer so ein Getue um sie veranstalteten, daß es ihr schon lästig wurde. Vor allem auf die Witwen mit ihren zuckersüßen Ratschlägen konnte sie gut verzichten. Anscheinend war es ihr einfach nicht vergönnt, allein zu essen, obgleich sie es vorgezogen hätte.

Allein essen? Da fiel ihr etwas ein. Eine der Frauen hatte einmal erwähnt, sie nehme ihr Essen auf dem Zimmer ein, wenn sie sich nicht wohl fühle. Charlotte beschloß, diesen Service ebenfalls in Anspruch zu nehmen.

Sie läutete, und wenige Minuten später erschien ein Mädchen an ihrer Tür.

»Mir geht es nicht allzu gut«, erklärte sie. »Könnten Sie mir das Essen bitte heraufbringen?«

»Natürlich, Madam. Was möchten Sie haben? Heute abend gibt es Erbsen- oder Ochsenschwanzsuppe …«

»Bringen Sie mir einfach irgend etwas, vielen Dank.«

Dennoch, alte Gewohnheiten sitzen tief. Charlotte duldete es nicht, daß jemand sie unziemlich gekleidet beim Essen erblickte, selbst wenn es sich dabei nur um ein Zimmermädchen handelte. Sie steckte ihr Haar zu einem Knoten fest, zog ein strenges, schwarzes Kleid mit hohem Kragen an und nahm am Wohnzimmertisch Platz.

Sie war neugierig, was Harry zu erzählen hatte. Er hatte seinen Anspruch auf Springfield zurückgezogen und bedauerte, daß diese Entscheidung bei Connie und ihrem Vater auf Unverständnis gestoßen war, doch er war sicher, sie würden schon darüber hinwegkommen.

Es war eine flüchtige Laune meinerseits, Mutter, die aus den falschen Beweggründen erwuchs, eher aus Zorn auf meine Brüder als aufgrund reiflicher Überlegung. Mein Vater war geistig gesund und hatte guten Grund, böse auf mich zu sein. Daher muß ich seine Wünsche respektieren. Ich möchte ihm meine Achtung bezeugen, indem ich die Sache auf sich beruhen lasse.

Andererseits glaube ich, daß, wenn Austin Deine Wünsche verstanden hätte, er bessere Vorsorge für dich getroffen hätte.

Ich hoffe, daß meine Brüder Deiner Bitte bereitwilliger nachkommen, wenn ich meinen Anspruch zurückziehe, was ich für moralisch angebracht halte.

Dies war am Ende eines anstrengenden Tages zuviel für Charlotte, und sie brach in Tränen aus.

Was Harry auch sagen oder tun mochte, sie hatte verloren. Sie konnte es sich nicht leisten, gegen Victor und Rupe vor Gericht zu ziehen, wovor sie sich ohnehin gefürchtet hatte, und selbst wenn sie es täte, würde sie nach Dafürhalten des Anwalts mit Sicherheit verlieren. Und die Kosten tragen müssen. Was also konnte sie tun?

Nichts.

Nichts, außer geschlagen nach Springfield zurückzukehren, nachdem sie sich nicht nur ihre Söhne zu Feinden, sondern auch sich selbst lächerlich gemacht hatte. Wie würde ihr Leben auf Springfield von nun an aussehen? Charlotte kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, daß sie eine schlechte Verliererin war. Natürlich könnte sie zurückkehren und den anderen das Leben zur Hölle machen, doch was wäre das für eine Alternative? Zudem war es durchaus möglich, daß sich eine solche Haltung am Ende als zweischneidige Angelegenheit erwies.

Das alles war so ungerecht. Wäre Austin nicht gestorben, hätte ihr Leben friedlich weiterlaufen können.

Dann brach sich die Trauer erneut Bahn. Sie schluchzte unkontrolliert und wünschte sich verzweifelt, sie wäre vor ihm gestorben.

Als es an der Tür klopfte, fuhr sie zusammen. Das Mädchen durfte sie auf keinen Fall in diesem Zustand sehen!

»Einen Moment«, rief sie und schämte sich für ihre tränenerstickte Stimme. Sie betupfte sich die Augen mit einem Taschentuch, riß sich zusammen, öffnete die Tür und trat beiseite.

Allerdings stand nicht das Mädchen mit dem Tablett vor ihr, sondern Fern Broderick.

»Was willst du denn hier?« fragte Charlotte unfreundlich.

 

Als sie im Hotel angelangt war, hatten sich Ferns Gewissensbisse verfestigt. Natürlich hätte sie Charlotte ihre Aufwartung machen müssen, gleich nachdem sie von ihrer Ankunft in Brisbane erfahren hatte. Ihre Schwägerin war durchaus im Recht, wenn sie sich gekränkt und vernachlässigt fühlte. Zudem war sie in Trauer. Fern hatte Charlottes bisherige Ablehnung auf Mißverständnisse und Launen zurückgeführt, doch ihre jetzige Feindseligkeit traf sie völlig unvorbereitet.

Sie schluckte. »Nun ja … ich wollte sehen, wie es dir geht. Wie du zurechtkommst.«

»Das hast du ja nun. Mir geht es gut.«

Da Charlotte ihr schlecht die Tür vor der Nase zuschlagen konnte, blieb sie stirnrunzelnd auf der Schwelle stehen. Doch Fern war entschlossen, sich nicht so leicht vertreiben zu lassen. Wenn sie jetzt den Rückzug antrat, wäre der Bruch endgültig, denn sie würde sich kein zweites Mal auf diese Weise brüskieren lassen.

»Ich hatte gehofft, wir könnten miteinander reden. Mir tut es so leid, daß Austin gestorben ist.«

»Natürlich, das wundert mich nicht.«

»Charlotte, was ist in dich gefahren? Es ist doch nichts dabei, wenn ich als deine Schwägerin vorbeikomme. Ich würde es vorziehen, nicht auf dem Flur stehenbleiben zu müssen.«

Unwillig ließ Charlotte sie ins Wohnzimmer eintreten. Fern bemerkte jetzt, daß ihre Schwägerin geweint hatte, und bedauerte sofort ihre harschen Worte.

»Mir tut es wirklich sehr leid. Es muß eine schlimme Zeit für dich sein. Ich wußte nicht, daß du so aufgewühlt bist.«

»Das bin ich auch nicht«, schrie Charlotte wütend, konnte ihre Tränen aber nicht zurückhalten.

In diesem Augenblick tauchte das Mädchen mit dem Tablett an der Tür auf. Charlotte eilte zum Fenster, um ihre Tränen zu verbergen. Fern nahm das Essen entgegen und bedankte sich bei dem Mädchen.

Sie spähte unter die Metallhauben. »Dein Abendessen, Charlotte. Sieht sehr gut aus. Komm und iß deine Suppe, solange sie noch heiß ist.«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Immerhin bezahlst du dafür.«

Mit einigem ruhigen Zureden gelang es ihr, Charlotte soweit zu bringen, daß sie etwas Suppe aß, doch sie weigerte sich beharrlich, den Lammbraten auch nur anzurühren.

»Ich kann es nicht essen«, sagte sie. »Nimm du es.«

Grinsend biß Fern in eine Bratkartoffel. Zum Glück schien das Essen das Eis zwischen ihnen gebrochen zu haben. »Die Kartoffeln sind köstlich, probier mal.«

Charlotte griff achselzuckend zu, und die beiden Frauen bedienten sich nun wie Schulmädchen mit den Fingern.

»Soll ich dir etwas Tee eingießen?«

»Ja, bitte.«

Charlotte erblickte sich selbst in dem goldgerahmten Spiegel an der Wand und schüttelte unglücklich den Kopf. Ihr Gesicht verquollen, die Augen verweint, die Nase rot vom Schneuzen. Normalerweise hätte sie es nicht ertragen, daß eine attraktive Frau wie Fern sie in diesem Zustand sah, doch heute machte es ihr nichts aus. Ihr war ohnehin alles egal. Sie mußte sich eingestehen, daß sie doch froh war über Ferns Anwesenheit. Sie brauchte Gesellschaft, und die ihrer Schwägerin war um Längen interessanter als die der Witwen unten im Speisesaal. Dann fiel ihr ein, daß auch Fern verwitwet war. »Oh, Gott«, entfuhr es ihr.

»Was ist los?«

»Nichts.« Sie ließ sich in einen Sessel am Fenster plumpsen und sah zu, wie Fern ihr den Tee eingoß und herüberbrachte. »Austin hat auf dich immer größere Stücke gehalten als auf mich«, sagte sie plötzlich. »Hat er dich eigentlich geliebt?«

Fern reagierte geistesgegenwärtig. Sie spürte, daß dies nicht der richtige Zeitpunkt für Geständnisse war. »Guter Gott, Charlotte! Wie kommst du denn darauf?«

»Ich hielt es für offensichtlich.«

»Damit tust du Austin Unrecht. Er war nicht in mich verliebt, ich übrigens auch nicht in ihn. Schlag dir diesen Gedanken bitte aus dem Kopf. Er hat sich gern in meine Geschäfte eingemischt«, erklärte sie lächelnd, »wollte mir dauernd gute Ratschläge erteilen. Ich glaube nicht, daß er viel von Geschäftsfrauen hielt.«

»Das kannst du wohl annehmen«, erwiderte Charlotte wütend.

»Wieso? Warst du auch gegen meine Tätigkeit?«

»Die hat mich nicht weiter interessiert. Aber du hattest großes Glück«, fuhr sie grimmig fort. »Du hattest es nicht mit Söhnen zu tun, die dir dein Erbe vor der Nase wegschnappten. Dich praktisch auf die Straße setzten.«

Fern war verblüfft. »Meine Liebe, das kann ich nicht glauben. Das hätte Austin nie geduldet.«

»Ach nein? Er hat mich mittellos zurückgelassen.« Sie sah Fern mit Tränen in den Augen an. »Wie kann ich um einen Mann trauern, den ich so sehr geliebt habe, und ihn gleichzeitig hassen, weil er meine Rechte mit Füßen getreten hat?«

»Ich verstehe nicht ganz. Was ist denn geschehen?«

 

Während Charlotte in ihrem Bericht zwischen Selbstmitleid und berechtigtem Zorn schwankte, bemühte sich Fern, aus dem Debakel schlau zu werden, das sich allem Anschein nach auf Springfield ereignet hatte. Ihre Schwägerin wetterte gegen Victor und Rupe, gegen eine Regierung, die die Squatter ruinieren wolle, gegen Rechtsanwälte jeglicher Couleur, die nichts als überbezahlte Beamte ohne Respekt vor Frauen seien, sogar gegen Richter Walker, der versprochen habe, ihr zu helfen, letztendlich aber ein bloßer Windbeutel sei. Sie weinte, als sie Fern erzählte, wie sie Austin morgens tot in seinem Bett gefunden hatte, nachdem er allein, ohne jeden Beistand, gestorben war.

Fern ließ sie reden. Anscheinend hatte die arme Charlotte bisher keine Zeit für echte Trauer gefunden, da die Ereignisse sich überschlagen hatten – Austins unvorhergesehener Tod, dann die ebenso unerwartete Auseinandersetzung mit ihren Söhnen, gefolgt von der überstürzten Abreise, dem Umzug nach Brisbane und den juristischen Schwierigkeiten. Durch den Verlust ihres Mannes war ihre ganze Welt auseinandergefallen, was bei Charlotte anscheinend zu einem Zustand völliger Verwirrung geführt hatte.

Fern schlüpfte auf den Flur hinaus und trieb ein Mädchen auf, bei dem sie Kaffee für zwei Personen und Brandy zu medizinischen Zwecken bestellte.

»Aber Madam, dies ist ein privates Hotel ohne Schankgenehmigung«, entgegnete das Mädchen.

Fern lächelte. »Das ist mir bewußt, aber ich bin sicher, daß die Hausdame Mrs. Brodericks Wunsch nachkommen wird.«

Sie brauchte den Brandy ebensosehr wie Charlotte. Eine so leidvolle Geschichte hatte sie nicht erwartet. Einige Dinge, die man ihr berichtet hatte, ergaben durchaus einen Sinn, und sie war entsetzt darüber, daß Victor und Rupe ihre Mutter so aus der Fassung gebracht hatten. Harry war seltsamerweise nicht erwähnt worden, und Fern traute sich nicht, Charlotte nach ihm zu fragen, da sie eine weitere Flut von Beschuldigungen fürchtete. Sie war schon immer eine schwierige Person gewesen – äußerst empfindlich und schnell beleidigt.

Beim Gedanken an Charlottes Frage nach ihrem Verhältnis zu Austin schauderte es sie nachträglich. Hoffentlich war dieses Thema nun endgültig ad acta gelegt.

Als sie ins Zimmer zurückkam, begann Charlotte von der Aufteilung Springfields zur Umgehung der neuen Gesetze zu erzählen.

»Ja, es ist schrecklich. Ich glaube, den Squattern bleibt einfach keine andere Wahl, wenn sie ihren Besitz halten wollen.« Fern hätte es vorgezogen, dieses Thema damit zu beenden, weil es sie in gefährliche Nähe zu Harrys unrühmlicher Rolle bei der Parlamentsabstimmung brachte, doch Charlotte zeigte sich beharrlich, und Fern gewann den Eindruck, daß sich das alte Selbst ihrer Schwägerin allmählich wieder Bahn brach.

Zum Glück traf bald darauf das Zimmermädchen mit dem Kaffee ein, begleitet von der Hausdame, die ihr aus einer kleinen Karaffe Brandy in zwei Kristallgläsern servierte.

»Meine Damen, dies verstößt zwar gegen unsere Regeln, aber da er medizinischen Zwecken dient, will ich ein Auge zudrücken. Mrs. Broderick, Sie Ärmste, ich hoffe, es geht Ihnen wieder besser. Wir haben Sie beim Dinner vermißt …«

Fern komplimentierte sie hinaus.

»Ich hasse diese Frau«, verkündete Charlotte.

»Egal, wir haben ihr den Brandy abgeluchst. Hier ist deiner.«

Charlotte nippte an ihrem Glas und nickte anerkennend.

»Wie gesagt, Springfield wurde aufgeteilt, wobei die Familienmitglieder jeweils Grundstücke in maximaler Größe erhielten. Verstehst du, was ich meine?«

»Ja.« Wie oft wollte Charlotte ihr diesen Teil eigentlich noch darlegen?

»Als Austins Frau bekam ich natürlich auch einen Anteil. Victor mit Frau und Kind haben jedoch drei Grundstücke erhalten.«

»Darüber brauchst du dich doch nicht so aufzuregen. Du hast mir selbst erklärt, daß diese Aufteilung nur auf dem Papier besteht. Damit Springfield auch weiterhin intakt bleiben kann und das ganze Land in der Familie bleibt.«

»Tatsächlich? Und wie erklärst du dir dann, daß dein Name auf dem Grundstück gleich neben meinem erscheint? Daß dein Teil ebenso groß ist wie meiner?« Charlottes Stimme wurde schriller. »Erklär mir das bitte, Mrs. Broderick!«

Fern war sprachlos, und Ärger stieg in ihr auf. »Ich kann und will es nicht erklären. Ich müßte mir erst ein Bild von der Gesamtsituation machen, bevor ich solch voreilige Schlüsse ziehe, wie du es anscheinend tust.«

Verdammt noch mal, Austin, dachte sie im stillen, warum mußtest du mich da mit einbeziehen? Aus sentimentalen Gründen? Hoffentlich nicht. Dann fiel ihr ein, daß die Aufteilung völlig fiktiv war und gar nichts zu bedeuten hatte.

»Charlotte, es wird Zeit für mich, nach Hause zu gehen. Ich habe genug gehört! So wie ich es sehe, war es ein furchtbares Versäumnis von Austin, dich nicht abzusichern und deinen Söhnen auszuliefern, aber es ist dennoch nicht fair, daß du mich derart angreifst, nur weil er irgendwo meinen Namen eingesetzt hat. Was macht es schon für einen Unterschied, daß mein Gebiet so groß ist wie deins? Es gehört mir doch nicht, ist nur ein Teil von Austins Plan, Springfield in seiner Ganzheit zu bewahren.«

Fern ersparte sich den Zusatz, daß sie Charlottes Haltung beleidigend fand, denn schließlich basierte ihre eigene Darlegung der Dinge auf einer Lüge. Austin hatte sie sehr wohl geliebt.

Sie griff nach Handschuhen und Tasche. Charlotte starrte sie an. »Was hast du da eben gesagt?«

»Ich wollte dir erklären, daß es völlig unerheblich ist, auf wessen Namen diese Grundstücke eingetragen sind …«

»Nein, ich meine wegen Austin. Hältst du es für falsch, daß ich mich über sein Testament aufrege?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Meinst du etwa, er sei im Unrecht gewesen?«

»In der Tat. Ich finde es empörend. Hätte ich einen Sohn, dem mein Mann sein gesamtes Vermögen hinterlassen hätte, so daß mir nur ein Dach über dem Kopf bliebe, würde ich toben.«

»Ich hätte nie gedacht, daß du meine Meinung teilen könntest.«

»Weil du zu sehr darauf aus warst, mit mir zu streiten, Charlotte.«

»Tut mir leid. Es ist nur so, daß niemand außer Harry meine Haltung in dieser Sache versteht, und er hat kein Mitspracherecht. Austin hat ihn aus dem Testament gestrichen, was ihn im übrigen ziemlich kalt läßt. Ich habe erfahren, aus zuverlässiger Quelle, wie es so schön heißt, daß eine Anfechtung keinerlei Aussicht auf Erfolg hätte.«

»Und wenn du all diese Rechtsverdreher umgehst und dich unmittelbar an Victor und Rupe wendest?«

»Das hat Harry bereits getan. Sie bestehen darauf, daß Austins Verfügungen eingehalten werden. Darüber hinaus drohen sie mir damit, meinen Unterhalt auszusetzen, wenn ich nicht klein beigebe.«

»Guter Gott«, sagte Fern. Kein Wunder, daß sich ihre Schwägerin in einem derartigen Zustand befand. »Charlotte, wenn du Geld brauchst, helfe ich dir gerne aus.«

»Ein Darlehen würde nur das Unvermeidliche hinauszögern«, erwiderte Charlotte. »Aber ich danke dir für das freundliche Angebot.«

»Möchtest du vielleicht zu mir ziehen?«

»Danke, nein. Sollen sie mir doch den Unterhalt sperren, wenn sie es wagen!«

»So ist es richtig. Laß dich nur nicht unterkriegen. Aber jetzt muß ich wirklich gehen. Ruh dich aus, und morgen ißt du bei mir zu Abend. Wir werden ganz unter uns sein, so daß niemand die beiden Broderick-Witwen angaffen kann. Versprich mir, daß du kommst.«

»Na ja, warum nicht.«

Fern mußte sich mit dieser wenig begeisterten Zusage begnügen. Als sie gegangen war, vertiefte sich Charlotte in neue Überlegungen. Anscheinend war Fern Broderick ihre einzige Freundin – nie hätte sie gedacht, daß ausgerechnet ihre Schwägerin, die so gut mit Austin gestanden hatte, ihre Ansichten teilen würde. Und nun hatte sie ihr sogar finanzielle Hilfe angeboten. Obwohl Charlotte die Vorstellung, sich Geld zu leihen, entsetzlich fand, war der Gedanke an diesen Rückhalt durchaus beruhigend.

Am nächsten Abend kam es bei einem köstlichen Essen und hervorragenden Weinen zu einem richtigen Gespräch zwischen den beiden Frauen.

Diesmal stellte Fern die Fragen, um sich ein genaues Bild von der Situation machen zu können, und Charlotte gab scheu die Antworten. Fern war empört, als sie erfuhr, daß der Anwalt ihre Schwägerin darauf hingewiesen hatte, daß sie kein Geld für einen Prozeß habe.

»Natürlich hast du das«, verkündete sie galant. »Ich werde seine Rechnung bezahlen. Das kannst du ihm ruhig von mir ausrichten.«

Charlotte schüttelte den Kopf. »Das wäre reine Geldverschwendung. Allem Anschein nach kann ich nur verlieren.«

»Und was geschieht als nächstes? Kann Harry nicht noch einmal mit seinen Brüdern reden?«

»Sie sprechen nicht mehr miteinander.«

»Du lieber Himmel! Austin würde sich im Grab herumdrehen, wenn er das wüßte.«

»Ach ja?« fragte Charlotte wütend. »Er trägt doch die Schuld an allem.«

Fern nahm einen Schluck Wein. »Keineswegs. Er hat niemals wirklich geglaubt, er könne sterben. In seiner Vorstellung war er auf ewig der Boß und alles ging immer so weiter wie bisher.«

»Dafür kann ich mir nichts kaufen.«

»Ich wünschte, ich hätte eine bessere Antwort für dich. Ich fühle mich so hilflos und kann deine Enttäuschung gut verstehen. Du brauchst nicht nach Springfield zurückzukehren. Du kannst, wie ich schon sagte, bei mir wohnen.«

»Ich will aber zurück, das ist ja das Problem. Ich habe schreckliches Heimweh, Fern. Ich sehne mich nach meinem Zuhause.«

 

Charlotte konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt einen Abend so genossen hatte. Als Ferns Kutscher sie am Hotel absetzte, war sie leicht beschwipst. Und wenn schon, sie und ihre Schwägerin hatten sich bestens amüsiert. Sie hatten Champagner, Wein und Portwein getrunken und Charlottes elende Situation betrauert. Beim nächsten Glas Portwein hatten sie sogar Zigarren geraucht und sich albernem Gelächter hingegeben.

»Wenn mich Louisa so sehen könnte, würde sie glatt in Ohnmacht fallen!« hatte Charlotte ausgerufen.

»Wie ist es denn mit Louisa?« fragte Fern mit dem Hintergedanken an eine mögliche Verbündete.

»Louisa? Sie steht immer hinter Victor. Außerdem, wer würde sich schon darum reißen, seine Schwiegermutter im Haus zu haben? Ich wette, sie hofft, daß ich auf Dauer fortbleibe.«

Fern seufzte. »Warum können wir Frauen nicht zusammenstehen und uns gegenseitig unterstützen?«

»Weil es immer nur einen Boß geben kann. Das werden Victor und Rupe noch früh genug erfahren.«

Das war vielleicht ein Abend gewesen!

Charlotte Broderick schaffte es gerade noch, würdevoll in ihr Zimmer zu gelangen. Dort angekommen, ließ sie sich in einen Sessel fallen.

Morgen war ein neuer Tag, und mit etwas Glück und Ferns Geld würde es ihr vielleicht doch noch gelingen, als Siegerin aus diesem Streit hervorzugehen.

 

Fern ihrerseits konnte es kaum glauben, daß Austins Söhne sich nicht mit ihrer Mutter einigen konnten. Möglicherweise hatte Charlotte, die nicht gerade für ihr Taktgefühl berühmt war, ja selbst zu diesem Bruch beigetragen. Also schrieb sie einen freundlichen Brief an Victor und Rupe, in dem sie vorschlug, daß sie ihre Mutter um die Rückkehr nach Springfield bitten sollten, damit die Probleme außergerichtlich aus der Welt geschafft werden könnten.

Sie hoffte auch, daß die beiden als Zeichen ihres guten Willens Charlotte den anteilsmäßigen Besitzanspruch auf Springfield zugestehen würden. Großzügigkeit wird allgemein belohnt, und es wird zur Freude aller sein, wenn der Familienfrieden wiederhergestellt ist.

Leider öffnete Rupe den Brief, da Victor mit Teddy und den beiden Frauen nach Cobbside gefahren war. Seine Antwort fiel ähnlich knapp, kalt und barsch aus wie die Absage, die Fern seinerzeit von Charlotte auf ihr Angebot, Austin zu besuchen, erhalten hatte.

Vielen Dank für Dein Interesse, aber wir können unsere Familienangelegenheiten ganz gut allein regeln. Mutter weiß, daß sie bei uns jederzeit willkommen ist.

An diesem Tag feierte Cobbside die Eröffnung des ersten Rathauses, eines bescheidenen Backsteingebäudes mit einem recht pompösen Portal. Von dort aus würden mehrere Herren, die sich um das Amt des Bürgermeisters bewarben, zur Bevölkerung sprechen.

Auf der obersten Stufe stand ein wichtiger Gast, der Ehrenwerte Abgeordnete Mike Howland. Mit der Schere in der Hand würde er diesen Tag zum Feiertag erklären, das Band durchschneiden, um diese stolze Stätte freizugeben, und den Jahrmarkt, der sich bereits auf der fröhlich geschmückten Hauptstraße ankündigte, offiziell eröffnen.

Alle bedeutenden Persönlichkeiten des Bezirks, Geschäftsleute und Squatter mit ihren Frauen waren zu einem Bankett im Rathaus geladen worden. Bald drängten sich die gutgelaunten Gäste ziemlich unsanft durch die Tür, um ihre Plätze an der langen Tafel einzunehmen.

Die Brodericks waren natürlich auch eingeladen, doch Rupe interessierte sich nicht für dieses Zusammentreffen der Bauerntölpel und wichtigtuerischen Städter, wie er es nannte.

»Wir müssen hingehen«, erklärte Louisa. »Es sind nicht nur Leute aus der Stadt da, alle unsere Bekannten von den Nachbarfarmen kommen auch. Es wäre doch schön, sie alle wiederzusehen.«

Später nahm Victor sie beiseite. »Ermutige ihn bloß nicht. Wir gehen allein und amüsieren uns. Er fängt ja doch nur wieder Streit an.«

Im Laufe des Tages sollte Louisa sich des öfteren die Frage stellen, ob Rupe vielleicht wußte, welchen Ruf die Brodericks inzwischen hatten. Er kam viel mehr im Bezirk herum als ihr Mann, kaufte und verkaufte Schafe und Pferde, sah sich nach guten Zuchttieren um, brachte Wolle zu den Käufern und behielt die Wollpreise im Auge. Victor war dies nur recht, schließlich war es stets ein Kampf gewesen, Rupe zu Hause zu halten. Überdies war er auf die Informationen der anderen Züchter angewiesen. Ohnehin zog er es vor, die tägliche Verwaltungsarbeit auf der Farm selbst zu erledigen und alles unter Kontrolle zu haben.

Victor bemerkte nichts Ungewöhnliches bei dieser hektischen Veranstaltung. Als er mit Teddy auf der Hüfte zum Essen ging, scherzte er mit den Männern, die er bereits sein ganzes Leben lang kannte. Louisa, die ihm mit Cleo folgte, machte die Gouvernante mit einigen Squatterfrauen bekannt.

Louisa empfand die Stimmung als frostig – die Begrüßungen fielen irgendwie knapp aus, und obgleich die Frauen Cleo mit Höflichkeit begegneten, zogen sie sich rasch zurück. Als sie vier Plätze nebeneinander gefunden hatten, fauchte Mrs. Toby Black von der Strathmore-Farm, die seinerzeit auch zu Austins Begräbnis gekommen war: »Schon besetzt.«

Cleo und Victor schienen sich nichts dabei zu denken. Als sie andere Plätze gefunden hatten, setzte Cleo ihren Schützling auf den Stuhl neben sich und ermahnte ihn, dort brav sitzen zu bleiben.

»Vielleicht sollte ich ihn besser auf den Schoß nehmen«, sagte Louisa nervös. »Es ist bestimmt nicht erwünscht, daß Kinder einen eigenen Stuhl beanspruchen.«

»Laß ihn doch sitzen«, lachte Victor, »aufstehen kann er immer noch.«

Die Leute von den Farmen, die Elite des Bezirks, fanden sich nach und nach an den Tischen zusammen.

Das viergängige Menü war ausgezeichnet. Alle schienen sich zu amüsieren, da die Honoratioren nicht an flüssiger Nahrung gespart hatten, doch Louisa bemerkte bald, daß sie von den Frauen absichtlich ignoriert wurde. Wann immer sie jemanden ansprach, schien man sie nicht zu hören und führte die fröhliche Unterhaltung weiter, als sei nichts geschehen.

Sie wollte mit Victor darüber sprechen, wußte aber nicht, wie sie es in Worte fassen sollte. Vielleicht würde er ihr keinen Glauben schenken. Er und Cleo schienen keinerlei Probleme zu haben und unterhielten sich angeregt mit den Damen in ihrer Nähe. Louisa war das alles furchtbar peinlich, und sie saß mit gesenktem Kopf da. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Warum behandelte man sie auf diese Weise? Oder bildete sie sich doch nur alles ein? Während sie sich mit diesen Fragen quälte, rauschte ein Schwall endloser Reden an ihr vorbei.

Dann endlich schickte man sich allmählich zum Aufbruch an. Victor, der sich prächtig amüsierte, hatte es nicht eilig, doch für Louisa wurde es einfach zuviel. Sie sprang auf, entschuldigte sich und ging zur Tür, wo sie auf eine Gruppe von Frauen stieß, die sich mit Mrs. Crossley, der verwitweten Tochter des alten Jock, unterhielten.

Die Frauen sahen zu ihr hinüber. Sie begriff, daß man über sie gesprochen hatte. Eine von ihnen stieß Mrs. Crossley an, die allein schon von ihren üppigen Formen her furchteinflößend wirkte. Diese verstand den Wink und fiel sofort über Louisa her.

»Sie müssen ja überaus zufrieden mit sich sein, Mrs. Broderick.«

»Wie bitte?«

»Sie sind Charlotte ja auf sehr schlaue Weise losgeworden.«

»Was?«

»Sie haben mich genau verstanden. Charlotte Broderick besitzt viele Freunde hier, sie wird in diesem Bezirk als Pionierin hoch geschätzt. Eigentlich hätte ihr und nicht Ihnen und den wichtigtuerischen Söhnen heute ein Platz an dieser Tafel gebührt.«

Louisa floh nach draußen, vorbei an den Kuchenständen und Clowns mit Luftballontrauben, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden sollte.

Schließlich fand ihr Mann sie auf einer Bank unter einer Reihe Fichten.

»Warum bist du weggelaufen? Wir haben dich überall gesucht.«

Erstaunt hörte er zu, als sie schluchzend erzählte, was ihr widerfahren war.

»Das kann nicht sein. Du hast sie bestimmt falsch verstanden.«

Nun geriet Louisa in Rage. »Sicher, ich habe mir alles nur eingebildet. Ihr Männer kümmert euch verdammt noch mal um gar nichts, solange die Viehpreise und das Wetter stimmen. Aber ich sage dir, diese Frauen sind aufgebracht und stehen allesamt auf Charlottes Seite.«

»Herr im Himmel, dann laß sie doch! Das legt sich bald wieder.«

»Du hast gut reden. Ich habe einen furchtbaren Tag hinter mir, und dann werde ich noch auf diese Weise abgekanzelt! Muß ich mich derart demütigen lassen, nur weil ihr eure Streitereien nicht beilegen könnt?«

»Mein Gott, nun mach doch nicht so ein Theater. Wer kümmert sich schon um diese alte Hexe?«

Doch Louisa ließ sich nicht beschwichtigen. Sie ahnte, daß ihr bei anderen Anlässen die gleiche Behandlung zuteil werden würde, und ärgerte sich zunehmend über die beiden Männer, die sie in diese Lage gebracht hatten. Sie wußte auch keine Lösung für dieses Dilemma; Hauptsache, es hatte so bald wie möglich ein Ende damit. Sie hatte eigentlich vorgehabt, ein festliches Sonntagsessen anläßlich von Victors bevorstehendem Geburtstag zu geben, ließ diesen Plan jetzt aber aus Angst vor erneuter Zurückweisung lieber fallen.

Cleo berichtete Rupe von dem Zwischenfall, doch dieser lachte nur. »Mrs. Crossley hält sich für die Königin des gesellschaftlichen Parketts, dabei kann niemand sie leiden. Sie schmollt, weil sie mit Charlotte ihre einzige Freundin verloren hat.«

»Louisa scheint zu glauben, Sie hätten gewußt, daß die Leute an der … Abwesenheit Ihrer Mutter Anstoß nehmen würden, und seien deshalb nicht hingegangen.«

Er wirkte ehrlich überrascht. »Wie das? Ich bin doch kein Hellseher. Woher soll ich wissen, was den Bauern hier so durch den Kopf schießt? Wohin wollen Sie eigentlich?«

Cleo lächelte. »Ich wollte mal in den Obstgarten schlüpfen, solange Teddy bei seiner Mutter ist. Vielleicht sind ja schon ein paar Äpfel reif. Dann muß ich wenigstens nicht ständig hinter ihm herlaufen und aufpassen, daß er nicht die unreifen ißt.«

»Fein, da schlüpfe ich mit.«

Sobald sie das Tor hinter sich gelassen hatten und in den Schatten des duftenden Gartens getaucht waren, legte Rupe die Arme um Cleos Taille und zog sie an sich. Er hatte lange gewartet, doch nun war er sich ganz sicher. In den letzten Wochen war ihm nicht entgangen, daß Cleo ihn gern hatte, doch er hatte es vorgezogen zu flirten, ohne sie auch nur ein einziges Mal zu berühren.

Nun hatte sich das Blatt gewendet. Er spürte, daß sie bereit war, küßte sie immer heftiger, atemloser, fordernder, bis sie sich schließlich errötend, aber keineswegs verärgert, von ihm losriß.

»Aber ich liebe dich doch«, wisperte er ungehalten und nahm sie wieder in die Arme.

»Ich weiß. Ich dich auch, Rupe.«

Sie blieben lange im Obstgarten, küßten und streichelten einander, und Cleo wehrte sich nicht, als er ihre Bluse aufknöpfte und ihre glatten, weichen Brüste liebkoste.

»Komm heute nacht zu mir«, bat er sie immer wieder, doch Cleo lächelte nur.

»Nein, das geht nicht.«

»Natürlich geht es.«

Sie brachte ihre Kleider wieder in Ordnung, strich sich das Haar glatt und ging mit Rupe zum Tor. Die Äpfel waren vergessen. Beide waren sehr vorsichtig und kehrten getrennt ins Haus zurück, um keine Aufmerksamkeit auf ihre Romanze zu lenken.

 

Dennoch wurden sie beobachtet, und zwar von einer Frau, die bei Einbruch der Dämmerung ihren täglichen Gang zum Haus unternahm. Sie war erst seit einigen Tagen wieder da und überwand nur allmählich die entsetzliche Enttäuschung darüber, daß die Jungen nicht heimgekehrt waren. Nirgendwo fand sich ein Zeichen von ihnen.

Allerdings stellte Nioka fest, daß ihre innere Kraft gewachsen war. Sie konnte hier, wo sie zu Hause war, leichter mit Rückschlägen fertig werden, weit entfernt vom See, dem Schauplatz der Tragödie, die sie in so tiefe Verzweiflung gestürzt hatte. Auch konnte sie sich mit der Erinnerung an die guten und schlechten Erfahrungen ablenken, die sie während ihrer langen Reise gemacht hatte. Sie hatte so viel von der Welt gesehen.

Nach den ersten Nächten im alten Lager am Fluß nahm sie die tröstliche, vertraute Umgebung wieder wahr und schalt sich selbst für ihren übertriebenen Optimismus.

Du Närrin, sagte sie sich, die Jungen, die zur Schule gehen, kommen doch im Sommer nach Hause, in den Weihnachtsferien. Alle Schwarzen auf Springfield hatten gewußt, daß Weihnachten Feiern und Geschenke bedeutete, daß sich die Familie bei Gesang und Tanz versammelte. Und so hatte sie den einen Traum gegen einen anderen eingetauscht. Sie mußte nur bis Weihnachten warten. Teilnahmslos sah sie von ihrem Versteck im hohen Gras aus Rupe und einer fremden Frau beim Liebesspiel zu. Sie hatte Zeit genug und würde sich nicht von der Stelle rühren. Sie lebte, wie es ihr gefiel, ein einsamer Geist, der sich den Blicken der Weißen entzog, die er verachtete, der aus den Tiefen des Busches auftauchte, um sich an seinen heimlichen Wanderungen um das Haus zu erfreuen.

Sie hatten jetzt weiße Hausmädchen, das müßte sie Minnie eigentlich berichten. Dann aber änderte sie ihre Meinung, da sie nicht wollte, daß Minnies Geist in diese Idylle eindrang. Nioka hatte genügend Gesellschaft – sie kannte alle Vögel und Pelztiere, die sie in ihrem verborgenen Lager besuchten, und nachts wachte die alte Eule mit stetigem Blick über sie. Manchmal sah sie Teddy umherlaufen, und das machte sie traurig. Der Verlust seiner Spielgefährten schien ihn nicht weiter zu berühren. Er hatte Bobbo, Jagga und Doombie wie alle Weißen bereits vergessen. Nioka betete zu den guten Geistern um Hilfe und hoffte, daß wenigstens ihr kleiner Junge seine Mutter nicht vergessen hatte.