14
Hauptmann Slurp
Bree, Whitey und PJ huschten von Felsen zu Felsen und kamen der Mauer immer näher. Die Gnome schlenderten durch die Gegend oder fläzten herum wie Soldaten außer Dienst. Sie kratzten sich die Bäuche, stützten sich auf ihre eisenbeschlagenen Keulen und knurrten träge.
»Was nun?«, flüsterte PJ.
»Wir greifen an«, sagte Whitey, »und treiben sie zu einem Knäuel zusammen. Sobald wir durchbrechen, kann Bree über die Mauer steigen und auf die andere Seite fliehen, während wir beide die Gnome in Schach halten.«
»Ich kämpfe an deiner Seite«, sagte Bree.
»Nein, du steigst über die Mauer«, beharrte der Albino. »Solange ich der Anführer bin, tust du, was ich sage. Du wirst fliehen, und der Junge und ich geben dir Deckung.«
Bree sah genauso entsetzt aus wie PJ. »Moment mal, Mr. Edelmann«, sagte er. »Ich melde mich doch nicht freiwillig zu einer Kamikaze-Mission! Da sind ungefähr fünfzig von diesen Kerlen!«
Bree ließ rasch ihren Blick über die Gnome wandern. »Einundfünfzig«, sagte sie. »Er hat recht, Whitey, es sind zu viele. Wir müssen mit ihnen reden und sie irgendwie überlisten.«
»Wie, sie können sprechen?«, fragte PJ.
»Ja«, erwiderte Bree, »und gar nicht mal schlecht, auch wenn sie viele Wörter nicht kennen.«
»Na schön«, sagte Whitey und warf Bree einen bösen Blick zu, weil sie seine Autorität infrage stellte. »Jemand wie dich haben sie noch nie gesehen, Oberweltler, und neue Sachen versetzen sie in Erstaunen. Dein Anblick dürfte sie einen Moment lang unschlüssig machen, und in diesen Sekunden besteht die geringe Chance, dass wir zu dritt fliehen können. Geh vor, schlendere zu ihnen hinüber und bluffe.«
»Was soll das heißen, ich soll bluffen?«, fragte PJ.
»Es heißt, dass du sie anlügen sollst«, erklärte Whitey. »Erzähle ihnen etwas, was sie glauben lässt, wir wären ihnen kräftemäßig haushoch überlegen und –«
PJ verdrehte die Augen. »Ich weiß, was bluffen bedeutet.«
»Warum fragt er dann?«, sagte Whitey an Bree gewandt.
»Weil du willst, dass ich als Erster gehe, aber ich kein Krieger, kein ausgebildeter Unterhändler und kein Vollidiot bin«, sagte PJ. »Ich gehe nicht als Erster, basta.«
»Du wirst also nicht versuchen zu bluffen?«, fragte Whitey.
»Nein!«
Bree blickte hinter ihnen den Hügel hinauf. »Die Schnüffler!«, zischte sie.
Die Gnom-Patrouille, die wegen PJs Ausruf den Hang absuchte, kam näher. Zwei großschnäuzige Exemplare hatten eine Witterung aufgenommen … ihre Witterung. In wenigen Augenblicken würden die Schnüffler sie erblicken.
»Dann greifen wir eben an«, verkündete Whitey und drückte PJ einen brieföffnergroßen Dolch in die Hand.
PJ schaute zu ihren vielköpfigen Feinden. Die Gnome waren bewaffnet wie mittelalterliche Soldaten, hatten dicke Keulen, breite Streitäxte, Speere, grobe Schwerter und andere üble Steinwaffen, die PJ noch nie gesehen hatte. Er betrachtete den kleinen Dolch in seiner Hand. »Mist, Mist, Mist«, murmelte er.
Augenblicke später marschierte PJ geradewegs in das Gnom-Lager und ging auf das größte Exemplar zu, das er finden konnte … Hauptmann Slurp.
Überrascht griffen die Gnome nach ihren Keulen und Speeren. Mit gezückten Schwertern gingen Bree und Whitey PJ hinterher und hielten ihm den Rücken frei. Sie wurden augenblicklich von einer überwältigenden Zahl pelziger Soldaten umringt.
»Hey, Schmutzfresse!«, rief PJ.
Slurp wandte sich um. »Arrgh! Ich bin nicht Schmutzfresse«, sagte er und deutete auf einen anderen Gnom. »Schmutzfresse ist der da. Ich bin Slurp!« Dann sah er, dass es sich bei den Neuankömmlingen um Menschen handelte und grinste … bis PJ ihm eine riesige Flaschenrakete zwischen die blinzelnden Augen hielt.
PJ umklammerte die Rakete mit zittriger Hand. In der anderen hielt er sein Feuerzeug und Sams Rucksack voller Feuerwerkskörper. Die Gnome waren schon furchterregend, wenn sie einen nur anknurrten, aber einen reden zu hören jagte PJ einen Angstschauer über den Rücken. Er verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, starrte zu dem groß gewachsenen Gnom empor und versuchte sich einen Bluff einfallen zu lassen.
»Ich weiß, was du denkst«, brummte PJ schließlich. »Was hat dieser Mensch für ein Problem? Nun, ähm … Herr Gnom, mein Problem ist, dass ich ein Perfektionist bin und mich deshalb mit der machtvollsten Feuerwerksrakete der Welt bewaffnet habe, nur für den Fall, dass ich dir deinen pelzigen Kopf wegblasen muss. Also mach keinen Scheiß, sondern lass mich und meine Freunde einfach weiterziehen, in Ordnung?«
Bree und Whitey stockte der Atem, als PJ das Feuerzeug näher an die Zündschnur hielt.
Slurp beugte sich herab und blickte am Schaft der Flaschenrakete entlang. Stirnrunzelnd wandte er sich zu seinen Soldaten. »Was bedeutet ›Scheiß‹?«
Bargle hob die Hand und tat seine Meinung kund. »Ich glaube, es ist ein anderes Wort für ›Fressen‹.«
»Du glaubst ja, alles heißt ›Fressen‹«, schnaubte Nargle.
Ein zweiter Gnom meldete sich zu Wort. »Nein, nein! Es bedeutet ›stinkig‹.«
Die Gnom-Meute wurde ganz aufgeregt. Sie sprangen auf und ab, alle brabbelten durcheinander.
»Ja, ja!«, rief einer. »Extra-stinkig!«
»Fressen!«, sagte ein fetter Gnom, und viele um ihn herum nickten beipflichtend.
»Vielleicht heißt es ja ›stinkiges Fressen‹«, meinte einer aus den hinteren Reihen.
»Ich bin für ›Fressen‹«, blaffte wieder ein anderer.
Slurp hob die Hand, um die Meute zum Schweigen zu bringen, dann wandte er sich wieder an PJ und legte erneut die Stirn an die Raketenspitze. »Das waren alles gute Vorschläge. Und jetzt verrate mir, Mensch, was das Wort bedeutet.«
»Es bedeutet, wenn ich das Ding hier anzünde, verwandelst du dich in eine Toastscheibe«, sagte PJ und versuchte dabei so bedrohlich wie möglich zu klingen.
Slurp wandte sich erneut an seine Soldaten. »Was heißt ›Toastscheibe‹?« Wieder warfen die Gnome mögliche Antworten in die Runde, wie bei einer Quizshow.
»Hör zu, du zu groß geratener Pavian«, unterbrach PJ das muntere Wörterraten, »es bedeutet, meine Freunde und ich werden über diese Mauer steigen, und falls du versuchst, uns daran zu hindern, werde ich dich vernichten wie Ungeziefer.«
»Mich vernichten?«, fragte Slurp. »Mit dem Ding da?« Er nickte mit seinem dicken Schädel. »Ahhh, ich glaube, das verstehe ich.«
Slurps riesige Pranke schoss vor und entriss PJ die Rakete. Verblüfft über die Schnelligkeit des pelzigen Hünen, starrte PJ auf seine leere Hand.
»Oh«, flüsterte er nur.
»Interessant«, sagte Slurp. »Und wie mache ich, dass das Ding etwas vernichtet?« Der Gnom-Hauptmann drehte die Flaschenrakete in alle Richtungen, betastete und beschnupperte sie.
PJ nutzte die Gelegenheit und knipste das Feuerzeug an. Eine kleine Flamme erwachte zum Leben, die er rasch an die Zündschnur hielt.
Slurp riss die Rakete schnell weg und zückte sein Schwert. »Bedroh mich nicht mit Feuer, Mensch«, knurrte er, während das rote Glühen an der Zündschnur auf seine Pranke zukroch. »Mir macht man so leicht keine Angst.«
Plötzlich zündete die Rakete, und ein gewaltiger Lichtblitz raste durch das Halbdunkel. Ein flammender Funkenstrahl schoss aus der Rakete auf die umstehenden Gnome zu. PJ hechtete zur Seite und ließ, während er schnell durch eine Lücke in der verblüfften Meute krabbelte, den Rucksack mit den Feuerwerkskörpern fallen.
Slurp entglitt sein Schwert, und er klammerte sich mit beiden Pranken an die funkensprühende Rakete. Die anderen Gnome warfen sich zu Boden und schlugen die Pranken über den Kopf.
»Lauft!«, rief PJ Bree und Whitey zu.
Die Rakete verbrannte Slurp die Hände, und schließlich ließ er sie los. Zischend flog sie ihm an den Kopf und verfing sich in seinem Fell.
Bree und Whitey kletterten auf das leiterartige Gerüst, vorbei an verdatterten Gnome, und zogen PJ zu sich nach oben. Kurz darauf standen die drei auf der Mauer. PJ trat an den Rand und blickte hinunter. Die Mauer fiel senkrecht ab wie ein Staudamm, und es war ein weiter, weiter Weg bis nach unten …
Benommen wandte PJ sich um und sah, wie Whitey an ihm vorbeitrat und ein dünnes Seil unter seinem Umhang hervorzog. Er warf es um eine Zinne, umfasste das Seil und sprang über den Mauerrand in die Tiefe.
In dem Moment blitzte hinter ihnen ein grelles Licht auf.
Knall!
»Spring!«, rief Bree PJ zu. Sie reichte ihm das Ende ihres eigenen Seils und befestigte es an der Zinne. PJ zögerte, selbst als der erste krumme Gnom-Pfeil an seinem Kopf vorbeisauste.
Zisch!
Bree wartete nicht länger. Sie packte PJ, schlang die Arme um ihn und warf sich mit ihm über den Mauerrand.
Am Fuß des Gerüsts stand Slurp inmitten der am Boden kauernden Gnome und schüttelte den Kopf, um das Klingeln aus seinen Ohren zu vertreiben. Vorsichtig erhoben sich seine Artgenossen, während Slurp allmählich wieder zu Sinnen kam. Er merkte, dass sie ihn anstarrten und griff sich an den Kopf. Da war eine riesige kahle Stelle, wo die Raketenexplosion ihm das Fell weggebrannt hatte.
»Das Ding hat mich gebissen!«, knurrte er.
Seine Soldaten brachen in schallendes Gelächter aus.
Slurp schnaubte einen Moment lang, dann fauchte er die gackernde Menge an: »Wo sind die Menschen?«
Eine Wache vom Gerüst deutete über die Mauer.
»Hinterher!«, brüllte Slurp. Während seine Gnome eilig ihre Waffen aufklaubten, blickte Slurp zu Boden und neigte verblüfft den Kopf zur Seite. Zu seinen Füßen lag der Rucksack, den PJ verloren hatte.