18
PJ und die Wächter
Nachdem PJ, Bree und Tracker sich etwa eine Meile durch knietiefen Schlamm gekämpft hatten, wurde der Sumpf seichter und weniger breiig. Die Frau und der Veteran erreichten festeren Untergrund. PJ stolperte ihnen nach, erleichtert, endlich aus der braunen Brühe steigen zu können. Trotzdem bekam er das Bild des Ungetüms nicht aus dem Kopf, das Whitey getötet hatte. »Oh, Mann … war das eklig. Was war das für ein Vieh?«
»Das war ein Schwärmer«, erklärte Tracker mit grimmiger Miene. »Er ist eine Art Müllschlucker der Natur. Er räumt alles weg, was ihm in die Quere kommt.«
»Und was seid ihr eigentlich für Leute?«, fragte PJ.
»Wir sind die Wächter der –«, setzte Tracker an.
»Nein!«, fiel Bree ihm ins Wort. »Whitey hat mir befohlen, ihm nichts zu verraten.«
»Warum habt ihr ihn dann hergebracht?«, fragte Tracker.
»Wir haben ihn nicht hergebracht. Er ist einfach aufgetaucht.«
»Hallllooo«, sagte PJ. »Jetzt hör mal zu …«
Bree ignorierte PJ und sprach weiter zu Tracker. »Ein Gnom-Soldat ist zufällig zur Oberfläche gelangt. Das Problem haben wir beseitigt, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis die anderen Gnome, die die Mauer überwunden haben, den Tunnel entdecken.«
»Und unser Besucher hier?«, fragte Tracker und zeigte mit dem Daumen auf PJ.
»Sein kleiner Bruder ist durch den Tunnel hergeschlichen«, sagte Bree. »Er ist ihm gefolgt, um ihn zu suchen.«
Sie gingen weiter, ohne PJ zu beachten, deshalb packte er die beiden bei den Schultern, damit sie stehen blieben. Instinktiv zückten sie halb ihre Schwerter.
»Ganz ruhig«, sagte PJ. »Ich bin es einfach nur leid, dass ihr über mich redet, als wäre ich gar nicht hier.«
»Ich wünschte, das wärst du auch nicht«, sagte Bree. »Du hast beinahe einen Krieg ausgelöst.«
»Hey, ich habe meinen Bruder und ein paar Feuerwerkskörper verloren. Davon abgesehen wüsste ich nicht, was ich mit alledem zu tun habe.«
»Feuerwerkskörper?« Tracker hob eine Augenbraue.
»Ja«, sagte Bree. »Seinetwegen besitzen die Gnome jetzt Schießpulver.«
»Oh, nein«, sagte der Veteran leise.
»Oh, nein, ganz richtig«, sagte PJ. »Das Zeug ist Diebesgut, und ich habe es meinem Vater aus dem Mülleimer geklaut. Selbst wenn ich dieses Schlamassel hier überlebe, wird er mich danach umbringen.«
»Da muss er sich aber erst mal hinter den Gnomen anstellen!«, schimpfte Bree. Sie wandte sich ab und stapfte davon.
Bree war während all der Kämpfe bemerkenswert gelassen geblieben, aber jetzt war sie richtig sauer. Es war das erste Mal, dass PJ sie so sah.
»Los«, sagte Tracker. »Gehen wir weiter.«
Sie erreichten einen niedrigen, tropfenden Tunnel. Bree bückte sich und ging hinein, und Tracker bedeutete PJ, ihr zu folgen. Wenige Schritte hinter dem Eingang schwand das Licht, und der Felsboden wurde feucht und rutschig, doch die Wächter gingen sicheren Schrittes weiter. PJ blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen. Ganz gleich, wie unheimlich ihm die Finsternis vorkam, ihm schien, als könnte nichts schlimmer sein als das, was er bisher durchgemacht hatte.
Bree und PJ folgten Tracker in eine Kaverne mit einer turmhohen Decke und einem Gewirr aus spektakulären Steinsäulen. Er blickte zu den riesigen Felskegeln auf, die an der Dunkelheit selbst zu hängen schienen. »Hey, das sind ja Stalagmiten.«
»Stalaktiten«, sagte Bree und schüttelte den Kopf. Sie kniete sich hin, zog ihren Bogen vom Rücken und legte einen Pfeil an die Sehne; dann wartete sie ab, ob ihnen irgendwelche hartnäckigen Gnome folgten, während PJ und Tracker weitergingen.
»Das hier sind Stalagmiten.« Tracker streckte den Arm aus und klopfte auf einen der Kegel, die aus dem Boden aufragten. »Wie beim Menschen ist keiner so wie der andere.«
PJ fuhr mit der Hand über eine lange, faserige Steinranke, die aus dem Nichts über ihnen in ein Wasserbecken herabhing. Sie sah anders aus als die Stalaktiten, fühlte sich an wie ein Ast, war aber hart wie Stein.
»Holzstein«, erklärte Tracker. »Es ist kein richtiges Holz, aber auch kein Stein. Es ist porös und saugt das Wasser auf, um die lebendige Decke zu nähren … Aus dem Material stellen wir unsere besten schnurgeraden Pfeile her. Die Gnome verwenden für ihre Pfeile lange knorrige Baumwurzeln, die bis in ihre schäbigen Höhlen herabhängen.«
PJ nickte. »Ja, ihre Pfeile sind Mist.«
Trotz der gefährlichen Situation, in der sie sich befanden, lachte Tracker entspannt auf. »Wie nennt man dich, Oberweltler?«
»PJ.«
»Ah.« Tracker nickte. »Die Abkürzung für Pyjama.«
»Nee, für Percival John … aber nenn mich bloß nicht Percy.«
Der Veteran grinste. »Ich bin Tracker. Den Namen hat mir mein Bruder, Hunter, gegeben.«
»Komischer Name, Tracker.«
»Es bedeutet Fährtenleser. Hunter war der Jäger, und ich bin der Fährtenleser«, erklärte Tracker augenzwinkernd.
»Was ist mit dem Mädchen, das mich nicht mag?«, fragte PJ.
»Bree? Sie ist eine unserer tapfersten Kriegerinnen. Wahrscheinlich wird sie nun unser Anführer, nachdem Whitey von uns gegangen ist. Es ist ihr nur noch nicht bewusst.«
»Sie? Euer Anführer? Das ist ein Witz, oder? Sie ist in meinem Alter.«
»Leute in deinem Alter treffen wichtige Entscheidungen. Bestimmt hast du vor kurzem auch einige wichtige Entscheidungen getroffen, nicht wahr?«
PJ wandte den Blick ab und antwortete nicht.
Tracker redete weiter. »Ich werde dir etwas über uns erzählen, PJ, denn ich spüre, dass du schlechter von uns denkst, als wir in Wirklichkeit sind. Außerdem wirst du es vermutlich sowieso nicht zurück zur Oberfläche schaffen, um es irgendwem verraten zu können.«
PJ zog ein langes Gesicht, aber er nickte.
»Wir sind die Wächter der Oberwelt«, begann Tracker. »Vor vielen Generationen kamen Menschen unter die Erde. Es hatte nur eine kurze Erkundungsreise sein sollen, denn anfangs schien Untererde kein Ort zu sein, an dem Menschen leben konnten. Aber dann ist der Trupp auf etwas gestoßen.«
»Auf Gnome?«, riet PJ.
»Auf Schönheit«, korrigierte ihn Tracker und deutete auf die majestätischen Felsformationen, an denen sie vorbeigingen. »Hinter all dem Schmutz verbargen sich formvollendete Höhlen, rauschende Flüsse, fantastische Wesen, eine ganze Welt voller Wunder und Leben.«
»Und Gnome«, beharrte PJ.
»Ja, und Gnome«, räumte PJ ein. »Die Entdecker stießen auf eine kleine Horde von ihnen und zückten ihre Waffen. Die Gnome kämpften mit Fängen und Krallen. Die Menschen besaßen die Waffen der damaligen Zeit – Speere, Messer und Knüppel. Mehrere Gnome wurden erschlagen, und der Rest wurde mühelos vertrieben. Wir Menschen hielten uns für haushoch überlegen und wähnten uns in Sicherheit … zumindest am Anfang.
Weitere Menschen gingen hinunter. Ein ganzes Dorf stieg hinab, um die Wunder von Untererde zu sehen und die neue Welt in Besitz zu nehmen. Aber die Gnome kehrten zurück. Diesmal waren auch sie mit Speeren, Messern und Keulen bewaffnet. Sie hatten unser Werkzeug imitiert und ihre jahrhundertealte Waffentechnik praktisch über Nacht fortentwickelt, nur indem sie die Waffen nachbauten, die die Menschen gegen sie eingesetzt hatten. Außerdem erschienen sie in einem riesigen Rudel und waren den neuen Siedlern zahlenmäßig weit überlegen. Die Niederlage war schnell und vernichtend. Nur eine Handvoll Menschen überlebte.«
Tracker seufzte. »Und wir, die wir heute hier unten leben, sind die Nachfahren dieser Überlebenden. Sie haben den Tunnelausgang an der Oberfläche getarnt und wurden eine Geheimgesellschaft, die verhindert, dass die kriegerischen Gnome die Oberwelt entdecken. Andersherum verhindern wir auch, dass die Oberwelt die Gnome entdeckt. Auf der ganzen Welt haben wir die Ausgänge von Untererde verbarrikadiert und schützen sie bis heute mit unserem Leben. Die Falltür, die du entdeckt hast, ist ein solcher Ausgang.«
Tracker blickte auf. Allmählich ging die Kaverne in eine hellere Höhle über. »Ah, wir sind gleich da.«
»Wo?«, fragte PJ. »Und was meinst du mit Geheimgesellschaft? Und wieso benutzt ihr immer noch diese primitiven Waffen?«
Mit einer Handbewegung bedeutete ihm Tracker, still zu sein. Die Höhle war erfüllt vom Brummen unzähliger Glühkäferschwärme. Dahinter hörte man Stimmen, menschliche Stimmen. Sie hallten leise, aber vernehmlich zu ihnen herüber.
Bree schloss zu PJ und Tracker auf. »Da ist ja unsere Gruppe!«, sagte sie und hätte beinahe zum ersten Mal, seit PJ sie kannte, gelächelt.
»Endlich mal eine gute Nachricht«, sagte PJ.
»Jetzt können unsere Veteranen uns zur Mauer führen, damit wir sie wieder zurückerobern.«
Tracker runzelte die Stirn. »So einfach ist das nicht, Bree.«
»Aber wir müssen es tun«, beharrte sie.
»Ich glaube, du verstehst nicht ganz«, sagte Tracker und versuchte Brees Schritte zu verlangsamen, während sie auf die Stimmen zueilte.
Sie traten in die Höhle und fanden sich am Rand eines bescheidenen Lagers wieder. Die Decken lagen zerknüllt am Boden, die Waffen lehnten achtlos an den Felswänden. In der Mitte der Höhle brannte ein kleines Feuer. Bree blieb wie angewurzelt stehen und seufzte auf. Weniger als zwanzig zerschundene Wächter lagen erschöpft am Boden, einige von ihnen verwundet und keiner von ihnen über achtzehn Jahre alt.
PJ runzelte die Stirn. »Wie? Das ist euer Kampfverband?«
Bree stammelte: »Aber … aber wo sind all die Erwachsenen? Wo ist Yolo? Wo ist Amadar? Katrine?«
Tracker trat vor sie. »Bree, nachdem du und Whitey losgezogen seid, um dem Gnom zur Oberfläche zu folgen, hat eine ganze Horde der Kerle die Mauer gestürmt. Aus irgendeinem Grund hat unser Beobachtungsposten keinen Alarm geschlagen, und sie haben uns überwältigt, bevor wir den Fluchttunnel erreichen konnten. Die Älteren haben den Gnomen zwischen den Felsen ein letztes Gefecht geliefert, damit ich die jungen Krieger-Lehrlinge hierher in Sicherheit bringen konnte. Wir haben es geschafft, aber die Übrigen …« Tracker schüttelte den Kopf.
Bree schob sich an ihm vorbei; ihre Augen waren feucht. »Gwen? Lucio?«
PJ wand sich unbehaglich. »Hey«, rief er Bree nach, »tut mir leid, ich hab’s nicht so –«
Tracker legte ihm eine Hand auf die Schulter und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, sie in Ruhe zu lassen.