21

Bree

Bree stand vor ihren zwanzig mitgenommenen Kampfgefährten. Sie trugen halb zerfetzte Rüstungen, und die Waffen an ihren Seiten hingen in den Staub hinab. Es waren überwiegend Jugendliche, ihrem Aussehen nach zwischen sechzehn und achtzehn Jahre alt, aber auch einige Kinder waren darunter. Alle Erwachsenen außer Tracker waren gefallen. Die abgekämpften Gesichter der Jungkrieger kündeten von der vernichtenden Niederlage, die ihnen die Gnome an der Mauer beigebracht hatten.

PJ stand etwas abseits bei Tracker, während Bree den übrigen ihre Geschichte erzählte. »Ein Gnom ist durchgebrochen und hat den Tunnel zur Oberfläche entdeckt«, erklärte sie. »Als Whitey und ich loszogen, um ihn zu verfolgen, war uns nicht klar, welch schrecklichen Verlauf die Schlacht hier unten nehmen würde.«

»Wie habt ihr den Gnom gefangen?«, fragte einer der älteren Jungen.

»Das, ähm, hat der Oberweltler erledigt.«

Die kleine Gruppe raunte und blickte verwundert zu PJ.

»Er hat ihn gefangen«, stellte Bree klar, »aber dann ließ er ihn wieder entkommen, und dabei wurde der Gnom getötet.«

Tracker wandte sich an PJ. »Du hast den Gnom erschlagen?«

»Das hatte ich … gar nicht vor«, stammelte PJ. »Die meiste Zeit habe ich ja nur am Boden gelegen.«

»Wir mussten ihm zu Hilfe kommen«, fügte Bree ärgerlich hinzu.

»Hey, ich hatte alles unter Kontrolle, bis ihr beiden dazwischengefunkt habt.«

»Du weißt, was das bedeutet, Bree«, sagte Tracker, dessen Miene sich plötzlich aufhellte.

»Es bedeutet gar nichts«, entgegnete sie, »überhaupt nichts.«

»Er hat das Portal bewacht und eigenhändig den Gnom gefangen genommen, ja?«

»So in der Art«, sagte PJ. »Das Auto hat natürlich geholfen.«

»Und der Gnom war in deiner Obhut, bis Bree und Whitey aufgetaucht sind.«

»Und ihn umgebracht haben, ja«, sagte PJ.

Bree setzte zu einer Erklärung an, aber Tracker kam ihr zuvor, bevor sie etwas sagen konnte. »Warum leugnest du es, Bree? Er hat ein natürliches Talent, um gegen die Gnome zu kämpfen. An der Mauer hat er sie auch überlistet.« Der alternde Krieger starrte ins Leere, während er sich eine Erinnerung ins Gedächtnis rief. »Es ist mehrere Jahrzehnte her, dass mein Bruder Hunter verschwand …«

Die jungen Leute zuckten zusammen. Sie hatten die Geschichte schon zigmal gehört. Aber Tracker störte sich nicht daran und erzählte mit einer Stimme, die ebenso entrückt war wie sein Blick. »Vielleicht ist Hunter zur Oberfläche fortgelaufen. Vielleicht lebt er dort und bildet heimlich Wächter aus, die das Portal von oben bewachen. Dieser Junge hier könnte sein gelehrigster Schüler sein.«

Bree blickte zu PJ hinüber, der sich mit einer Hand abwesend am Hintern kratzte und mit der anderen in seinem Ohr bohrte. Sie nahm Trackers Arm und schüttelte den Veteranen sanft aus seiner Erstarrung.

»Tracker, wir haben dich alle sehr gern, gerade weil du so ein, äh, Träumer bist«, sagte sie leise, »aber an der Oberfläche gibt es keine Wächter. Hunter ist tot, und deine wilden Theorien sind nur Ausdruck deiner Trauer um deinen Bruder.« Sie deutete auf PJ. »Dieser Junge hier lässt sich von seiner Feigheit leiten, und seine Erfolge sind reines Glück. Er ist ganz zufällig zu uns hinunterspaziert.«

PJ flüsterte Tracker zu: »Hat sie mich gerade vor allen Leuten einen Feigling genannt?«

»Ich denke, du täuschst dich, Bree«, sagte Tracker. »Ich glaube an den Jungen. Ich kann seine Unerschrockenheit riechen.«

PJ schnüffelte an seinen Achselhöhlen. »Hey, ich weiß nicht, ob mir gefällt, was du über meinen Geruch sagst.«

»Hast du schon vergessen, dass er den Gnomen Schießpulver überlassen hat?«, rief Bree Tracker ins Gedächtnis.

Die jungen Wächter keuchten erschrocken auf.

»Das habe ich nicht vergessen«, sagte Tracker.

»Oh, Mann«, stöhnte PJ. »Wieso erwähnt ihr das immer wieder?«

Tracker wandte sich zu PJ. »Weil die Gnome neben ihrer Fresserei und ihren Kampfspielen nichts mehr lieben als neue Gerätschaften. Sie erfinden nichts selbst. Alle ihre Ideen haben sie von anderen Spezies übernommen. Wie man Tunnel gräbt, haben sie den Termiten abgeschaut. Vom Pillenkäfer haben sie gelernt, wie man mit Felsen verschmilzt. Ihre Sprache kannte nur ein einziges Wort, sie haben unsere gestohlen.«

»Warum glaubst du wohl, dass wir uns mit diesen primitiven Waffen begnügen?«, warf Bree ein.

»Weil ihr Mittelalter-Freaks seid und moderne Technologie ablehnt?«

»Das mag so aussehen«, lachte Tracker, »aber so ist es nicht. Wir sind uns der technologischen Errungenschaften der Menschheit mehr als bewusst, aber wir bringen nichts davon hierher, damit die Gnome es nicht nachbauen können.«

»Sie werden deine kleinen Feuerwerkskörper studieren«, sagte Bree. »Sie werden sie in größeren Versionen nachbauen und besitzen dann Schießpulver, Raketen und Bomben. Und wenn sie erst den Tunnel zur Oberfläche entdecken … Stell dir vor: Gnome, die mit schweren Waffen auf der Erdoberfläche Amok laufen. Es wäre –«

»Massenmord«, beendete PJ den Satz für sie.

Bree wandte sich an die verbliebenen jungen Wächter. »Die Zeit wird knapp. Whitey ist tot. Amadar und Yolo auch. Wer möchte uns anführen?« Die Jungkrieger musterten sie wortlos. »Irgendein Freiwilliger?«

Es folgte ein langes Schweigen. Bree wandte sich zu Tracker, aber der schüttelte den Kopf. »Wie du weißt, vertrauen sie meinem Urteil nicht«, sagte er.

»Jemand anders?«, fragte Bree in die Runde. Wieder Schweigen. Ein junges Mädchen mit zerzausten Zöpfen hob schließlich die Hand. Bree atmete auf und deutete auf die Kleine. »Sprich.«

»Ich finde, du solltest unser Anführer sein, Bree«, sagte das Mädchen.

Die Wächterin blickte sich um. Weitere gehobene Hände signalisierten, dass Bree eine Wahl gewinnen sollte, zu der sie sich gar nicht gestellt hatte. Bald waren sich alle einig.

Bree war verblüfft. »Aber ich bin doch noch gar nicht so weit«, flüsterte sie und rief sich Whiteys Worte ins Gedächtnis. »Wenn ich älter bin vielleicht …«

»Keiner war auf diese Entwicklung vorbereitet«, sagte Tracker leise. »Sie brauchen dich.«

Bree blickte in die erwartungsvollen Gesichter der Jugendlichen. »Na schön«, sagte sie schließlich. »Fürs Erste bin ich eure Anführerin. Lasst mich nachdenken …« Ihre großen Augen verrieten ihre Unsicherheit, und sie konzentrierte sich eine Weile, ohne ein Wort zu sagen.

PJ konnte sich gar nicht vorstellen, wie man in Ruhe überlegen sollte, wenn einen alle anstarrten, aber schließlich nickte Bree und erklärte: »Okay, eine kleine Gruppe von uns muss die Feuerwerkskörper zurückholen, bevor Brains sie untersuchen kann.«

PJ neigte den Kopf leicht zur Seite. »Brains?«, fragte er.

»Der klügste aller Gnome«, erklärte Tracker. »General Eww-yuks Chefdenker.«

»Eww-was?«

»Das bedeutet, wir müssen uns irgendwie nach Argh durchschlagen«, fuhr Bree fort.

In der Gruppe brach nervöses Gemurmel aus.

»Ich selbst werde dorthin gehen«, sagte Bree. »Der Tod meines Bruders soll nicht umsonst gewesen sein.«

»Das Bleichgesicht war ihr Bruder?«, fragte PJ Tracker.

»Whitey«, sagte der Veteran emotionslos.

PJ fuhr zusammen. »Oh, Mann. Das wusste ich nicht.«

»Ich begleite dich, Bree«, verkündete Tracker. »Ich kenne als Einziger den Weg nach Argh.«

Bree deutete auf einen der jungen Wächter, der PJ fortwährend anstarrte. »Toady, dich möchte ich auch dabeihaben. Wir könnten einen schnellen Nachrichtenkurier brauchen, falls etwas … schiefgeht. Der Rest von euch folgt Braun.«

Ein groß gewachsener Junge mit der Statur eines Footballspielers und einem leicht einfältigen Gesichtsausdruck erhob sich. Ungeduldig bedeutete Bree ihm, sitzen zu bleiben, während sie fortfuhr. »Falls wir nicht bald zurückkehren, versucht ihr die Mauer ohne uns zurückzuerobern. Wir müssen unbedingt verhindern, dass die Gnome den Tunnel zur Oberfläche entdecken. Wir sind eine Verpflichtung eingegangen und müssen ihr unter allen Umständen Folge leisten, auch wenn unsere Chancen schlecht stehen.«

»Ohne mich«, sagte PJ. »Ich werde nicht zur Mauer zurückkehren und mich mit einer Gnom-Übermacht herumschlagen. Das ist doch Wahnsinn. Ich will nur Sam finden und mit ihm schnurstracks verschwinden.«

»Der Weg zum Ausgang führt aber über die Mauer«, schnaubte Bree.

Sie wandte sich ab, war anscheinend wütend auf ihn. PJ fragte sich, wie sie wohl als normales Mädchen auf der Highschool gewesen wäre. Wahrscheinlich eine zickige Streberin, dachte er. Das genaue Gegenteil von mir.

»Dein Bruder und die Feuerwerkskörper dürften in Argh sein, also dort, wo wir hingehen«, sagte Tracker zu PJ.

PJ nickte. »Dann ist die Sache doch klar. Ich begleite euch nach Argh, und die anderen versuchen die Mauer zurückzuerobern.«

Bree runzelte die Stirn, aber Tracker nickte. Sie wandte sich um und gab dem Rest der Gruppe ein Zeichen. Die jungen Wächter standen auf, und jeder schulterte ein Bündel. Zwei von ihnen schlugen mit kleinen Metallpickeln gegen die scheinbar massive Felswand und legten ein Rinnsal kristallklaren Wassers frei. Die anderen gingen nacheinander daran vorbei und füllten ihre Lederschläuche, während ein etwa dreizehnjähriges Mädchen sich daranmachte, die Fußspuren zu verwischen, damit man nicht erkennen konnte, wie viele Wächter noch übrig waren. All diese Aufgaben verrichteten die Jungkrieger so schnell, dass klar war, dass sie diese Dinge schon unzählige Male getan hatten.

Als sie fertig waren, bildeten sie mehrere Dreiergruppen und verschwanden rasch und lautlos in den Katakomben. Zurück blieben PJ, Bree, Tracker und Toady.

»Ich kann nicht glauben, dass du uns freiwillig nach Argh begleitest«, sagte Toady an PJ gewandt. »Wow.«

»Los geht’s, Toady«, sagte Bree und deutete mit dem Daumen. Toady schulterte sein Bündel und marschierte in den Tunnel, in den Bree gezeigt hatte.

»Hey, was genau ist eigentlich dieses Argh?«, rief PJ ihnen hinterher. Aber Bree, Toady und Tracker waren schon um eine Biegung verschwunden. Stöhnend erhob sich PJ und folgte ihnen.

Garstige Gnome
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