32
Im Wanzentunnel
Bree, Toady und Tracker erreichten einen dunklen Tunnel und spähten hinein. Er war rund und in der Mitte etwa anderthalb Meter breit, aber am Boden viel schmaler. Die fluoreszierenden Flechten, die die Wände der größeren Höhlen bedeckten, gab es hier nicht. Die Oberfläche am Tunneleingang war spiegelglatt, wie sauber abgenagt.
»Das ist also der Wanzentunnel, ja?«, sagte PJ und blickte Tracker über die Schulter, um auch etwas zu sehen. Seine Stimme schallte in die Schwärze hinein. »Mann, ist das dunkel da drin.«
»Die Wanzen ernähren sich von Flechten«, sagte Toady, »deshalb ist es hier so finster.«
»Puh, das ist ja noch unheimlicher als die anderen Tunnel, die ich bisher gesehen habe«, sagte PJ.
Bree bedeutete ihm, still zu sein. Sie zog die Taschenlampe unter seinem Gürtel hervor und leuchtete damit über die Wände. Auf der glatten Oberfläche gab es in regelmäßigen Abständen Löcher, die ebenso perfekt gerundet waren wie der Tunnel selbst.
»Wanzenbaue«, sagte Tracker.
PJ deutete auf ein großes, ein Meter breites Loch. »Da drin wohnen sie?«
Tracker nickte. »Ich weiß, sie sehen klein aus, aber es ist ganz erstaunlich, wie sich die Wanzen in sie hineinpressen.«
PJ schluckte. Bree schwenkte den Lichtkegel über Hunderte von kleinen und großen Löchern in der Tunnelwand, die wie ein gigantischer Bienenstock anmutete. Aus den meisten Löchern ragten schleimige, teilweise tennisschlägergroße Fühlerpaare heraus. Sie schwenkten träge hin und her, prüften die Luft auf Feinde oder Beute.
»Da sollen wir wirklich reingehen, Leute?«, fragte PJ beklommen.
»Natürlich. Ich gehe als Erste«, erwiderte Bree.
»Nein«, sagte Tracker. »Ich habe den Tunnel schon in beide Richtungen durchquert. Ihr folgt mir und tretet genau dorthin, wo ich hintrete.«
Er ging in den Tunnel, und Toady folgte ihm. Bree stupste PJ an. »Du als Nächster.«
»Warum ich?«, fragte PJ.
»Weil ich die Nachhut bilde«, sagte Bree.
PJ trat in den Tunnel, blieb aber sofort stehen. Bree piekste ihm mit dem Dolch in den Hintern. Er zuckte zusammen und hüpfte voran.
Die vier schlichen im Gänsemarsch durch den Tunnel, traten immer genau dorthin, wo der Vordermann hingetreten war. Sie zwängten sich an tastenden Fühlern vorbei, bückten sich unter seltsamen, klebrigen Netzen hindurch, die von der Decke herabhingen, und hielten sich von den größeren Löchern so gut es ging fern.
Dann blieb Tracker stehen. Er deutete auf zwei extrem große Wanzenbaue auf beiden Seiten des Tunnels. Aus jedem Bau ragten zwei riesige Fühler und tasteten durch die Luft wie lebende Stolperdrähte. »Packwanzen«, flüsterte Tracker. Er stand reglos da und schätzte ihre Chancen ab, beobachtete, wie die Fühler hin und her schwebten.
Es gab kaum Platz, um sich an ihnen vorbeizuschieben, aber die Bewegungen folgten einem bestimmten Rhythmus. Tracker betrachtete sie, versuchte den Rhythmus zu verinnerlichen. Er sah zu, sah zu und … sah zu.
Unterdessen wurde PJ unruhig. Er entdeckte einen kleinen Bau neben sich und leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein. Eine pudelgroße Wanze starrte zu ihm heraus. Sie lag völlig reglos da, so dass PJ sich vorbeugte, um nachzusehen, ob sie tot war. Plötzlich ließ sie ihre Scheren zuschnappen und kam herangeschossen.
PJ zuckte zurück, aber die Wanze hatte nur angetäuscht und ihren Bau nicht verlassen. Trotzdem trat PJ sicherheitshalber einen weiteren Schritt zurück und stieß Toady versehentlich gegen zwei der umhertastenden Packwanzenfühler.
Die Wanze schlug blitzschnell zu, kam aus dem Bau herausgeschossen und schlang die gewaltigen Vorderbeine um Toadys Brust. Dem Jungen blieb nur kurz Zeit, die Arme nach PJ auszustrecken, dann riss es ihn von den Füßen, und die Wanze zog ihn mit dem Kopf voran in ihren Bau.
»Nein!«, brüllte Tracker, bevor er Toady mit gezücktem Dolch hinterherhechtete. PJ sprang aus dem Weg und stieß gegen das andere Fühlerpaar.
Die zweite Packwanze schlug von der gegenüberliegenden Seite zu. Aber Brees Schwert war schneller. Zonk! Der Kopf des Insekts plumpste zu Boden, gerade als PJ spürte, wie das Bein der Wanze ihm über die Brust strich und zupacken wollte.
Von dem Tumult angezogen, kamen weitere Wanzen aus ihren Bauen herausgeschossen. Sie krochen auf die Gruppe zu, während Bree und PJ ihr Augenmerk wieder auf den Bau richteten, in dem Toady und Tracker verschwunden waren. Aus dem Innern drangen Kampfgeräusche. Zonk-schlitter … zonk! Bree stieß den Arm in den Bau und fischte darin herum. PJ war sich fast sicher, dass sie die Hand verlieren würde.
Plötzlich zog sie den Arm mit einem kräftigen Ruck zurück, und Tracker kam, mit Toady im Rettungsschwimmergriff, wieder herausgepurzelt. Die beiden waren von Kopf bis Fuß mit grünem Wanzenschleim überzogen.
»Tut … mir leid«, stammelte PJ. »Ab sofort rühre ich mich nicht mehr von der Stelle. Ich –«
Tracker sprang auf die Füße, packte PJ am Kragen und stieß ihn den Tunnel entlang. »Lauf einfach!«
Sie rannten davon, während immer neue Wanzen in den Tunnel hineinsprangen und ihnen den Weg versperrten. Die vier kämpften sich durch das Gewusel, bis sie von oben bis unten mit Insekten bedeckt waren. PJ spürte sie im Haar und wie sie ihm unters T-Shirt und in die Hosenbeine krabbelten. Ihm blieb keine Zeit, die Kleineren zu erschlagen, weil er zu sehr damit beschäftigt war, die Größeren zu verjagen, deren Scheren besonders scharf waren.
»Dort!«, rief Tracker.
PJ sah ein schwaches Licht am Ende des Tunnels. Er senkte den Kopf und pflügte durch die herumwuselnden Wanzen, dass es unter seinen Schuhsohlen nur so knirschte.
Plötzlich verdunkelte ein Schatten die Tunnelöffnung. Ein riesiges Insekt von der Größe eines Autos ragte vor dem Ausgang auf. Bree, Tracker und Toady verlangsamten das Tempo, zögerten, PJ hingegen stürmte ungerührt weiter.
»Nein!«, brüllte Tracker.
»Warte!«, rief Bree.
PJ hörte nicht auf sie. Er stürmte direkt neben der monströsen Riesenwanze aus dem Tunnel. Das Wesen schnappte nach ihm, und PJ hechtete nach links und rollte sich an einem Felsbrocken zusammen; die Wanze versuchte sich auf ihn zu stürzen, erreichte ihn aber nicht. PJ lag außerhalb ihrer Reichweite.
Verdutzt blickte er zum Tunnelausgang hinüber, dann musste er grinsen. »Kommt raus!«, rief er. »Sie ist gefesselt!« Tatsächlich war das monströse Insekt an einem Pfahl angeleint und kam nicht an PJ heran. Tracker, Bree und Toady stürmten aus dem Tunnel, von Kopf bis Fuß mit Ungeziefer bedeckt. »Werft euch hin und rollt euch über den Boden!«, rief Tracker. Sie taten wie geheißen und wälzten sich wie verrückt im Staub, zerquetschten und zermaltmen Hunderte von Wanzen, dann erhoben sie sich schließlich und schlugen die letzten Exemplare fort, die noch an ihnen klebten. Sie waren völlig verschmiert mit glibbrigen Wanzeninnereien.
PJ betrachtete die drei. »Ihr seht grauenvoll aus«, lachte er.
Tracker wandte sich um und musterte die Riesenwanze und den Pfahl, an dem sie festhing. »Das ist ein Falle«, sagte er. »Noch ein Kniff, den sie von uns gelernt haben. Sie stellen sie auf, um die Wanzen als Lebendfutter zu fangen.«
Bree wischte sich Wanzenschleim aus dem Gesicht und spuckte eine Motte aus.
PJ fuchtelte mit den Armen. »Hey, macht es euch gar nicht nervös, dass wir hier so dicht beim Tunnel rumstehen?«
Die Riesenwanze sprang vor, doch der Strick hielt. PJ taumelte zurück.
Tracker reagierte nicht. »Entspann dich. Die Wanzen kommen nur heraus, wenn sie einem Anführer folgen, und der sitzt in der Falle fest. Ohne ihn bleiben sie im Tunnel.«
Toady sah PJ an. »Du bist mitten darauf zugestürmt«, sagte er. »Du bist wirklich ein tapferer Krieger.«
»Ach was«, erwiderte PJ. »Mir ist da drin eine Dummheit passiert, und die wollte ich wiedergutmachen, das ist alles.«
»Er hat recht, Toady«, sagte Bree. »Lass dich nicht beeindrucken, nur weil er uns aus dem Schlamassel geholt hat, das er uns zuvor eingebrockt hatte.« Sie trat zu PJ heran. »Das war das letzte Mal, dass ich dich unsere Mission gefährden lasse.«
»Wirklich?«, sagte PJ. »Was willst du denn tun, mich aus der Mannschaft werfen?«
Tracker legte den beiden eine Hand auf die Schulter. »Ruhig Blut, ihr zwei«, sagte er und deutete quer durch die Höhle. »Dort hinten ist es … Argh.«