34
Die Gnom-Stadt
Verborgen zwischen den Felsen jenseits des Wanzentunnels blickten PJ, Tracker, Bree und Toady auf eine riesige Höhle hinab, in deren Mitte sich ein gigantischer Haufen bizarr geformter Felsbrocken auftürmte.
Anfangs hielt PJ den Haufen nur für eine weitere ungewöhnliche Felsformation, aber während er genauer hinsah, zeichneten sich die Umrisse einer gewaltigen Festung ab, und nachdem er sie einmal erkannt hatte, konnte er gar nicht begreifen, warum er sie anfangs nicht gesehen hatte.
Die Gnom-Stadt Argh bestand aus riesigen Felsgebilden und steinernen Anbauten, die sich düster in alle Richtungen ausbreiteten. Unfertige Türme erhoben sich, ohne eine nennenswerte Höhe zu erreichen. Brücken überspannten nur gähnende Leere und endeten im Nichts. Und in den Gebäuden selbst klafften seltsame Löcher, die keinem anderen Zweck zu dienen schienen, als den Betrachter zu verwirren. Es gab kein Stadttor. Genau genommen führte der Pfad, der sich durch die Höhle zur Stadt schlängelte, zu einer nackten Mauer ohne erkennbaren Eingang.
»Allmächtiger! Ist das hässlich!«, seufzte PJ. »Das sieht ja aus, als hätte Doktor Seuss’ Architekt sich erbrochen.«
»Doktor wer?«, fragte Toady.
Mürrisch runzelte Tracker die Stirn. »Das ist Argh, der Schandfleck auf Untererdes Schönheit, die finstere Stadtfestung im eisernen Griff des nächsten Thronfolgers der Gnome, General Eww-yuk.«
»Puh«, machte PJ.
Bree deutete auf die Gnom-Stadt. »Wir steigen an der niedrigsten Stelle über die Mauer. Toady, du bleibst hier.« Sie gab Tracker und PJ ein Zeichen. »Folgt mir.«
»Hey, Moment, ich werde über keine Mauer steigen«, sagte PJ.
Bree starrte ihn entgeistert an.
»Ich steige nicht über die Mauer«, wiederholte er.
Bree warf die Hände in die Luft. »Mit dir ist wirklich gar nichts anzufangen!«
»Hör mal, ihr seid die Wächter«, sagte er. »Ich bin bloß ein ahnungsloser Oberweltler.«
Bree sah so wütend aus, dass PJ schon glaubte, sie würde ihn ohrfeigen. Tracker legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Lass gut sein, Brianna«, sagte er. »Unsere Leitprinzipien lauten Pflichterfüllung, Sicherheit und Verantwortungsbewusstsein, aber es sind nicht zwangsläufig auch die seinen.« Er wandte sich PJ zu. »Junge, wahrscheinlich werden wir heute sterben. Du kannst mitkommen oder es bleiben lassen.«
»Bei dir klingt es wirklich verlockend«, sagte PJ.
»Wir können dich nicht zwingen, uns zu begleiten«, fuhr Tracker fort. »So wie bei allen Entscheidungen im Leben hat man immer die Wahl, und diese Entscheidung kannst nur du allein treffen.«
Sie warteten auf PJs Antwort. Er blickte von Bree zu Tracker. Er studierte die Narben aus unzähligen Schlachten an den Händen des Veteranen, sein faltengefurchtes Gesicht und seinen entschlossenen Blick, in dem keinerlei Angst lag.
Auch Bree hatte schon einige Narben. Falten hatte sie noch keine, aber die würden kommen, nachdem sie nun die Anführerin war. In ihrem Blick lag die gleiche Entschlossenheit wie bei Tracker. Die beiden Wächter hatten ein Ziel, etwas, das PJ nicht besaß und wonach er auch gar nicht suchte. Was sollte es ihm denn bringen, geradewegs in die Gnom-Festung einzufallen? Nichts, dachte PJ.
Schließlich schüttelte er den Kopf. Toady musterte PJ. »Du wirst die beiden nicht begleiten?«
»Äh, nein«, murmelte PJ. »Werde ich nicht.«
Toady wirkte enttäuscht. PJ sah Tracker an. »Was ist mit Sam?«
»Was soll mit ihm sein?«, fragte Bree.
»Ich mache mir Sorgen um ihn. Ihr habt gesagt, die Gnome würden ihre Gefangenen häuten, zerstückeln und kochen. Ist nicht schön, mir vorzustellen, dass Sam …« Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. »Ihr sucht ihn für mich, stimmt’s?«
»Falls wir deinem Bruder über den Weg laufen, schicke ich ihn mit Bree zurück«, sagte Tracker. »Ich selbst werde wahrscheinlich nicht zurückkehren.«
»Was faselst du da?«, erwiderte PJ. »Du marschierst rein, findest Sam und die Feuerwerkskörper, trittst ein paar Gnomen in den Hintern und marschierst wieder raus. Für einen erfahrenen Krieger wie dich sollte das doch kein Problem sein, oder?«
Tracker grinste. »Du bist ganz schön frech, das gefällt mir. Lass dir das von niemandem nehmen, versprich mir das, ja? Lebwohl, PJ. Lebwohl, Toady.« Tracker nickte den beiden zu, dann begann er die Felsen hinabzuklettern.
Bree zückte ihr Schwert. »Mein erstes Anliegen ist, die Feuerwerkskörper zurückzuholen. Falls ich deinem Bruder begegne, nehme ich ihn mit. Aber wenn dir wirklich an ihm läge, würdest du mitkommen und ihn selbst befreien.« Dann stieg auch sie über die Felsen hinunter nach Argh.
PJ und Toady blickten Tracker und Bree nach und beobachteten, wie die beiden zwischen den Felsen auf die Stadtmauer zuschlichen.
»Oh, Mann«, murmelte PJ in sich hinein, »sie werden gar nicht richtig nach Sam suchen.«
»Ein einzelnes Leben kann nicht wichtiger sein als unsere Mission«, sagte Toady.
»Dann ist die Mission eben großer Mist«, schimpfte PJ.
»Unsere Aufgabe besteht darin zu verhindern, dass Gnomen gefährliche Technologien in die Hände fallen und sie damit an die Oberfläche gelangen und einen Krieg gegen die Menschen anzetteln. Was ist deine Aufgabe?«
»Ich soll auf Sam aufpassen«, sagte PJ.