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Sam

Dreißig Meter oberhalb der Festungsmauer, auf der Erdoberfläche, bummelte Sam Hill vor der Stop-n-Sip-Tankstelle herum und überlegte, was wohl das denkbar Aufregendste wäre, was im Juni in seiner Heimatstadt Sumas, Washington, geschehen könnte. Ein weißer Lastwagen, an dessen Seite in flammendem Orange und Rot der Schriftzug DRAGON’S BREATH FIREWORKS prangte, stoppte vor der Zapfsäule.

Sam schlich dem Fahrer nach, der hineinging, um das Benzin zu bezahlen. Der Mann wählte eine Mini-Salami aus dem allmählich vergammelnden Sortiment im Plastikbehälter auf dem Kassentresen aus und nahm sich eine ZOWIE!-Limonade. Er kam mit dem zusammengeschweißten Metall-Lachs heraus, an dem der Toilettenschlüssel der Tankstelle hing. Er marschierte zur Rückseite des Gebäudes und ließ seinen Laster unbewacht und unverschlossen zurück.

Mit seinen zwölf Jahren war Sam eigentlich alt genug, um bleiben zu lassen, was er im Begriff war zu tun, aber der Laster transportierte keine gewöhnlichen Wunderkerzen und Rauchbomben. Dragon’s Breath stellte die Feuerwerkskörper für die städtischen Feiern am vierten Juli her, dem Unabhängigkeitstag. Vor einigen Jahren, als seine Mutter noch bei ihnen war, war Sam mit seinen Eltern nach Bellingham gefahren, um sich dort eine solche Feier anzuschauen. Das riesige Feuerwerk hatte den Abendhimmel in ein schillerndes Farbenmeer verwandelt. Fasziniert hatte er zugesehen, wie winzige Lichtpunkte in die Dunkelheit hinaufstoben und dort mit ohrenbetäubenden Explosionen zu gigantischen Feuerblumen und brennendem Regen zerbarsten, der vom Firmament herabrieselte. So was gibt’s in Sumas nie, dachte Sam.

Soweit es ihn betraf, war das Leben in Sumas das Langweiligste, was man sich überhaupt vorstellen konnte. Das Städtchen schmiegte sich an die dicht bewaldeten Ausläufer des Cascade-Gebirgszuges. An der Hauptstraße gab es nur ein paar Tante-Emma-Läden, die Stop-n-Sip-Tankstelle und ein altes Handelshaus. Selbst für einen Wal-Mart oder McDonald’s war der Ort zu klein. Hier gibt’s nichts, was halbwegs spannend ist, dachte er verdrossen.

Da im Moment Schulferien waren, konnte Sam tun, was er wollte, bis sein Vater aus der Bar nach Hause gewankt kam. Aber tagsüber fernzusehen langweilte ihn, vor der Tankstelle abzuhängen wurde auch schnell öde, und den Wald hatte er schon so oft erkundet, dass er die Pfade rings um Sumas praktisch mit geschlossenen Augen abschreiten konnte. Zum Autofahren war er noch zu jung, deshalb konnte er nicht einmal ins Kino nach Bellingham rüberdüsen, außer natürlich, wenn er sich ein Auto »ausborgte«. Manchmal fuhr er heimlich den alten Pick-up seines Dads, aber er war nicht groß genug, um vollständig über das Armaturenbrett schauen zu können, deshalb fuhr er nie sehr weit.

Als Kind musste man sich in Sumas seinen Spaß schon selbst ausdenken, dachte Sam, so wie das eine Mal, als er hinter der Kirche mit dem Gartenschlauch einen imaginären Ozean angelegt hatte – allerdings ein bisschen zu nah am Kirchenkeller, und der Pastor hatte entdecken müssen, dass im Untergeschoss seine Sofas im Wasser trieben. Ein anderes Mal hatte er sich vorgestellt, die durchfahrenden Achtzehn-Achsen-Lastzüge wären feindliche Panzer, die er mit frisch gepflückten Mörsergranaten aus Mr. Richeys Tomatengarten bombardierte. Auch dafür hatte er Ärger bekommen.

Sam beäugte die knallbunte Malerei explodierender Feuerwerkskörper an der unverschlossenen Lastwagentür. Im Wald ein paar Raketen zu zünden wäre ein Abenteuer, überlegte er. Er blickte zur Toilettentür. Sie war noch zu.

Sam stürmte hinüber und schob rasch einen Stein unter die Tür, so dass sie blockiert war. Er eilte wieder zur Vorderseite der Tankstelle und vergewisserte sich, dass der Kassierer ihn nicht sah, dann rannte er über den Parkplatz, kletterte ins Führerhaus des Lastwagens und schlüpfte nach hinten auf die Ladefläche. Er schlug die Plane zurück, die die Fracht bedeckte, und ihm stockte der Atem. Auf der Ladefläche des Lasters standen Hunderte von Kisten, die randvoll mit Feuerwerkskörpern waren. Niemand wird merken, wenn ein paar davon fehlen, dachte Sam. Wie soll ich dafür Ärger bekommen?

Garstige Gnome
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