60

Offenbarung

Der Grenzsensor reichte drei Meter in den Waldboden hinein und war so eingestellt, dass er auch Bewegungen unter der Erdoberfläche meldete. Als PJ und Sam die Falltür hochklappten, war schon Minuten zuvor der Alarm ausgelöst worden.

Die beiden Jungen stiegen aus dem Tunnel. Das Mondlicht schien genauso hell zu sein wie das der Sonne – es war zu hell für Cheeps große Augen. Das Rieseninsekt blickte Sam einen Moment lang nach, bevor es widerwillig ins Halbdunkel des Tunnels zurückschlich; irgendwie schien es zu wissen, dass es nicht an die Oberfläche gehörte.

Die Luft hier oben roch frisch und gesund, und die Jungen saugten sie begierig in ihre Lungen, während sie zerschunden und abgekämpft am Bewegungsmelder vorbeihumpelten.

Auf dem Pfad gleich hinter den Bäumen kam ein Auto herangefahren und hielt knirschend an. Seine roten und blauen Lichter blitzten durch das Unterholz.

»Mist«, sagte PJ. »Jetzt beginnt der richtige Ärger.«

Sam sah, wie PJ sich anspannte. Es war traurig. PJ war ein guter Kerl, und sein Vater war auch ein guter Kerl, aber sie waren so verschieden wie Tag und Nacht. Sie brauchen irgendetwas, was sie wieder zueinanderführt, dachte Sam. »PJ«, sagte er, »dein Dad ist echt in Ordnung. Er war immer nett zu mir.«

»Vielleicht solltest du sein Sohn sein.«

»Vielleicht solltest du aufhören, dir ständig irgendwelche dummen Sprüche auszudenken, wenn er mit dir redet, und einfach zuhören, was er dir zu sagen hat.«

Es folgte ein Moment des Schweigens, und Sam war überrascht, dass der ältere Junge ihm nicht widersprach oder einen blöden Witz machte.

»Ich weiß jetzt schon, was er sagen wird.« PJ verzog das Gesicht. »Ich weiß nur nicht, was ich ihm antworten soll. Ich hab alles vermasselt … wie immer.«

»Wie wär’s mit der Wahrheit?«, schlug Sam vor. »Sag ihm, dass wir schwer damit beschäftigt waren, die Welt zu retten.«

»Klar. Und wie stehen die Chancen, dass mein Vater uns glaubt?«

Die Jungen marschierten aus dem Schutz der Bäume heraus und traten ins Scheinwerferlicht des Streifenwagens.

»Percy!«, rief eine Stimme hinter dem blendenden Lichtwall.

Sam sah, wie PJ zusammenzuckte und sich für die bevorstehende Standpauke wappnete. Aber es folgte keine Standpauke. Stattdessen stürmte Officer Myrmidon in den Lichtkegel und warf PJ die Arme um den Hals. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht, Junge!«, rief er aus.

PJ blickte verdutzt um sich; er bekam kaum Luft unter der heftigen Umarmung seines Vaters. »Hi, Dad.«

Der groß gewachsene Polizist ließ ihn los. »Und dir geht’s auch gut, Sam! Gott sei Dank.«

Sam winkte lässig ab. Er war froh, zurück zu sein, aber völlig geschafft. Ihm fehlte die Kraft für langwierige Erklärungen.

»Hallo«, sagte er nur.

PJs Vater legte seinem Sohn die Hände auf die Schultern. »Als ich zurückkam, wart ihr beide verschwunden. Ich wusste nicht, wohin ihr gegangen wart, aber dann sprang der Bewegungsmelder an, und ich befürchtete schon das Schlimmste … Ich habe schnell meine Ausrüstung in den Wagen geworfen und bin hergekommen.«

Nach den Stunden in den düsteren Höhlen schmerzten Sams Augen im hellen Scheinwerferlicht, deshalb trat er aus dem Lichtkegel heraus und stellte sich neben das Auto. Die Kofferraumhaube war hochgeklappt. Anscheinend hatte Officer Myrmidon etwas herausholen wollen, als sie plötzlich aus dem Wald gekommen waren und ihn unterbrochen hatten.

Einen Moment lang begriff Sam nicht, was er sah. Er griff in den Kofferraum und zog ein langes Schwert heraus. Es war uralt und abgewetzt und zerkratzt, aber blitzblank poliert, als würde jemand dafür sorgen, dass es jederzeit einsatzbereit war. Und das Schwert war nicht der einzige Gegenstand im Kofferraum. Sam griff erneut hinein.

PJ und sein Vater standen sich gegenüber. »Dad, ich muss gestehen … ich habe keine gute Erklärung für das alles.«

»Ich glaube nicht, dass du ihm etwas zu erklären brauchst«, sagte Sam und trat zwischen die beiden. »Aber vielleicht möchte dein Vater ja dir etwas erklären.« Mit einer Hand hob er das Schwert, mit der anderen die Weste einer Lederrüstung.

Officer Myrmidon erstarrte, dann holte er tief Luft. Er beugte sich vor und nahm Sam das Schwert behutsam aus der Hand.

PJ beobachtete ungläubig, wie die Waffe die Hände wechselte. Sein Vater hantierte damit ganz selbstverständlich herum, wie ein Experte, als wäre er mit dem Schwert in der Hand geboren worden.

»Ich glaube, ich weiß, warum Sie niemals aus Sumas fortgegangen sind, Officer Myrmidon.«

»Ja«, sagte der Polizist und starrte auf die Waffe, als würde allein ihre Gegenwart ihn dazu bringen, sich seinem Sohn zu offenbaren. »Ich bin vor meinen Pflichten davongerannt, als ich etwa in deinem Alter war, Percival, und hier heraufgekommen. Ich hatte einen Schwur geleistet und hätte wieder hinuntergehen müssen. Aber ich habe deine Mutter kennen gelernt, und wir haben dich bekommen, und ich konnte nicht mehr zurückkehren. Ich habe euch beide zu sehr geliebt.«

Überrascht sah Sam, wie die Augen des großen Mannes feucht wurden.

»Was soll das heißen?«, fragte PJ, dessen Blick zwischen dem Schwert und dem Gesicht seines Vaters hin und her sprang. Er wirkte verwirrt und besorgt, aber auch neugierig.

»Ich musste einen Weg finden, wie ich oben bleiben und gleichzeitig meine Pflicht erfüllen konnte. Ich konnte nicht einfach fortgehen und mit euch nach Kalifornien ziehen. Ich hatte geschworen, diesen Ort zu bewachen. Pflichterfüllung, Sicherheit, Verantwortungsbewusstsein. Es ist schwer zu erklären.«

»Ist es nicht«, sagte Sam. »PJ begreift mehr, als Sie glauben. Zeigen Sie es ihm …«

Officer Myrmidon musterte Sam, der sich irgendwie älter fühlte, als wäre er zehn Jahre reifer geworden, seit er vor kaum einem halben Tag mal wieder im Gefängnis gelandet war. PJs Vater nickte Sam zu und hob das Schwert.

Der Mondschein fiel auf die Klinge, so dass PJ die Inschrift unter dem Knauf lesen konnte, und Sam beobachtete, wie in diesem Moment PJ seinen Vater plötzlich verstand. Denn der Name, der in das Schwert seines Dads eingraviert war, lautete … Hunter.

Garstige Gnome
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